BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Zweiter Band

Neue Strömungen

 

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Der verlorene Beweisgrund.

 

Wir kehrten nach Rowno zurück. In der Schule war der Unterricht längst im Gange, für mich jedoch trat das Schulleben diesmal auf den zweiten Plan; auf dem ersten standen zwei andere wichtige Ereignisse: ich war verliebt und kämpfte um meinen Glauben. Wenn ich mich schlafen legte, füllte ich jetzt die Übergangsstunden vor dem Einschlummern, die ich früher kühnen Phantasieflügen ins Land des Rittertums und der Kosaken zu widmen pflegte, mit Erinnerungen an die geliebten Züge oder ich setzte in Gedanken die Debatten von Harnyj Lug fort, wobei ich neue Argumente zugunsten der Unsterblichkeit der Seele ausfindig zu machen suchte. Josua und die dogmatische Seite der Religion hatten für mich mittlerweile ihre frühere Bedeutung verloren.

Die jugendliche Person, die zum ersten Mal mein Herz bezaubert hatte, pflegte sich jeden Tag mit Schwester und Bruder in einem kleinen Karriol zum Unterricht zu begeben. Ich hatte die Stunde, in der sie vorbeifuhren, sowie das Rattern ihrer Wagenräder auf der Chaussee und das Schellengeläute des Gefährts ausgezeichnet zu unterscheiden gelernt. Jedesmal, wenn sie zurückkehren mußten, ging ich wie zufällig vors Haus oder auf die Brücke hinaus. Gelang es mir, das rosige Gesichtchen mit der kastanienbraunen Locke, die sich unter dem Hütchen hervorstahl, zu erspähen, einen Blick, ein holdes Lächeln zu erhaschen, dann war mein ganzer übriger Tag von freudigem Leuchten verklärt.

Einmal erklang das Schellengeläute zu ungewohnter Zeit. Das Karriol schoß vor unserem Hause so schnell dahin, daß ich nicht Zeit hatte, seine Insassen ins Auge zu fassen, doch sagte mir das wohlbekannte wonnige Schwächegefühl, das ich momentan im Herzen verspürte, mit voller Sicherheit, sie sei es gewesen, die da vorbeigefahren war. Alsbald kehrte das Gefährt leer zurück. Das bedeutete, daß die beiden Schwestern irgendwo zum Abend geblieben waren und gegen zehn Uhr heimkehren würden.

Als neun vorbei war, verließ ich das Haus und ging spazieren. Es war Spätherbst. In den Teichen stand das Wasser dunkel und schwer und wartete gleichsam auf den ersten Frost, um zu erstarren. Die Nacht war hell und frisch, die kühle Luft dünn und klingend. Ich ging vor mich hin, ganz von meinem Gefühl und meinen Gedanken in Anspruch genommen. Das Gefühl flog dem vertrauten kleinen Gefährt entgegen, der Gedanke suchte indes nach Beweisen für die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele.

Die Zeit verstrich, ich wurde allmählich etwas müde. Die letzten Läden wurden geschlossen, der Straßenverkehr verstummte nach und nach. Das Karriol mit dem langbeinigen Kutscher war längst in der Richtung nach der Vorstadt hinausgefahren, kehrte aber noch nicht zurück. Ich wandelte längs des Flüßchens, ohne mich von der Brücke, die es auf der Rückfahrt passieren mußte, weit zu entfernen. Dann blieb ich stehen und blickte auf die dunkle Flut. Irgendwelche weißen Vögel – Gänse oder junge Schwäne – mögen es gewesen sein, schwammen undeutlich schimmernd mit vorsichtig gedämpftem Geschnatter hinunter. Auch meine Gedanken flossen dahin, wie jener dunkle Strom mit den weißen Vögeln darauf. Mir war, als sei ich ganz dicht daran, das Gesuchte zu finden.

Plötzlich drang ein ferner kaum vernehmbarer Ton zu meinem Bewußtsein, als hätte man ganz weit ein silbernes Löffelchen an ein Kristallglas angeschlagen. Ich wußte sofort: das war das bekannte Schellengeläute, und das hieß: sie war schon unterwegs, aber noch in weiter Ferne, das Wägelchen lavierte erst im Netz der engen Gäßchen der Vorstadt. Ich hatte also noch reichlich Zeit, zur Brücke zurückzukehren, auf die andere Seite hinüberzugehen und mich an dem Eckladen in den Schatten zu stellen, vorläufig konnte ich also noch ruhig meine Sache zu Ende denken.

Mein Gedanke begann nun plötzlich, wie unter einem Anstoß, klar und kräftig zu arbeiten. Ich blieb stehen und lauschte auf die innere Arbeit meines Gehirns. Kein Zweifel: ich bin offenbar dicht daran, den „unwiderleglichen“ Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu finden. Die Argumente stiegen vor mir Glied für Glied in geschlossener Kette auf. Noch ein wenig, und der Materialismus (wie ich ihn in unseren Streitigkeiten kennen gelernt hatte) geht in Stücke ...

Ich wurde von der ersten Schaffens- und Entdeckerfreude ergriffen. Ich fühlte: es war nur noch nötig, daß ich irgendwohin abseits ging, etwa dorthin, wo die weißen Vögel fortschwammen, die man an der Biegung des Flusses zwischen den Weiden noch schimmern sah, um meinen Gedanken zu Ende zu denken. Allein meine Beine trugen mich eilig von selbst nach der entgegengesetzten Richtung zur Brücke und zur Chaussee hin. Das Schellengeklingel hatte sich bereits auf die Chaussee ergossen und kam mit unerwarteter Eile immer näher, indem es die dünne Nachtluft mit seinem Geplauder erfüllte ... Komme ich noch zurecht oder nicht?

Ich eilte, mit dem Ohr nach dem Rattern der Räder und mit dem Gedanken gleichzeitig nach dem „letzten Argument“ spähend ... Eine Minute später war ich auf der Brücke, während das Karriol schon auf den Holzplanken donnerte. Die beiden Schwestern blickten sich verwundert nach der einsamen und wahrscheinlich dumm genug aussehenden Gestalt um, die Gott weiß wozu im Mondschein mitten auf der Brücke sich aufgepflanzt hatte. Sie konnten nicht umhin, mich zu erkennen, ich aber kam nicht einmal dazu zu grüßen, da ich gerade in jenem Augenblick in Gedanken fieberhaft die Fetzen meines auseinanderstiebenden Syllogismus zusammensuchte. Die geschlossene Kette der Prämissen und des „beinahe“ fertigen Schlusses erhob sich wie eine Schar aufgescheuchter Vögel in die Luft und flatterte in der durchleuchteten Dämmerung dem kleinen Gefährt nach.

Das Schellengeklingel entfernte sich rasch die Straße entlang und verstummte plötzlich an ihrem Ende. Zwei zierliche Silhouetten huschten wie Schatten ins Haus, und alles war aus. Ich blieb da mit einer Leere vor den Augen, mit Leere im Hirn: der „unwiderlegliche Beweis“ war spurlos zerronnen.

Nun kehrte ich auf meinen früheren Platz zurück, blickte auf das Wasser, suchte die Schwäne mit den Augen, aber auch sie waren, wie meine Gedanken, irgendwo im Schatten verschwunden ... Ich hatte die Empfindung unwiederbringlichen Verlustes und schmerzlicher Reue. Trübe und hoffnungslos sah es in mir aus, ganz wie auf der Straße, auf der an jenem Abend nichts mehr zu erwarten war.

In der Nacht suchte ich noch lange nach dem abhandengekommenen Gedanken, er stellte sich aber nicht wieder ein.

Wahrscheinlich war es in derselben Periode, daß ich auf dem Marktplatz vor der Jungfrau betete. Ich lebte im Glauben, daß ich meinem einstigen Gelübde immer noch treu sei, während es in Wirklichkeit bereits gründlich erschüttert war, wenn auch zumeist nicht durch die Einwände, die man mir direkt in der Polemik entgegenhielt, viel tiefer, wenn auch unmerklich, wirkte auf mich die allgemeine Erweiterung meines geistigen Horizonts, der Schritt für Schritt von neuen Tatsachen, Bildern, Gedankengängen eingenommen wurde. Die Einbildungskraft trat hinzu, umfing all dies Neue und gab meiner Weltanschauung eine neue Färbung. Mein naives Schaudern vor Darwin verflüchtigte sich allmählich, die Entwicklungslehre nahm ebenso unmerklich von meiner Denkweise Besitz.

Zufällig kam mir gerade um jene Zeit der Roman des nunmehr vergessenen Schriftstellers Awdejew „Die Klippe“ in die Hände. Aus irgendeinem Grunde habe ich das Buch nicht zu Ende gelesen und erinnere mich seines Inhaltes nur noch dunkel. Eine Stelle aber ist mir im Gedächtnis haften geblieben.

Die Frau eines vortrefflichen Mannes nimmt lebhaftes Interesse an dessen Freund, einem Atheisten. Sowohl sie wie ihr Gatte sind religiöse Menschen. Ein schlichter Glaube erhellt den beiden ihren Lebensweg, gewährt ihnen Trost und macht sie dem Guten geneigt. Doch auch der Atheist ist ein vortrefflicher, der Selbstaufopferung fähiger Mensch, einer, der den harten Pfad des Lebenskampfes ohne Hoffnung auf Lohn im Jenseits, ohne sich auf eine höhere Macht zu stützen, ohne Trost von jener Seite zu erwarten, nur mit seinem stolzen Selbstvertrauen gewappnet, geht. Die Frau gesteht, daß in ihren Augen auch dieser ihr fremden Weltanschauung eine eigene Schönheit und Größe innewohnt.

Diese Stelle des Romans fiel mir auf. Man kann also, dachte ich mir, auch auf andere Art als Onkel Hauptmann, der des Abends spöttelt, um sich nachts „auf alle Fälle“ zu bekreuzen, Atheist sein. Wie, wenn mein Vater einem solchen Menschen begegnet wäre! Hätte er auch für ihn nur ein überlegenes Lächeln übrig gehabt?

In dieser Stimmung lernte ich Awdjew kennen. Er berührte nie religiöse Fragen, aber ein Jahr geistigen Verkehrs mit ihm schob in meine Begriffswelt eine Menge neuer Bilder und Ideen hinein. Nach dem Helden der „Klippe“ lernte ich den Turgenjewschen Basaroff kennen. In seiner „Verneinung“ erkannte ich schon dieselbe überlegene Aufrichtigkeit und Festigkeit wieder, die der Religion meines Vaters eigen war.

Und wieder bezeichnete ein Meilenstein eine neue Strecke meines inneren Werdens ...