BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Vorwort

 

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Vorwort des Verfassers.

 

Ich habe in diesem Buche eine Reihe von Bildern des vergangenen halben Jahrhunderts aus meinem Gedächtnis hervorgelockt und festgehalten, wie sie sich in der Seele erst des Kindes, dann des Jünglings, endlich des Erwachsenen spiegelten. Meine frühe Kindheit und die ersten Jahre meiner Jugend fallen in die Zeit der sogenannten großen Reformen Alexanders II. Die Mitte meines Lebens habe ich unter der finsteren Reaktion im herrschenden Regierungssystem und in der Gesellschaft, sowie unter den ersten Regungen des revolutionären Kampfes verlebt. Heute sehe ich so manches, wofür meine Generation geschwärmt und gefochten hat, in wirren Formen in die Schranken des Lebens hereinstürmen. Mich dünkt, daß manche Erlebnisse aus der Zeit meiner Irrfahrten in der Verbannung, daß Ereignisse, Charaktere, Gedanken und Empfindungen jener Zeit und jener Umgebung auch heute noch das Interesse der lebendigen Wirklichkeit nicht verloren haben. Ja, ich möchte glauben, daß auch die Zukunft sie nicht ganz wertlos finden dürfte. Unser heutiges Leben wankt und erzittert unter dem heftigen Zusammenprall des Neuen mit dem Abgelebten, und ich hoffe wenigstens einige Keime dieses Widerstreits beleuchten zu können.

Doch zunächst war es mir darum zu tun, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die ersten Regungen des aufkeimenden und wachsenden Bewußtseins einer Menschenseele zu lenken. Ich wußte wohl, daß es mir nicht leicht fallen würde, mich jetzt, mitten im dröhnenden Lärm der Gegenwart, beim ersten dumpfen Grollen des heraufziehenden Gewitters, in jene alten Erinnerungen zu vertiefen, aber ich sehe, daß ich diese Schwierigkeit noch bedeutend unterschätzte.

Ich schreibe hier nicht die Geschichte meiner Zeit, sondern bloß die Geschichte eines Menschenlebens in dieser Zeit, und ich möchte, daß der Leser zuerst das Prisma kennen lerne, in dem die Zeit sich spiegelte. Diese Bekanntschaft ihm zu verschaffen ist nur in einer zusammenhängenden Erzählung möglich. Die Kindheit und die Jugend sollen den Inhalt dieses ersten Teils meiner Geschichte bilden.

Noch eins. Diese Erinnerungen sind keine Selbstbiographie: ich habe mich um die erschöpfende Genauigkeit der biographischen Angaben kaum gekümmert. Sie sind auch keine Beichte: ich glaube nicht an öffentliche Beichten, noch an ihren Nutzen. Sie sind endlich kein Selbstbildnis: ist es doch schwer, wenn man sich selbst schildert, irgend eine Gewähr für die Ähnlichkeit zu bieten. Jedes Spiegelbild unterscheidet sich von der Wirklichkeit schon dadurch, daß es eben ein Spiegelbild ist: wievielmehr ein bewußt unvollständiges Lebensbild. Dieses gibt stets die ausgewählten Einzelbilder, ich möchte sagen, in satteren Farben wieder und ist deshalb mitunter bei aller Echtheit anziehender, bedeutender, meinetwegen reiner als die Wirklichkeit.

Ich strebte in meiner Arbeit nach möglichst getreuer geschichtlicher Wahrheit und habe ihr oft die schönere und leuchtendere künstlerische Wahrheit zum Opfer gebracht. Man wird hier nichts finden, was mir nicht in Wirklichkeit begegnet wäre, was ich nicht erlebt, empfunden, gesehen hätte. Und doch wiederhole ich: es war nicht mein Trachten, ein Bildnis meiner selbst zu geben, hier findet der Leser nur die „Geschichte meines Zeitgenossen“, das Lebensbild eines Menschen, den ich besser gekannt habe, als irgend einen der Lebenden ...