BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Mann

1871 - 1950

 

Lidice

 

1943

 

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97

 

Über ihnen auf der Felswand erscheint Milo Schatzova, begleitet von ihrem Kameraden Wokurka und Doktor Holar. Sie sehen in eine andere Richtung, scheinbar haben sie ihre Freunde hier unten noch nicht bemerkt, sprechen aber laut vernehmlich.

Milo Schatzova: „Das heißt ein friedliches Tal. So friedlich haben sie es sogar bei uns zu Hause.“

Wokurka: „Friedlicher, viel friedlicher. Erst dreihundertsechsund­zwanzig erschossen oder aufgehängt.“

Doktor Holar: „Wegen des einen Getöteten.“

Wokurka: „Aber der zählt für tausend.“

Doktor Holar: „Fehlen noch reichlich sechshundert, um ihn zu bezahlen.“

Wokurka: „Werden nicht lange fehlen, kommen alle dran.“

Milo Schatzova: „Weil sie dem Mörder geholfen haben, eine Unmenge Leute, bei jedem hat er genächtigt, macht drei Jahre, daß er täglich woanders unterkroch.“

Doktor Holar: „Das wunderbarste, den Mörder kennt niemand.“

Wokurka: „Nur die Deutschen, von ihnen hab ich die höchste Meinung.“

Miro Schatzova: „Keine Ursache. Ihr Heydrich ist tot, ihr Führer hat zwei Tage in Prostration gelegen.“

Wokurka: „In was? Du meinst eine Isolierzelle.“

Doktor Holar: „Erschlafft war er, es ist der Zustand von überanstrengten Genies –.“

Wokurka: „Die plötzlich merken, daß sie ein Scherben sind.“

Milo Schatzova: „Doktor, ihm müssen Sie nichts erklären, er stellt sich gern dumm.“

Wokurka: „Wer verstellt sich? Ich hab nie was gelernt. Wollt ich euch zum Beispiel hier aus der englischen Zeitung vorlesen –.“

Milo Schatzova, nimmt ihm die Zeitung ab: „Versuch's nur, italienisch hört ich dich auch schon reden.“

Doktor Holar: „Sie haben eine englische Zeitung?“

Wokurka: „Von einem Maultiertreiber bekommen. Das Maultier ist, hör ich, die ganze Strecke von England gelaufen. Könnt aber auch sein, daß englische Flieger hierzuland Zeitungen abwerfen.“

Doktor Holar: „Was steht darin?“

Wokurka: „Bis jetzt übersetz ich mir nur ein einziges Wort, auf englisch schreiben sie es Lidice.“

Pavel, springt über Blöcke, auf halber Höhe ruft er: „Her damit! Wenn noch so schrecklich, ich muß lesen.“

Wokurka: „Sie werden sehr gelobt, Pavel, oder daß ich's genau sage, alle Tschechen bekommen ein gutes Zeugnis, weil sie den Protektor umgebracht haben. Das soll mehr sein als manche gewonnene Schlacht.“

Pavel: „Falsch. Die Tschechen waren es gar nicht.“

Milo Schatzova, steigt abwärts zu ihm: „Das behauptest du. Aber beim Ende warst du nicht dabei.“

Pavel: „Ich hätte es aufgehalten, mitsamt den Folgen!“

Milo Schatzova: „Ich nicht. Ich kann hassen.“

Pavel muß sie hinab auf seinen vorigen Platz begleiten. Sie gibt ihm die Zeitung und bleibt bei ihm.

Wokurka und Doktor Holar folgen, sie unterreden sich leise mit Jaroslav und Lyda.

Pavel liest, er zittert vor Erwartung. Er möchte sprechen, die Stimme versagt ihm mehrmals: „Eine Verschwörung, das ist veraltet. Man weiß von mir nichts.“

Milo Schatzova: „Sei froh! Man weiß nie alles, am besten, wir bleiben unbekannt.“

Pavel: „Aber jeder einzelne kennt uns doch, ganz Prag, zu schweigen von Lidice.“ Er schreit auf.

Milo Schatzova: „Hast du den Namen gefunden?“

Pavel, läßt die Zeitung fallen, er bricht auf den Steinen zusammen. Sein Gesicht ist im Begriff, die Maske Heydrichs anzunehmen, die Augen öffnen sich einem Anblick des Grauens, starr und trocken.

Wokurka, bei Jaroslav und Lyda, das Gesicht so ernst, wie er seine komischen Sätze bringt: „Da muß etwas ganz Schlimmes dringestanden sein.“

Jaroslav: „Sagen Sie es doch!“

Lyda: „Sie wissen es doch!“

Wokurka: „Werdet ihr mir auch glauben? Lidice ist dem Erdboden gleichgemacht. Die Frauen und die Kinder haben sie – na, was sie ihrem Brauchtum gemäß den Wehrlosen antun, verschleppt, versklavt. Die Männer sind hin.“

Jaroslav: „Erschossen, die Männer von Lidice?“

Lyda: „Alle Männer?“

Wokurka, bestätigt mit einer Miene voll Energie, als hätte er es selbst getan.

Jaroslav, senkt stumm den Kopf, seine Tränen brauchen Zeit, bis sie fließen.

Lyda, schluchzt.

Wokurka, schlägt blindlings um sich. Er würde fallen, macht einen äußersten Versuch abzugehen.

Doktor Holar, hält den Schwankenden: „Sie haben sich nichts vorzuwerfen, aber ich. Die anderen tot, und ich hab sie verlassen, meine Kumpeln, meine Bauern. Oh, der Kaplan. Auch der Kaplan!“

Wokurka, stützt seinerseits den anderen, der schwankt: „Doktor Holar! Sie sind bittschön ein Soldat der jugoslawischen Befreiungs­armee. Da gibt's keinen Kaplan allein. Da brennt mehr als ein Dorf. Wollen Sie Lidice sehen? Schauen Sie hinter sich!“

Doktor Holar: „Der Komiker will stärker sein. Ihnen graust es doch.“

Wokurka: „Gegraust hat mir's im Leben immer, je komischer es war. Wer das nicht kennt, sitzt jetzt da wie der Pavel Ondracek.“