BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Zweiter Band

Neue Strömungen

 

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Benjamin Wassiljewitsch Awdjew.

 

Unser früherer Literaturprofessor Mitrofan Alexandrowitsch Andrijewski hatte sich doch noch verheiratet und „aus Familienrücksichten“ in eine andere Stadt versetzen lassen, wir sahen ihn mit Bedauern ziehen, da wir den Mann mit seiner Gutmütigkeit, seinem sanften verträumten Lächeln und seiner rührenden Anhänglichkeit an die altslawische „Weise vom Igorschen Regiment“ aufrichtig liebgewonnen hatten.

Eine Zeitlang blieb das Katheder für Literaturgeschichte unbesetzt, und in den fälligen Stunden pflegte Stepan Jakowlewitsch Ruschtschewitsch zu erscheinen, der den Einfall hatte, uns bei dieser Gelegenheit „ausdrucksvollen Vortrag“ beibringen zu wollen. Er selbst rezitierte mit ziemlich plumper Grazie, mit massiver Stimme, mit allen vorschriftsmäßigen Betonungen und Pausen, und seine Ansprüche auf „ausdrucksvolle“ Deklamation waren völlig unbegründet. Uns mutete er zu, alle seine Betonungen genau zu kopieren, was uns so gekünstelt und abgeschmackt vorkam, daß wir darüber eine innere Verlegenheit empfanden. Dabei galt der Literaturunterricht kraft irgendeiner Tradition als das interessanteste und „geistvollste“ Lehrfach des ganzen Gymnasialkursus. Mit desto größerer Spannung erwarteten wir den neuen Professor.

Einmal verbreitete sich das Gerücht, er sei bereits angekommen, sei noch jung und heiße Awdjew. Einer der Schüler wollte ihn schon in der Stadt gesehen haben und begann gerade laut über die Begegnung zu erzählen, in der Annahme, daß auch diesmal noch der Inspektor einspringen würde. Doch da ging die Klassentür fast gleichzeitig mit dem Glockenschlag auf, und auf der Schwelle erschien der neue Professor. Er blieb für einen Augenblick stehen, betrachtete ruhig, wie wir in unserer Überraschung uns schnell in die Bänke drängten, ging dann aufs Katheder und nickte uns unterwegs kurz mit dem Kopfe zu. Da dies die erste Unterrichtsstunde des Tages war, so wartete er schweigend, bis der Primus das obligate Morgengebet vorsagte, setzte sich dann und schlug das Journal auf. Auf seinem Gesicht lag eine leichte Verstimmung, die Präsenzliste las er gleichsam mit unzufriedener Stimme herunter, hin und wieder verweilte er bei einem Namen länger und betrachtete den Betreffenden aufmerksam. Als er damit fertig war, stieg er vom Katheder herunter und schritt langsam die Bankreihen entlang, scheinbar in Gedanken versunken, die mit dem gegebenen Augenblick nichts zu tun hatten, und ohne zu beachten, daß ein halbes Hundert aufmerksamer neugieriger Augen auf ihn gerichtet waren und jede seiner Bewegungen musterten.

Er war ein junger Mann, vielleicht um drei Jahre älter als Ignatowitsch, aber bedeutend männlicher und reifer von Aussehen. Seine Physiognomie war keine gewöhnliche: regelmäßige Züge mit griechischem Profil, große ausdrucksvolle Augen, volle Lippen, ein feines Schnurrbärtchen und kleiner blonder Kinnbart. All das war ziemlich hübsch, wollte aber auf den ersten Blick der Klasse aus irgendeinem Grunde nicht gefallen. Überdies trug er enge Beinkleider und Schuhe mit niedrigen Absätzen, während bei uns ganz breite Hosen à la Cosaque und hohe Absätze als der Inbegriff des guten Geschmacks galten. Nur ganz raffinierte Stutzer der sechsten und siebenten Klasse wagten sich schon in engen Hosen zu zeigen.

All das bis zum letzten Knopf und den breiten Schößen des blauen Dienstfrackes hatten wir in Augenschein genommen und einer strengen Prüfung unterzogen, während der Professor im Klassenzimmer wandelte. Uns kam diese Ungezwungenheit und daß er so tat, als ob wir alle nicht auf der Welt wären, befremdend und ein wenig herausfordernd vor.

Nach einigen Touren blieb er endlich stehen, als ob er die ihn beschäftigenden Gedanken verscheuchte, und umfing die Klasse wieder mit einem aufmerksamen Blick.

„Womit haben Sie sich zuletzt beschäftigt?“ fragte er.

„In der letzten Zeit las uns Stepan Jakowlewitsch vor.“

„Was?“

„Die Fabeln von Krylow.“

Der neue Professor zog ein wenig die Augenbrauen in die Höhe.

„Wozu?“

Die Frage kam uns merkwürdig vor. Darüber müßte man doch wohl den Inspektor befragen. Einem fiel es endlich ein:

„Um die leeren Stunden auszufüllen.“

„Ach so! Und ließ er auch Sie vorlesen?“

„Jawohl!“

„Schön, wer von Ihnen kann gut vorlesen?“

Die Klasse schwieg, wir alle konnten laut lesen, einige lasen fließend, aber „gut“ hatten wir noch nicht vorlesen hören.

„Nun also?“ sagte er mit einem ungeduldigen Achselzucken, „Warum schweigen sie denn?“

„Wir alle lesen gleich,“ ließ ich ärgerlich fallen, hatte es aber zu leise gesagt. Awdjew wandte sich zu mir und fragte mich direkt:

„Können sie gut vorlesen?“

„Nein,“ sagte ich errötend, „das habe ich nicht gesagt.“

„Ich aber fragte gerade danach, lesen sie mal vor!“ wandte er sich an einen der Schüler, der einen Band Krylow vor sich liegen hatte.

Jener erhob sich, schlug das Buch aufs Geratewohl auf und fing an vorzulesen. Awdjew verzog das Gesicht.

„Schlecht,“ sagte er. „Lesen sie alle so? Und gibt es nicht einen, der richtig zu lesen versteht? ... Nun, und was hatten sie vorher getrieben?“

„Theorie der Literatur ... Nach Minin,“ antworteten mehrere Stimmen.

„Und was ist Literatur?“

Schweigen.

„Stammt von ‚Literae‘“ ...

„Nehmen wir an. Und was heißt ‚Literae‘?“

„Ein schriftlicher Gedankenausdruck“ ...

„Nicht ganz. Man kann manches niederschreiben, was doch nur ein gedankenloses Zeug abgeben wird. Na, und was ist ein Gedanke?“

Er blickte uns mit einer drolligen Grimmasse an und sagte:

„Überlegen Sie mal jeder für sich: haben sie schon im Leben Gedanken im Kopfe gehabt?“

Das war eine offensichtliche Beleidigung. In der Klasse entstand leises Murren.

„Alle,“ sagte jemand.

„Was alle?“

„Alle denken wir, das heißt haben Gedanken im Kopf,“ riefen mehrere Stimmen keck. Der Professor fing an, uns auf die Nerven zu fallen.

„Sie ‚denken‘ ,“ wiederholte er mit leichtem Achselzucken. „Sie denken eben: ob denn die Glocke wohl bald läuten wird? Und Sie ‚denken‘, dies heiße eben: Gedanken im Kopfe haben. Aber Sie irren. Gedanken im Kopf haben, verstehen Sie wohl: wirkliche Gedanken, das ist etwas ganz anderes. Nehmen Sie Ihre Hefte vor. Notieren Sie auf.“

Und langsam im Klassenzimmer auf- und abwandelnd, begann er bei den einfachsten Definitionen. Anfangs lag in seinen Augen, in der Falte zwischen den Augenbrauen, noch dieselbe trübe Verstimmung. Die Entwicklung des Themas fesselte ihn aber sichtlich selber. In sein dunkles Gesicht trat eine tiefe Röte. Er sprach langsam, nachdenklich und frei. Die Vorlesung war offenbar nicht einstudiert: die Worte fielen ihm ein, und die Sätze formten sich eben in dem Augenblick, als er sie vortrug, sie flogen uns noch nicht erkaltet zu. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und machte Pausen, suchte nach dem schicklichsten Ausdruck, nach einem passenden Wort und wandelte dann weiter, immer zufriedener und heiterer. Das Aufnotieren war keine leichte Sache. Er sprach zwar langsam, wartete aber nicht, bis ihm unsere Federn folgten, wir hatten aber Lust, alles festzuhalten. Der Rest der Stunde verstrich in dieser Beschäftigung. Als die Glocke ertönte, war ich überrascht, wie schnell die Stunde verstrichen war.

Awdjew machte Schluß, nahm das Journal, nickte uns mit dem Kopfe zu und verließ das Zimmer. In der Klasse erhob sich sofort ein lebhaftes Stimmengewirr. Der Eindruck war kein günstiger.

„'ne feine Nummer!“ sagte einer.

„Leute, mit dem muß man sich in acht nehmen ...“

„Wo hat man bloß den Teufelskerl vorgeholt?“

„Hört mal, er hat uns doch aber beleidigt!“ ...

Unter solchen Gesprächen überraschte uns die Glocke zur zweiten Stunde. Ich erinnere mich, daß darauf der Geschichtsprofessor Petrussow eintrat. Das war auch ein „Neuer“, der nur wenige Monate vor Awdjew sein Lehramt angetreten hatte, ein junger Herr von kleinem Wuchs, mit einer klugen und energischen Physiognomie. In der Klasse hielt er sich offiziell, etwas zugeknöpft, aber doch im ganzem sympathisch. Sein Unterricht war jedesmal in zwei ungleiche Teile eingeteilt. Im ersten pflegte er die Aufgaben zu verhören und Noten zu stellen. Wenn er die Feder ins Tintenfaß tauchte, um eine Note zu stellen, wurde sein Gesicht jedesmal nachdenklich und ernst. Er erwog sichtlich mit Sorgfalt alle Für und Wider, und wenn er darauf mit seiner festen Schrift eine Note ins Journal eintrug, so fühlte man, daß sie mit Überlegung und gerecht gestellt war. Etwa zwanzig Minuten vor Schluß pflegte er das Lehrbuch vorzunehmen und es mit der unwandelbaren Phrase aufzuschlagen:

„Nun, also... wir sind da und da stehen geblieben. Jetzt wollen wir fortfahren.“

Und, den Blick öfters ins Buch gerichtet, trug er den Inhalt der folgenden Aufgabe vor, gewissenhaft, gründlich und trocken. Es war uns bekannt, daß er im pädagogischen Rat ebenso gründlich seine Meinung über den und jenen Schüler vortrug, der sich etwa irgendwas hatte zuschulden kommen lassen. Sein Urteil war stets ebenso nachsichtig wie unerschütterlich, wir achteten ihn als Menschen und präparierten für ihn gewissenhaft, die Geschichte erschien uns aber als ein Gegenstand von beträchtlicher Langeweile. Einige Zeit später hat derselbe Petrussow übrigens ebenso ehrlich und objektiv seine eigene pädagogische Befähigung abgewogen, sich selbst eine unbefriedigende Note gestellt und einen anderen Beruf ergriffen.

Jetzt betrachtete ich, wie immer, mit Vergnügen sein energisches breites Gesicht, durch seinen eintönigen Vortrag klang mir aber die Bruststimme des neuen Literaturprofessors und dessen boshafte Bemerkungen ins Ohr. „Denken“ und „Gedanken im Kopf haben“ ... Ja, das stimmt. Der Unterschied ist einleuchtend. Und doch hat der Mann etwas an sich, was Zum Widerspruch reizt, wie mag die Sache weiter laufen? ...

Ich zog verstohlen das Heft hervor und begann unter dem Pult die Notizen des vorigen Unterrichts zu lesen, auf die Gefahr hin, von Petrussow vermahnt zu werden. Die Vorlesung war formschön und fesselnd.

In den Schülerpensionaten unterhielt man sich gleichfalls über den neuen Literaturprofessor. Der Eindruck war auch in den anderen Klassen im großen und ganzen derselbe: Awdjew erschien allen rätselhaft und wenig sympathisch. Man beschäftigte sich immerhin mit seiner Person mehr, als dies den anderen neuen Herren gegenüber der Fall war.

Drei Tage später kam in die Schule eine Neuigkeit aus der Stadt: man hatte den neuen Professor betrunken gesehen ... Mir gab es einen Stich. Zur folgenden Unterrichtsstunde erschien er nicht. Die einen sagten boshaft: „des Katers wegen“, andere meinten, er richte sich in der neuen Wohnung ein. Wie dem auch war, alle fühlten sich enttäuscht, als auf der Schwelle, das Journal unter dem Arm, wieder Stepan Jakowlewitsch zwecks „ausdrucksvollen Vortrags“ erschien.

Zwei Tage später schlug eine neue sensationelle Nachricht wie eine Bombe ein. In unserer Klasse saß ein gewisser Domaniewitsch, ein Jüngling in reiferen Jahren, der in seiner Gymnasiallaufbahn stecken geblieben war und sich gegen uns Kroppzeug wie ein ganz Erwachsener ausnahm. Er war eigentlich ein netter Kerl und guter Kamerad, trug aber äußerlich einen Hochmut zur Schau, als wäre er mindestens ein Universitätsprofessor, der nur durch Zufall mit Knirpsen auf eine Bank zu sitzen kam.

An jenem Tage erschien er in der Klasse in ungewöhnliche Grandezza gehüllt. Mit nachlässiger Miene, durch die jedoch die geschmeichelte Eitelkeit deutlich zu merken war, berichtete er, daß er mit dem neuen Professor bereits „gut Freund“ sei. Die Bekanntschaft wurde unter eigentümlichen Umständen geschlossen. Am Abend zuvor ging Domaniewitsch bei Mondschein von einem Besuch heim. An der Ecke der Pappelstraße und der Chaussee bemerkte er einen Herrn, der auf einem Stapel Balken sitzend und seinen Oberkörper hin- und herwiegend mit den Passanten Scherzreden wechselte und ukrainische Lieder sang.

„Eine Stimme, sag' ich euch – großartig!“ fügte der Erzähler mit einem gewissen Stolz auf seinen neuen Freund hinzu.

Als Domaniewitsch, der den heiteren Herrn nicht erkannt hatte, eben vorbeigehen wollte, rief ihn jener heran.

„Herr Schüler, kommen sie mal her!“

Dieser trat heran, erkannte seinen neuen Präzeptor und grüßte.

„Wie heißen sie?“

Domaniewitsch bekam, „um euch die Wahrheit zu sagen,“ ein wenig Angst. Es war schon spät am Abend; den Schülern war es untersagt, die Wohnung um diese Zeit zu verlassen, und der neue Professor schien ein strenger Herr zu sein, selber ist er betrunken, wird aber doch beim Direktor Anzeige machen, dachte Domaniewitsch bei sich. Nichtsdestoweniger faßte er sich ein Herz und nannte seinen Namen.

„Sehr angenehm,“ sagte höflich der Professor und gab ihm die Hand. „Ich bin Awdjew, Benjamin Wassiljewitsch, Professor der Literatur. Momentan, wie sie sehen, ein wenig betrunken“ ...

Dabei lachte er („ein merkwürdig Helles und ansteckendes Lachen“). Und sich kräftig auf den Arm des Schülers aufstützend, erhob er sich und bat, ihn nach Hause zu geleiten, da er sich in der Stadt noch nicht auskenne.

„Weiß der Kuckuck,“ sagte er lachend, ihr habt da ganz komische Straßen, und der Wein von Papa Weintraub, der ist nicht von schlechten Eltern. Ich komme heraus, habe mich noch nicht recht umgeschaut, da stehe ich schon vor dem Schlagbaum ... Nun kehr ich um ... da laufen mir irgendso dumme Balken zwischen die Beine ... Ha-ha-ha ... Mein Kopf bleibt immer klar, aber die Beine, hol' sie der Kuckuck, die wollen halt nicht mit.“

Domaniewitsch brachte den Professor in dessen Behausung hinter dem Teich, wobei er ihn die ganze Zeit freundschaftlich unter den Arm stützte. Zu Hause war Awdjew sehr nett, bot dem Schüler eine Zigarette und ein kleines Gläschen Rotwein an, ermahnte ihn jedoch dabei, sich niemals zu betrinken und sich nicht zu verlieben. Ersteres sei schädlich, letzteres – verlohne sich nicht ...

Der Bericht machte großes Aufsehen. Was soll denn das alles bedeuten? dachte ich bei mir, mit einem stechenden Schmerz in der Seele, der um so unbegreiflicher war, als mir ja Awdjew jetzt nur noch unsympathischer erschien.

„Nun, Freundchen,“ machte einer die praktische Schlußfolgerung – „jetzt brauchst du das ganze Jahr die Literatur nicht zu ochsen ...“

„Was soll ich sie ochsen,“ gab Domaniewitsch großartig zurück, „ich weiß schon vom vorigen Jahr her alles, was er diktierte ... Ich, mein Lieber, ich habe schon von der ersten Klasse an ‚Gedanken im Kopf‘“ ... Und er begab sich in der üblichen herablassenden Haltung auf seinen Platz. Jetzt hatte er einen neuen Vorsprung vor uns anderen: an einen von uns Stiften hätte sich der Professor kaum um einen derartigen Dienst gewandt.

Die Glocke läutete. Die Tür ging auf. Awdjew trat ein und stieg mit leichtem, sorglosem Schritt aufs Katheder. Alle Blicke bohrten sich in den Professor, von dem es hieß, daß er gestern betrunken war, und daß ihn Domaniewitsch am Arm nach Hause führen mußte. Auf dem hübschen Gesicht war jedoch nicht die geringste Verlegenheit zu lesen: er sah frisch aus, seine Augen glänzten, um seine Lippen spielte ein feines Lächeln. Wie ich dieses Gesicht jetzt aufmerksam betrachtete, wurde ich plötzlich inne, daß es durchaus nicht antipathisch, vielmehr schön und klug war. Und doch ... er war ja erst gestern betrunken ...

Awdjew schlug das Journal auf und begann die Präsenzliste zu lesen.

„Wardenski ... Gordiejew ... Domaniewitsch ...“

„Hier,“ antwortete Domaniewitsch lässig, wobei er sich kaum vom Platze zu erheben geruhte, Awdjew hielt einen Augenblick, blickte den Schüler mit glänzenden Augen an, wie wenn er sich an etwas erinnerte, und setzte dann den Namensaufruf fort. Dann schob er das Journal weg, stützte beide Arme aufs Katheder und fragte:

„Haben Sie das vorige Mal alles aufnotieren können, was ich vortrug?“

„Jawohl.“

„Und Sie haben es natürlich auch gelernt? Ja? Nun denn ... Herr Domaniewitsch!“

Der Name zündete in der Klasse wie ein Funke. Alle Köpfe wandten sich nach dem Aufgerufenen. Der arme Kerl blickte sich erstaunt und hilflos um, als wenn er garnicht begriffe, worum es sich handelte. In den Bänken entstand unwillkürliches Kichern. Die Physiognomie des Lehrers blieb ernst.

„Alsdann ... Herr Domaniewitsch wird uns den Inhalt der ersten Vorlesung erzählen ... wie waren wir an die Definition des Gegenstandes herangetreten? Hören wir zu.“

Domaniewitsch erhob sich, blieb eine halbe Minute mit gesenktem Blick stehen und sagte dann verlegen:

„Herr Professor, ich ...“

„Ja? Was denn?“

„Ich hatte heute keine Zeit zu präparieren.“

„Heute? Na und gestern? Und vorgestern?“

„Überhaupt ... ich ...“

„Überhaupt? Das ist bedauerlich, Herr Domaniewitsch, sehr bedauerlich. Die Aufgaben werden zu dem Zwecke aufgegeben, damit man sie lernt, sie hatten drei Tage Zeit, haben Sie eine ernste Entschuldigung?“

Domaniewitsch schwieg.

„Es tut mir sehr leid, aber“ ... Er ergriff die Feder und schlug das Journal auf ... „Zu meinem größten Bedauern bin ich gezwungen. Ihnen eine Eins 1) zu stellen.“

Nachdem der Strich im Journal eingetragen war, blickte Awdjew auf den armen Domaniewitsch. Unser Patriarch stand da mit einer derart fassungslosen und gekränkten Miene, daß Awdjew, den Kopf leicht zurückgebogen, laut auflachte. Sein perlendes Lachen war in der Tat eigentümlich hell und ansteckend, wobei die weißen Zähne unter dem feinen Schnurrbart ganz reizend hervorblitzten. Bei uns war im allgemeinen nicht Sitte, über das Ungemach eines Kameraden zu lachen, diesmal mußte aber Domaniewitsch selber mit einstimmen. Er zuckte mit drolliger Resignation die Achseln und setzte sich.

Der Casus war erledigt, wir begriffen, daß sich aus dem gestrigen Vorgang für die Klasse gar keine Schlußfolgerungen ergaben, und daß die Autorität des neuen Professors fest begründet war. Zum Schluß dieser zweiten Stunde hatte er uns bereits ganz in seiner Gewalt. Nachdem er ebenso wie das erste Mal formschön und frei im Gehen den Gegenstand erläutert hatte, bestieg er zum Schluß das Katheder, schlug ein mitgebrachtes dickes Buch in elegantem Einband auf und sagte:

„Jetzt, meine Herren, wollen wir uns ein wenig erholen. Ich habe Ihnen bereits auseinandergesetzt, was es heißt, in geschlossenen Gedankenreihen zu denken. Jetzt werden Sie gleich sehen, wie manche Menschen in Bildern denken und die kompliziertesten Phänomene durch Bilder zu erläutern verstehen. Kennen Sie Turgenjew?“

Zu unserer Schande mußten wir gestehen, daß uns Turgenjew nur dem Namen nach bekannt war. Bücher zum Lesen bezogen wir damals entweder für bescheidene Leihgebühr beim jüdischen Antiquar, der uns mit arg zerzausten Bänden eines Dumas, Montépin oder Gaboriot versah, oder aber aus der Gymnasialbibliothek. Aus dieser verabfolgte uns bis dahin die Bücher Awdjews Vorgänger, Mitrofan Alexandrowitsch Andrijewski, und das spielte sich immer sehr lustig ab. Einmal in der Woche pflegten wir, die ganze Rotte, gegen Abend in die dunklen hallenden Korridore einzubrechen, die bei dem zweifelhaften Flackern eines Lichtstümpchens, das Andrijewski eigenhändig vorantrug, fremd und geheimnisvoll wirkten, und polterten unter Scherz und Geplauder mit dem gutmütigen Literaturprofessor die Treppen hinauf. Er suchte jedesmal lange nach dem richtigen Schlüssel zur Bibliothektür, drehte ihn dann endlich mit lautem Knall im Schloß herum und stieß die Tür in das große Gelaß auf, das an den Wänden mit riesigen schwarzen Schränken bestanden war. Damit war übrigens unsere Freude auch zu Ende, denn was die Schränke in ihrem Schoß bargen, war über die Maßen langweilig. Da waren hauptsächlich erbauliche Erzählungen frommen Inhalts, „die Sonntagsmuße“, auch die „Soldatenzeitung“ hatte sich aus unbekannten Gründen hierher verirrt, dann der „Weltreisende“. Wir murrten laut, worauf Andrijewski mit Laune, manchmal mit sehr netten Witzen replizierte, so daß wir alle in lautes Lachen auszubrechen pflegten. Schließlich blieb nichts anderes übrig, als immer wieder Livingstones Reise zu erbitten, dann Cookes Reise, dann Aragos Reise, dann Baker Paschas Reise usw. Einmal hatte ich sogar die Reise auf den heiligen Berg Athon erwischt, wenn ich nicht irre, waren das die „Episteln des frommen Einsiedlers“, von denen mir übrigens, trotz meiner damaligen religiösen Geistesverfassung, nichts im Gedächtnis haften geblieben ist, als eine anmutige Schilderung des Sturmes und das Entzücken des Verfassers darüber, daß der heilige Nikolaus auf dem Konzil dem Ketzer Arius einen Backenstreich versetzt habe. Der fromme Eremit steht vor dem Heiligenbilde, das eben jenes schlagende Argument der kirchenväterlichen Disputation darstellt, und ihm ist, als ob „der Schall der gottgefälligen Handlung noch unter den Gewölben des stummen Gotteshauses vibriere“ ... wie dem sei, es ist Tatsache, daß sogar ich, der ich verhältnismäßig viel, wenn auch unordentlich und planlos las, der ich bereits „Die drei Musketiere“, den „Grafen Montechristo“ und selbst den „Ewigen Juden“ von Eugen Sue (in polnischer Sprache) kannte, damals von Gogol, Turgenjew, Dostojewski, Gontscharow und Pissemski nur eine vage Vorstellung hatte. Meine Lektüre war in jener Periode überhaupt viel minderwertiger als ehedem in Schitomir. Sie war für mich lediglich eine Unterhaltung geworden und gewöhnte mich an die Auffassung, die schöne Literatur sei nur eine spannende Schilderung von Dingen, die es in Wirklichkeit gar nicht gebe. Zuweilen pflegte ich die Handlungen und Reden meiner Bücherhelden mit meiner Umgebung zu vergleichen und fand, daß kein Mensch je so spricht oder handelt wie jene Personen. Wie ein heller Punkt haftete in meinem Gedächtnis die Erinnerung an den „Thomas von Sandomir“ und noch zwei drei früher gelesene polnische Werke. Diese standen dem wirklichen Leben näher. Irgendwo, vielleicht gar nicht weit und in nicht allzu ferner Vergangenheit, konnten die Menschen wenigstens so reden und handeln, wie in jenen Büchern geschildert war ...

Ich ging einmal an einem hellen Herbstabend die stille Pappelstraße entlang und bog dann über einen öden Platz in ein enges Seitengäßchen ein. Die Straße lag im Schatten, hinter den Gärten aber ging zwischen zwei schwarzen Dächern der Mond auf, und auf seinem silbernen Hintergrunde zeichneten sich scharf die schwarzen Zweige des entlaubten Baumes. Frappiert durch die schlichte Schönheit dieser anspruchslosen Landschaft, blieb ich unwillkürlich stehen. Ich zeichnete gern, freilich meist nur sklavische Kopien verschiedener Bilder, jetzt aber ergriff mich der leidenschaftliche Wunsch, das Bild, das ich da vor mir sah, in seiner ganzen Einfachheit festzuhalten, – mit den beiden dunklen Giebeln, mit den Zaunpfählen, die sich in dem vom Mondschein erhellten Himmel scharf zeichneten, mit der feuchten Tiefe der schattigen Winkel, in denen man das Gewirr der drin verborgenen Gegenstände vermutete, und selbst mit dem Duft des kürzlich gefallenen Regens, den man atmen konnte...

Dann gingen meine Gedanken zu den Büchern über, und mir kam etwas in den Sinn: wie, wenn man einfach einen Knaben schildern würde, etwa wie ich einer war, wenn man erzählen würde, wie er erst in Schitomir lebte, dann hierher nach Rowno übersiedelte, alles, was er dabei empfand, die Menschen, die ihn umgaben, und selbst diesen Augenblick, da er so in der menschenleeren Straße steht und sein geistiges Wachstum an der Vergangenheit und an der Gegenwart mißt. Drüben, in der dichten feuchten Finsternis, wo flimmernde Lichter unordentlich zerstreut sind, wohnen hinter den erhellten kleinen Fenstern Menschen... Jetzt trinken sie wahrscheinlich Tee oder essen zur Nacht, unterhalten sich, streiten miteinander, lachen. Und nie besinnen sie sich auf sich selbst und die umgebende Natur, nie messen sie ihr eignes Ich an allem, was sie umgibt. Möglicherweise bin ich der Einzige in der ganzen Stadt, – dachte ich – der ich so dastehe in den Anblick der Lichter und Schatten verloren, der Einzige, der ich an sie denke und den Wunsch hege, diese Natur und die Menschen so wahrheitsgetreu zu schildern, daß jeder Einzelne und jedes Ding darin seinen Platz findet. ..

Nicht in diesen Worten, doch ungefähr so, dachte ich damals bei mir. Und ich empfand darob ein klein wenig Stolz und eine große Niedergeschlagenheit. Ich dachte bloß, daß alles wohl in dieser Einfachheit und Naturwahrheit zu schildern sein mochte, wie ich es jetzt sah, und daß die einfache Geschichte eines Knaben wie ich einer war, und der ihn umgebenden Menschen interessanter und wertvoller sein mochte als der Graf von Montechristo. Auszuführen verstand ich aber damals im Grunde genommen gar nichts. Professor Snachurski hielt mich für einen begabten Zeichner, verlangte aber sorgfältiges „Strafieren“. Ich hatte im Strafieren eine große Fertigkeit erlangt, war jedoch bei all dieser Kunst nicht imstande, auch nur die einfachste Landschaft nach der Natur zu zeichnen. Mitunter machte ich unser Boot los, ruderte mich an die Insel heran, hielt mitten zwischen Wasserrosen und Linsen still und bemühte mich, vom Hafen aus das alte 5chloß mit den leeren Fenstern, den hohen Pappeln und den moosumwachsenen steinernen Rittern zu zeichnen. Meine Skizzen machten zu Hause Furore, ich aber fühlte, daß das nur Striche, Konture, „Strafierung“ war ... Nichts von der versonnenen Massivität der ehrwürdigen Ruine war drin, keine Tiefe in den gähnenden Fensteröffnungen, keine Höhe in den Pappeln mit ihren rauschenden Wipfeln, keine Luft in dem hohen Himmel, keine Durchsichtigkeit im Wasser. Mit dem Gefühl der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit legte ich jedesmal Bleistift und Album auf die Bank im Boot und blieb lange regungslos sitzen, in Betrachten versunken, wie um mich langbeinige Wassermücken in ihren weißen Pantoffelchen auf dem Teich herumschoben und das träge funkelnde Wasser in Bewegung setzten, wie im Schilf die verschmachtenden Frösche matt vorbeiruderten oder wie die Krebse mit ihren Schwänzen den trüben Grund pflügten.

Nach einiger Zeit fing die geistige Leere, die mich von der tödlichen Erstarrung des öden Städtchens anwehte, sich zu füllen an: vor mir stiegen Schatten der Vergangenheit auf. Die verlassene Insel bevölkerte sich, das Schloß erwachte zum Leben, die gähnenden Öffnungen wurden zu Fensterreihen, aus denen glänzende Kavaliere und Damen hinunterblickten. Auf dem breiten Balkon stand eine Gruppe schöner Frauen, eine von ihnen hielt einen Becher in der Hand, während ein junger Ritter (vielleicht war ich es gar selbst) die Treppe hinaufritt und den Becher aus der Hand der Schönen empfing ... Ringsumher ertönten Pistolenschüsse, Schlachtgetümmel, Sporenklirren, Pferdewiehern ...

Oder ein anderes Bild: das Schloß wird von Kosaken und Hajdamaken überfallen, die Insel ist in weißen Rauch gehüllt. Jetzt bin ich auf Seiten der Angreifer, mit dem „Pöbel“, den Kosaken ... Überhaupt nahm die Romantik der alten Ukraine unter dem Einfluß der Legenden, die sich um die Schloßruine woben, sowie der flüchtigen Lektüre der „Hajdamaten“ Schewtschenkos, die unter uns in Abschriften kursierten, wieder von mir Besitz und erfüllte meine Phantasie mit Gespenstern längst vergangener Kosakenherrlichkeit. Gespenstern, die ebenso tot waren wie die polnischen Ritter samt ihren Schönen ... Was kann es im Leben eines gewöhnlichen Knaben und seiner Nachbarn Interessantes geben? Interessant sind ja nur wilde Steppen, tolle Jagden, Überfälle, Abenteuer, Heldentaten, – versteht sich mit glücklichem Ausgang ...

Eine Zeitlang faßte ich sogar ein lebhaftes Interesse für die Geographie und zwar unter dem speziellen Gesichtspunkt der Frage: wo wäre in unserer prosaischen Zeit ein Winkel zu finden, in dem das einstige Saporoger Kosakenlager wiederhergestellt werden könnte, und ich war hoch erfreut, als ich erfuhr, daß Sadyk Pascha Tschaikowski denselben romantischen Phantomen an der Donau, in Anatolien und in Syrien nachjage. Das kosakische Heerlager in der Art, wie es einst hinter den Stromschnellen des Dnjepr bestand, brauchte ich für meine mich tief bewegenden phantastischen Luftgebilde.

Das war eine Art feenhafter Dekoration, jenseits von Zeit und Raum und ohne Zusammenhang mit dem umgebenden Leben, ein gespenstischer Reigen spannender Erlebnisse, die ich jedoch weder zu packen noch zu gestalten vermochte. Die Träumereien erhitzten nur fruchtlos meine Einbildung und schwächten meine Willenskraft ...

Wurde es Zeit, von einem solchen mißlungenen künstlerischen Ausflug heimzukehren, dann ergriff ich, von der schwülen Luft wie von den phantastischen Träumen ganz ermattet, mit lässiger Hand das Ruder, und mein Boot zog langsam in seinem Kielwasser eine helle Spur nach, die sich dann still wieder mit Wasserlinsen, Tang und Schlamm überzog. Meine im Wachstum begriffene Seele suchte, wo sie den Überschuß an Kräften, der von den „Arithmetiken und Grammatiken“ übrig blieb, anbringen könnte, und so wurde sie manchmal abwechselnd von glühenden historischen Gesichten und von religiöser Ekstase beherrscht. Auf dem Grunde meines Bewußtseins regten sich bereits allerlei religiöse Zweifel, ihnen entgegen erhob sich aber der Drang nach Märtyrertum, nach seelischen Hochflügen, nach Zuständen völliger Hingerissenheit.

Einmal ging ich des Morgens in solcher Stimmung in die Schule. Mein Weg führte mich über den Marktplatz, den Mittelpunkt des örtlichen Handels. Rings um den Platz gähnten die offenen Tore der Gasthäuser, in der Mitte drängten sich Bauernwagen, die Menge lärmte, Gänse schrien, Pferde wieherten, die Marktweiber priesen mit schriller Stimme ihre Waren an.

Da fiel mein Blick unversehens auf die Figur der Jungfrau, die auf ihrer Säule hoch in die Luft ragte. Das war ein örtliches Heiligtum, das der katholischen wie der orthodoxen Bevölkerung gleich teuer war. Jeden Abend pflegte der Nachtwächter, also eine Amtsperson, ein Stümpfchen Licht in die Laterne zu stellen und sie an dem Block in die Höhe zu ziehen. Das Lichtlein hing in dem dunklen Himmel gleich einem winzigen Stern, und über ihm schimmerte undeutlich, geheimnisvoll-schön die buntbemalte Figur.

Man sagte, daß der russische Schulgeistliche in seinem Russifizierungseifer bei den Behörden angeregt hatte, die „katholische Muttergottes“ von ihrem Sockel zu entfernen ... Jetzt schwebte die geächtete Statue über dem bunten Lärm des Marktes in einer Strahlenglorie der Morgensonne.

Es lag in ihr etwas, was mich plötzlich stille stehen und einen Augenblick später entblößten Hauptes niederknien ließ; ich hob den Blick zu der Jungfrau und schlug eifrig mehrmals das Kreuz. Dann erhob ich mich und ging in die Schule, ohne die verwunderten Blicke um mich her zu beachten.

Das nächste Mal, als ich wieder an dieser Statue vorbeiging, erinnerte ich mich an mein Gebet vom gestrigen Tage. Meine Stimmung war eine andere, allein ... ich hörte plötzlich gleichsam eine Stimme, die mir vorwurfsvoll zuraunte: „Du schämst dich wohl zu beten, schämst dich, deinem frommen Glauben Zeugnis zu geben, und nur deshalb weil sich das nicht schickt ...“ Ich legte sofort meine Bücher auf die Erde und kniete nieder.

Jetzt war der Marktplatz leer, und die Gestalt des knienden Schülers war deutlich zu sehen. Ich erregte bald die Aufmerksamkeit der jüdischen Makler, der Passanten, einiger Beamten, die sich in ihre Kanzleien begaben. In der Ferne tauchte auf dem Holztrottoir hie und da eine blaue Schüleruniform auf. Wie sehr wünschte ich im Innern, unbemerkt zu bleiben! ...

Seit jener Zeit beherrschte mich eine ganze Weile derselbe peinliche Zwiespalt. Nichtig zu beten war ich nicht imstande, dazu fehlte mir die innere Andacht; allein der Gedanke, daß ich mich „schäme“, verfolgte mich wie ein Vorwurf. Ich kniete also immer wieder mit innerem Mißmut hin, um mich ebenso unbefriedigt zu erheben. Meine Kameraden fingen an, sich über diese Wunderlichkeit aufzuhalten. Ich schwieg jedoch auf alle Fragen ... Der Seelenkampf im leeren Raume war qualvoll und unfruchtbar.

In dieser Stimmung befand ich mich, als der neue Professor auf der Bildfläche erschien ...

Nachdem Awdjew uns die Aufgabe für die nächste Stunde auseinandergesetzt hatte, schlug er ein Buch in einem neuen eleganten Einband auf und las so einfach, als setzte er die gewöhnlichste Unterhaltung fort:

„Mardarij Apollonowitsch Stegunow ist ein kleines altes Männlein, kugelrund, mit einer Glatze, einem Doppelkinn, fleischigen Händchen und einem ansehnlichen Bäuchlein. Er ist sehr gastfrei und jovial ... sommers und winters hat er denselben wattierten Schlafrock aus gestreiftem Stoff an ... Sein Haus ist von ganz altertümlicher Fasson; im Flur riecht es, wie sich's gehört, nach Kwas, Talgkerzen und Häuten ...“

Das sind die „Zwei Gutsherren“ aus Turgenjews „Tagebuch eines Jägers“. Der Erzähler, ein junger Mann, der bereits von den „neuen Ideen“ angehaucht ist, weilt bei Mardarij Apollonowitsch zu Besuch. Sie haben beide zu Mittag gespeist und nehmen nun auf dem Balkon den Tee. Die Abendluft ist still. Nur hin und wieder kommen leichte Windböen daher; die letzte, die neben dem Hause erstarb, hat den Schall gleichmäßiger häufiger Schläge mitgebracht, der aus der Richtung kam, wo sich die Pferdeställe befinden. Mardarij Apollonowitsch, der eben die Untertasse an den Mund führen wollte, um seinen Tee zu schlürfen, hält inne, nickt mit dem Kopfe und fängt an, die Schläge mit gütigem Lächeln zu begleiten: „Tschuki tschuki tschuk! Tschuki tschuk! Tschuki tschuk!“ Es stellt sich heraus, daß im Stall der „Tunichtgut“ Kammerdiener Prügel bekommt, ein Mann mit großem Backenbart, der eben erst im Rock mit langen Schößen bei Tisch servierte ...

Mardarij Apollonowitschs Physiognomie atmet vollendete Güte. „Die schäumendste Entrüstung hätte vor diesem hellen und sanften Blick nicht standgehalten ...“ Beim Verlassen des Gutes begegnet der Erzähler dem „Tunichtgut“ selber: er schlendert seelenvergnügt auf der Dorfstraße, knabbert Sonnenblumenkerne und antwortet auf die Frage, weshalb er bestraft worden sei, einfach:

„Ganz mit Recht, Väterchen, ganz mit Recht! Bei uns wird keiner um Lappalien geprügelt ... Unser Herr ... solch einen Herrn gibt es im ganzen Gouvernement nicht wieder ...“

Inmitten tiefster Stille las Awdjew den Schlußsatz zu Ende: „Da habt ihr's – das alte Rußland, wie es leibt und lebt!...“ Dann fügte er noch einige ganz einfache Worte über die Leibeigenschaft hinzu und über das Ungeheuerliche einer Gesellschaftsordnung, bei der dieser beiderseitige Gleichmut möglich war. Die Glocke des Pförtners Ssaweli ertönte für uns zum ersten Mal unerwartet und unangenehm.

An jenem Tage nahm ich aus der Schule ein gewaltiges neues Erlebnis mit heim. Ich war wie vom Blitz erleuchtet. Das sind sie also – jene „einfachen“ Worte, die nichts als die reine ungeschminkte Wahrheit aussprechen, uns aber doch mit einem Mal hoch über den grauen Alltag emporheben und neue breite Horizonte zeigen. Und auf diesem breiten offenen Plan erstehen plötzlich und drängen sich bekannte Gestalten, alltägliche Erlebnisse, gewöhnliche Bilder, von einem ganz neuen Lichte erhellt.

Während ich aus der Schule nach Hause ging, erstand vor meinen Augen Onkel Hauptmann, Harnyj Lug, die „Wohlgeborenen“, der Karol, der Toni ... Das Widerspruchsvolle, Sinn- und Zusammenhangslose jener Erscheinungen, das mich einst peinigte, war mit einem Mal verschwunden ... „Tschuki, tschuki, tschuk!...“ „Was haben sie denn, junger Mann, was haben sie denn? Bin ich etwa ein Ungeheuer, daß sie mich so anstarren? ...“ Mir wurde plötzlich die elementare Naivität dieser Frage begreiflich. Onkel Hauptmann ist auch kein Ungeheuer, er ist sogar bedeutend feiner und sympathischer als Mardarij. Und doch ... Es steht fest, daß er den Karol bei grimmiger Kälte mit Wasser begießen ließ. Und Karol selber hatte sich damit abgefunden ... In mir stieg eine kochende Empörung auf, die sich zum ersten Male nicht gegen Personen richtete, sondern gegen eine Gesellschaftsordnung, die solche Verhältnisse gebar. Meine Empörung bezog sich freilich zunächst auf die Leibeigenschaft, die damals auch in Rußland bereits der Vergangenheit angehörte. Immerhin traten die Sittlichkeit sozialer Einrichtungen und die Sittlichkeit der Einzelmenschen zum ersten Male als zwei verschiedene Begriffe in meinem Bewußtsein einander gegenüber.

Seit jenem Tage hörte die schöne Literatur für mich auf, ein bloßer Zeitvertreib zu sein, sie wurde zur ernsten Beschäftigung, der ich mich mit Leib und Seele ergab. Awdjew verstand es, diese geistigen Regungen in uns wachzurufen und zur hellen Flamme anzufachen. Er besaß den sicheren inneren Takt der Jugend und Talent. Alles, was er vorlas, sprach oder tat, erhielt in unseren Augen eine besondere Bedeutung. Die Geschichte der russischen Literatur mitsamt den ehedem so langweiligen und trockenen „Lehren Monomachs“ und den „Episteln des Einsiedlers“ trat für uns aus der nebligen Ferne heraus und wurde zum bedeutenden und wichtigen Wissensgebiet, das für die künftigen Erleuchtungen das Fundament bereitete. Die kurzen Erholungspausen zum Schluß der Stunde, wenn Awdjew das mitgebrachte Buch aufschlug, um irgendeinen Abschnitt, eine Szene, ein Gedicht vorzulesen, wurden für uns ein Bedürfnis.

Seine Art zu lesen, hatte nichts Gekünsteltes. Er begann stets ganz einfach, und wir merkten gar nicht, wie und wo er zum Pathos überging, das uns wie eine Reihe elektrischer Schläge erschütterte, oder zur Komik, die in der Klasse Kaskaden sonnigster Heiterkeit entfesselte. Er hatte uns eine Szene aus den „Toten Seelen“ vorgelesen, und wir stürzten uns auf Gogol. Ganz besonders liebte er Nekrassow, und ich habe nie wieder diesen Dichter so schön vorlesen hören.

Sehr bald bildeten sich zwischen Awdjew und uns einfache und innige Beziehungen heraus. Er lud uns zu sich ein, bewirtete uns an seinem Junggesellentisch mit Tee und war stets natürlich, nett und heiter. Nie ließ er uns etwa die Absicht merken, uns zu beeinflussen, nie war er lehrhaft. Ein leichter Scherz, eine hingeworfene Frage über eine eben gelesene Erzählung von Turgenjew, Pissemskij, Gontscharow, über ein Gedicht von Nekrassow, Nikitin oder Schewtschenko, all das flocht sich unmerklich, ungezwungen in die Unterhaltung. Wie Blumenduft ist mir heute noch die besondere Empfindung gegenwärtig, die ich von jedem Besuche bei Awdjew mitnahm: ein Gemisch von Liebe, Verehrung, Freude des sich entfaltenden jungen Geistes und Dankbarkeit für diese Freude ...

Als ich einmal, von solchen Eindrücken überwältigt, etwa um 9 Uhr abends heimging, stieß ich auf unsern Inspektor, der mir plötzlich im Seitengäßchen mit seiner Blendlaterne ins Gesicht leuchtete. Mir wurde, als hätte man mich mit kaltem Wasser begossen. Ich erschrak jedoch nicht, machte auch keinen Versuch zu entfliehen, obwohl ich es gut hätte können, da ich von weitem schon in der Dunkelheit die lange Gestalt erkannt hatte, die sich wie ein Holzpfahl steif auf mich zu bewegte. Ich erinnere mich, daß mich die Begegnung seltsam und peinlich berührte, als hätte ich mich bis zu dem Moment immer noch in einem hellen Zimmer befunden und käme nun unerwartet im dunklen schmutzigen Gäßchen Auge in Auge mit dem lästigen Gast aus einer andern Welt zur Besinnung. Es muß in meinem Ausdruck etwas gewesen sein, was den Inspektor betroffen machte. Er brachte die Laterne näher an mein Gesicht, betrachtete mich aufmerksam und fragte:

„Was haben Sie?“

„Nichts, Stepan Jakowlewitsch.“

„Woher?“

„Von Benjamin Wassilewitsch. Ich habe ihm Bücher zurückgebracht.“

„So!“

Und er schob weiter, wie ein flüchtiges Traumgesicht meinen Blicken entschwindend.

Nie hatten wir von Awdjew auch nur eine abfällige Bemerkung über unser pädagogisches „System“ oder über das Abnorme unseres ganzen Schulregimes gehört. Er hatte in uns aber eine ganz neue geistige Stimmung wachgerufen, die unabsichtlich und natürlich von dem sonst auf dem Gymnasium vorherrschenden Geiste abstach. Das wirkte stärker als alle Kritik.

Zuweilen ergab er sich wieder dem Trunk. Einmal mußte er sogar aus dem Klub herausgeführt werden. Er hatte den anwesenden Gästen verschiedene, allerdings sehr lustige Impertinenzen zu sagen begonnen, das rief Empörung hervor und er wurde aus dem Saal gewiesen. Doch auch dabei benahm er sich, wie man erzählte, so amüsant, daß sowohl der Vorstand wie das Publikum lachen mußten, und am andern Tage flatterten seine Charakteristiken und Wortspiele im 5tädtchen herum wie eine Schar loser Vögel. Am nächsten Klubabend erschien er wieder, wie wenn nichts geschehen wäre, elegant, klug, ernst, und niemand wagte an den neulichen Skandal zu erinnern... Auf Promenaden, bei schönem Wetter, wenn „die ganze Stadt“ auf die Chaussee strömte, um sich mit gutem Anstand „vor dem Schlagbaum“ zu ergehen, pflegte Awdjew von einer Gruppe zur andern zu wandern und wurde als allgemeiner Liebling überall freundlich begrüßt. Die Damen zumal waren von ihm ganz begeistert, – ihnen gegenüber vergaß er sich selbst im trunkenen Zustand nie. Die Männer ihrerseits suchten seine Exzesse zu vergessen.

„Was wollen Sie tun! Er ist nun einmal ein Mensch mit einer satirischen Ader,“ hatte der kommandierende General gesagt, mit dessen Frau Awdjew intim befreundet war. Das ganze Provinzstädtchen nahm diesen Spruch als eine Art Patent hin, wodurch das Betragen des interessanten Gymnasialprofessors legitimiert wurde. Anderen hätte man das, was man Awdjew hingehen ließ, natürlich nicht so glatt hingehen lassen. Kein anderer hätte aber auch all dies so keck, so lustig und witzig anzubringen gewußt. Ein Mensch „mit einer satirischen Ader“ durfte sich das schon leisten.

All dies kam selbstverständlich auch den Schülern zu Ohren. Sie erzählten einander über die Skandalaffären aus dem Klub nach Berichten von Augenzeugen und wiederholten mit Entzücken Witze und Wortspiele ihres Lieblings. Manchmal erschien all das auch mir interessant und schön. Ich träumte zuweilen davon, selbst einmal solch ein Provinzsatiriker zu werden, der von den einen gefürchtet, von den anderen geliebt, von allen im Grunde geachtet wird, weil er seinerseits niemanden fürchtet und mit seinen Streichen wenigstens den starren Sumpf des gesellschaftlichen Lebens einigermaßen aufpeitscht. Ich konnte mich aber doch mit dem Gedanken nicht aussöhnen, daß man Awdjew „aus dem Klub hinausgeführt“ habe, und daß viele sich befugt hielten, ihn einen Trunkenbold zu nennen.

Einmal gab er mir Pissemskij zu lesen. Es gibt einen Roman dieses Schriftstellers, der weniger als seine anderen Werke von der Kritik geschätzt, beim lesenden Publikum fast in Vergessenheit geraten ist. Er ist betitelt: „Monsieur Batmanow“ und schildert einen Mann von „weitherziger Natur“, der schön, exzentrisch, witzig, über alle konventionellen Rücksichten erhaben ist. Dieser Held wird vom Schicksal aus Petersburg in eine kleine Gouvernementsstadt verschlagen, bezaubert hier die ganze Gesellschaft, für die er seinerseits offene Verachtung zur Schau trägt, sagt den Magnaten der Gegend Impertinenzen ins Gesicht und führt mehr oder weniger ergötzliche Skandale auf. Er gewinnt die Liebe einer geistreichen und schönen Frau und scheint ihr Gefühl auch zu erwidern, die beiden gehen aber dennoch schließlich für immer auseinander, denn Monsieur Batmanow kann an eine gesetzliche Ehe und an Liebe aus Pflichtgefühl nicht ohne Schaudern denken.

Ich weiß noch, wie sich mein Herz zusammenkrampfte, als ich die letzte Auseinandersetzung Batmanows mit der geliebten Frau las, die, glaube ich, in einer Theaterloge stattfand. Es war mir eigentlich nicht klar, was dieses Menschenpaar zu dem Bruch veranlaßt hatte, ich nahm aber an, daß das, weswegen ein so geistvoller Mann auf Liebe und Glück verzichtet, wohl sicher auch sehr geistvoll, erhaben und bedeutsam sein müsse. Hinter dem Bilde Batmanows stellte ich mir in Gedanken die originelle Erscheinung Awdjews vor, mit seinem reizenden Lächeln, seiner hinreißenden Lustigkeit und seinem manchmal beißenden, häufiger aber gutmütigen und feinen Witz. Genau wie Batmanow stach er scharf von dem trüben Milieu der Provinzstadt ab, das er um eines Hauptes Länge überragte. Wie Batmanow fürchtete er sich nicht vor der öffentlichen Meinung, wie bei Batmanow endlich mußte hinter all dem – so bildete ich mir wenigstens damals ein – irgendein Seelendrama stecken, ein verborgener Schmerz, ein rätselhafter Verzicht auf Glück, unklarer, aber natürlich erhabener Motive halber ...

Der Roman Pissemskijs endet mit einer unerwarteten Szene. In einem kleinen Städtchen Sibiriens ist ein Herr von der Obrigkeit aus Petersburg eingetroffen, und die örtlichen Besitzer der Goldbergwerke schicken sich an, ihn würdig zu empfangen. An der Spitze der Deputation steht, das obligate Tablett mit Brot und Salz in der Hand, ein wohlbeleibter, schöner Mann mit breitem Bart, in einer sibirischen Jacke von feinstem Tuch und in hohen Schaftstiefeln. Mit einiger Verwunderung erkennt der hohe Herr aus der Residenz in ihm seinen alten Bekannten, eben den „Monsieur Batmanow“, wieder. „Ja ja, auch so ging schon manchmal der russische Weltschmerz vor Anker!“ bemerkt zum Schlusse der Verfasser. Mein unerfahrener Geist war indessen von der Persönlichkeit Batmanows derart bezaubert, daß ich die beißende Schlußbemerkung gar nicht beachtete.

Als ich das ausgelesene Buch bei Awdjew ablieferte, forderte er mich auf, zu bleiben, und wir kamen diesmal in eine besonders trauliche Unterhaltung. Ich war damals überhaupt bereits einer seiner Lieblingsschüler, und unsere Beziehungen hatten die Färbung einer eigenartigen Freundschaft zwischen einem erwachsenen Manne und einem Jüngling, fast Knaben, angenommen. Er fragte mich, ob es mir nicht passiere, in der Literatur bekannten Personen zu begegnen. Ich erzählte, wie mich Mardarij Apollonowitsch Stogunow an meinen Onkel Hauptmann erinnerte, obwohl sie im Grunde genommen einander nicht ähnlich seien. Er hörte mit Interesse zu und stellte dann plötzlich die Frage:

„Nun, und ich ähnele auch irgend einem dieser Herren?“

„Sie ...“ erwiderte ich schüchtern, „Sie sind der Monsieur Batmanow von Pissemskij.“

Awdjew drehte sich überrascht auf seinem Sitz herum und rief mit Erstaunen:

„Bat-ma-now? Seltsam. Wo ist denn da die Ähnlichkeit?“ Ich wurde verlegen. Was sollte ich in der Tat antworten: im Skandalmachen und in witzigen Wortspielen? Awdjew gewahrte meine Verwirrung und lachte.

„Na, und dieser Batmanow gefällt Ihnen?“

„Ja.“

Er langte das Buch vom Tisch, schlug es auf und fragte:

„Ja, haben Sie es denn zu Ende gelesen?“

„Gewiß. Der Schluß freilich ... Ich finde, die Sache konnte auch anders ausgehen.“

„Sie meinen? O nein! Hier liegt eben die künstlerische Wahrheit. „Anders“ wäre doch wieder im Grunde dasselbe.“

Er las die Schlußszene samt dem ironischen Ausruf über den russischen Weltschmerz und sagte:

„Begreife nicht, was Ihnen da gefallen hat. Ein adliger Taugenichts, der sich à la Petschorin drapiert 2) – nichts mehr. Die Petschorins aber, Freundchen, haben längst ausgespielt. Aus der literarischen Garde sind sie bereits zu den Invaliden degradiert, und heute kann höchstens noch ein Leutnant auf Provinzbackfische mit seinem Weltschmerz à la Petschorin Eindruck machen. Der Schluß, der hat Ihnen mißfallen ... Das beweist bloß, daß auch ihr, ihr Herren Gymnasiasten, noch ein wenig ... Backfischgeschmack habt“ ...

Ich war total verwirrt und wahrscheinlich über und über rot geworden. Awdjew bemerkte dies und brach plötzlich, mit zurückgebogenem Kopf, in sein perlendes Lachen aus.

„Ach so! Jetzt verstehe ich,“ sagte er. „Nun, nun, macht nichts, Sie brauchen nicht rot zu werden! Das ist doch aber eine ganz oberflächliche Ähnlichkeit. Batmanow ist doch vor allem ein gutsituiertes Herrchen, das sich vor Nichtstun langweilt, ich aber bin ein Deklassierter und ein Mann der Arbeit. Und, soviel ich weiß ...“

Er blickte mich wieder an und setzte ernst hinzu:

„Einer, der seine Arbeit nicht übel versteht.“

Er schaukelte sich darauf eine Weile schweigend in seinem Stuhl, den Blick vor sich hin gerichtet. Dann streckte er wieder die Hand nach dem Bücherregal.

„Kennen Sie den ‚Stillen Winkel‘?“ fragte er mich.

„Ja, ich kenne ihn.“

Er schlug den Band Turgenjew auf, blätterte ein wenig darin und las dann laut:

Maria Pawlowna blickte ihn wieder an.

„Sie versichern immer, daß Sie auf mich hören.“

„Freilich höre ich auf Sie.“

„Sie hören auf mich? Nun, wie oft habe ich sie schon gebeten ... das Weintrinken sein zu lassen.“

Er lachte.

„Ach, Mascha, Mascha! Nun fangen auch Sie dasselbe Lied an ... Aber erstens bin ich doch kein eigentlicher Trunkenbold, und zweitens, wissen Sie, wozu ich trinke? Schauen Sie sich mal diese Schwalbe an. Sehen Sie, wie frei sie ihr winziges Körperchen regiert? Wohin sie will, stürzt sie sich hin ... Jetzt schießt sie in die Höhe, jetzt stürzt sie in die Tiefe, jetzt jauchzt sie sogar schrill vor Lust, hören sie? Da haben Sie's, wozu ich trinke, Mascha ... um dasselbe auszukosten, was diese Schwalbe empfindet ... Frei in der Luft schweben, soviel ich Luft habe, fliegen, wohin mir einfällt, daß heiß' ich leben ...“

„Das ist Weretjew!“ rief ich freudig. Dieser Weretjew gefiel mir nämlich auch ausnehmend und erinnerte mich auch zum Teil an Awdjew: rezitierte er doch vortrefflich Gedichte, sagte dem widerwärtigen Astachow bittere Wahrheiten ins Gesicht und – verstand es so schön, „frei in der Luft zu schweben, wie eine Schwalbe“. Diesmal fiel mir aber sofort der Schluß ein, und ich fügte etwas gedrückt hinzu:

„Er nimmt aber auch ein übles Ende ...“

„Sogar ein sehr übles. Schwalbe hin, Schwalbe her, und zum Schluß ... ein Herr in abgetragenem spanischem Mantel, mit trüben Augen und gefärbtem Schnurrbart ... wissen sie was: trinken sie niemals, und vor allem – fangen sie gar nicht erst an. weder aus Renommisterei, noch zu dem Zwecke, um wie eine Schwalbe zu leben. Werden sie auch diesen meinen Rat beherzigen, wenn sie Student geworden sind?“

„Ja, Benjamin Wassiljewitsch, ich werde ihn beherzigen,“ antwortete ich erregt. Dann erhob ich den Blick auf ihn, konnte mich aber nicht entschließen, ihm eine Frage zu stellen, die mir auf der Zunge schwebte. Er verstand mich wohl, streckte sich im Stuhl aus, erhob sich dann rasch und ging durchs Zimmer.

„Ja,“ sagte er, „das mit der ‚Schwalbe‘ ist bei Turgenjew merkwürdig richtig beobachtet; aber der gefärbte Schnurrbart... brr... Und überhaupt ist das eine widerwärtige Sache. Solche Neigungen muß man rechtzeitig zu bändigen wissen“ ...

Das war eine indirekte Antwort auf meine unausgesprochene Frage. Er wandelte noch einmal durchs Zimmer, setzte sich dann hin und fing an, sich wieder zu schaukeln. Ich aber entschloß mich, ermuntert, noch eine Frage zu stellen:

„Ist es wahr ... Sie heiraten?“

Er blickte mich lächelnd von der Seite an und erwiderte durch eine Frage:

„Wen?“

„Die L...“

„Na, und Sie möchten mir das wünschen?“

„Ja, sehr ...“

„Aufrichtig?“

„Aufrichtig,“ antwortete ich mit Überzeugung.

Er brach in ein Lachen aus, ganz wie ein Kind, und sagte dann:

„Bin sehr gerührt... allein... Nun hören Sie aber auf zu erröten! Nein, ich heirate nicht...“

Ich war in der Tat wohl bis an die Haarwurzel rot geworden. In der Stadt hatte man angefangen, als Awdjews vermutliche Braut das nämliche Mädchen anzusprechen, in das unter anderen auch ich verliebt war. Diese Kunde verwundete zuerst schmerzlich mein Herz, dann söhnte ich mich mit dem Gedanken aus, daß sie Awdjews Frau werden und er dann aufhören würde zu trinken. Meine ziemlich lebhafte Phantasie malte mir auf diesem Hintergrund mehr oder minder hübsche Bilder vor. Nach vielen Jahren besuche ich, als einsamer bejahrter Mann – denn ich bleibe meinem Gefühl natürlich treu – nach mannigfachen Stürmen und Irrgängen des Lebens, ihr glückliches Familienheim. Erst dann erfährt er das Geheimnis meiner Liebe und meiner Entsagung, erfährt, ein wie großes Opfer ihm ein ihn tief verehrender Schüler gebracht hatte ... Das perlende Lachen Awdjews verscheuchte meine Phantasiebilder. Diesmal errötete ich, weil ich ihre Binderei selbst empfand und ... weil ich plötzlich einsah, daß meine Großmut von etwas billiger Sorte war, sintemal meine Aussichten auch ohne Awdjew ziemlich geringe waren ... Die Realität verscheuchte das sentimental-phantastische Seelendrama...

Ich nahm seit jener Zeit bei Awdjew einen russischen Schriftsteller nach dem andern und verschlang sie wie im Rausch, häufig war es mir, als enthülle und beleuchte all dies im Grunde nur Gedanken und Bilder, die sich schon längst in undeutlichen Umrissen auf dem Grunde meines Bewußtseins drängten. Jede Unterrichtsstunde der Literaturgeschichte war für mich ein heller Fleck auf dem trüben Hintergrund der tödlichen Schulroutine, eine Erholung, ein Labsal, ein Strauß frischer leuchtendfarbiger Eindrücke. Manchmal erwachte ich schon in der Frühe mit einer unklaren Empfindung der Freude in der Brust. Ach so, heute ist ja Literaturgeschichte! Über den ganzen pädagogischen Chor mit den mittleren Registern und den maniakalischen schreien einzelner Automaten siegte jetzt die wohlklingende stimme des jungen Professors ob, so daß auch der Chor im ganzen gleichsam einen neuen bedeutsamen Ausdruck gewann.

Einmal begegnete ich Awdjew abends auf der Straße. Er ging Arm in Arm mit einem Jüngling von südrussischem Typus, mit schwarzem lockigen Haar, der etwas älter war als ich. Ich hatte ihn schon einmal gesehen. Das war Gawrilo Kajdanow, nachmals mein Freund, der eben erst in unsere Stadt gekommen war, um in eine der oberen Klassen des Gymnasiums zu treten. Er war ein Verwandter unseres Professors Tyß und benahm sich den Professoren gegenüber ganz ungezwungen. Das ließ ihn in meinen Augen als eine Art höheren Wesens erscheinen im Vergleich mit uns armen Pennälern in peinlich zugeknöpften Uniformröcken, die wir in ewiger Angst vor der Obrigkeit lebten. Jetzt, als wir uns unter der einsamen Laterne an der Straßenecke begegneten, hielt mich Awdjew an und sagte:

„Ach, das sind Sie ja! Wollen Sie zu mir zum Tee? Bei dieser Gelegenheit lassen Sie sich hier meinen Kajdanoff vorstellen: Ihr künftiger College, dafern er nicht bei der Prüfung mit Glanz durchfällt, was jedoch sehr wahrscheinlich. Wir wollen Ihnen ein ukrainisches Lied vorsingen. Oder mögen Sie vielleicht unsere Volkslieder gar nicht?“ setzte er in ukrainischer Mundart hinzu. „Doch? Nun dann – vorwärts, meine Herren!“

Der ganze Abend verging uns damals im Singen. Awdjew besaß einen tiefen schönen Bariton. Kajdanoff begleitete ihn mit einer nicht umfangreichen, aber angenehmen Baßstimme. Ich saß am offenen Fenster und hörte zu. Vom Fenster aus war der Teich zu sehen, die Insel, die Pappeln und das Schloß. Über dem fernen Schilfrohr stieg im Nebel, fast noch lichtlos, ein verträumter roter Vollmond auf und das kleine Zimmer, das in weiches Lampenlicht getaucht war, vibrierte von der süßen Schwermut des ukrainischen Volksliedes. Niemals hat auf mich später Gesang so tief gewirkt, wie an jenem Abend. Nach zwei drei bekannten Liedern sagte Awdjew:

„Nun, Kajdanow, jetzt wollen wir mal das neue anstimmen ...“

Er gab den Ton an und begann

 

„Das Lied vom armen Knecht.“

 

Der Knecht, der plagt sich spät und früh

Und bringt den Reichtum ein,

Sein Herr, der zecht und schlemmt vergnügt,

Lebt in den Tag hinein.

Hü! Hü!

Mit Lasten tief durch Schluchten ziehn,

Mit Ochsen hoch auf Bergeshöh' ...

Wie bitter ist das Leben doch

In feindlich-böser Menschen Näh' ...

 

Das Lied als Kunstform hat zweifellos seine eigentümlichen Farben und Wirkungsmittel. Es braucht nur im Mittelpunkt ein deutliches Bild zu enthalten, damit es aus den nebligen Tiefen der Einbildung, aus der endlosen Ferne des Unbekannten und Unerkannten in der Natur und im Leben ein starkes Echo in unserer Brust weckt, das den angegebenen Ton nachzittert, bald hell erklingt, bald leise schluchzt, bald still verweht. Ich erinnere mich lebhaft, wie ich an jenem Abend in den ersterbenden Noten der tiefen Stimme Awdjews, wenn ich die Augen schloß oder auf das undeutlich schimmernde Schilfrohr am Teichufer draußen richtete, die ukrainische Steppe vor mir lebendig zu sehen meinte, mit ihrer träumerischen Beleuchtung, mit dem hohen im Winde sich sanft wiegenden Gras, mit den schweigsamen steilen Schluchten. Die gedämpfte Baßstimme Kajdanoffs schmiegte sich an den hellen Bariton, wie sich die dichten Nachtschatten an jene Schluchten und Täler schmiegen ... Und inmitten dieser Steppe sah ich vor mir den armen Knecht stehen, der sich ratlos umschaut und einmal übers andere Hei-hei! ruft, – ob in Verzweiflung über seine Ochsen, die sich in der Steppe verlaufen haben oder über sein einsames bitteres los ...

Dieses Lied hat mich damals stärker gepackt als alle anderen. Awdjew hatte in mir freilich durch seine Vorlesungen wie durch seine Lieder aufs neue die ukrainische Romantik geweckt, und ich fühlte mich abermals in der Gewalt jener poetischen Ferne der Steppen und der Zeiten.

 

Ihr Hetmans, ihr Hetmans!

Könnt ihr auferstehen und Tschigirin sehen,

Das ihr einst erbaut, verschanzt,

wo ihr einst geherrscht im Glanz ...

Und nach diesem traurigen Seufzer eine Reihe Bilder:

Die Marktplätze, wo das Heer

Einst wie rotes Meer

wogte vor dem Hetmansstabe ...

Auf dem rabenschwarzen Rosse

winkt der Hetman mit dem Stabe,

Da erbraust das Meer ...

Die Trompeten schmettern hell

Und die Glocken läuten schnell,

Dumpf erdröhnen die Kanonen,

Senkt euch, Stäbe, senkt euch, Fahnen,

Deckt den Hetman zu ...

 

Ich trauerte oft, daß all dies vorbei sei, daß man all dem auf dieser langweiligen Welt nicht mehr begegnen könne:

 

Wo bist du hin, Kosakenherrlichkeit,

verändert ist der Zeiten Lauf,

Die alten Hetmans ruhn im Grab,

Sie stehen nicht mehr auf.

Verschwunden des Kosaken Zier,

Das rote Schupan-Kleid,

Es leuchtet nicht mehr stolz wie einst

In der Ukraine weit und breit ...

 

Jetzt unter der Einwirkung des Gesanges Awdjews und Gawrilos hätte diese ukrainisch-nationale Stimmung anscheinend noch stärker in mir hervorklingen müssen. Mein ... sie kam im Grunde genommen nicht auf und zwar deshalb, weil dieselbe Hand, die mir jene gespenstige Welt der ukrainischen Romantik erschloß, noch kräftiger und breiter vor mir das Fenster der eigenen russischen Literatur aufgerissen hatte, aus der mir eine frische Brise einfacher klarer Bilder und Gedanken entgegenwehte. Ohne daß ich mir dessen bewußt war, spielte sich damals in meiner Seele ein ganz elementarer Kampf zweier verschiedener Strömungen ab: der romantisch-nationalistischen und der realistisch-sozialen. Und jetzt, als mich Awdjew fragte, ob mir das Lied „vom armen Knecht“ gefallen hatte, sagte ich, daß es mir besser als alle anderen gefalle. Auf diese Frage, weshalb denn besser als alle, wurde ich um eine Antwort verlegen.

„Weil es ... an Nekrassoff erinnert ...“ Und ich errötete wieder, da ich selbst fühlte, daß eine Ähnlichkeit gar nicht vorhanden war, wenngleich in meiner Erklärung doch irgend ein wahrer Kern lag.

„Sie wollen wohl sagen, daß auch hier nicht von der Vergangenheit, sondern von der Gegenwart die Rede ist?“ half mir Awdjew, „daß hier ein Unecht und ein Ausbeuter geschildert sind, wie sie heute leben? solche Motive finden sie bei Schewtschenko auch ...“

Und er las uns einige Fragmente aus dem ukrainischen Nationaldichter vor. Ich gab ihm damals recht, in der Tiefe meines Bewußtseins regte sich dennoch ein Zweifel. Gewiß gab es solche sozialen Motive auch bei Schewtschenko, man konnte sogar direkte Verwünschungen an die Adresse jener dekorativen romantischen Vergangenheit bei ihm finden, die er sonst so farbenprächtig schilderte

 

Warschauer Unrat sind sie nur,

Die Hetmans, die Erlauchten –

 

Der Grundton der ganzen Poesie Schewtschenkos war aber doch die tiefe Trauer um jene Vergangenheit, eine Trauer, die sich in eine vage Träumerei über etwas Unerreichbares und Verworrenes verlor, wie das Raunen des Steppenwindes über einem alten Kosakengrabe.

So klar kommt mir der Gegensatz natürlich nur jetzt zum Bewußtsein. Damals lebten vielmehr die beiden Stimmungen in meiner Seele noch friedlich nebeneinander, nur daß die eine immer stärker und lauter hervorklang. Um jene Zeit war ich überhaupt vollkommen im Banne der russischen Literatur, und ich konnte manchmal vor zwei, drei willigen Zuhörern – selbst mit einem war ich schon zufrieden – stundenlang Nekrassoff, Nikitin, Turgenjew oder die Lustspiele Ostrowskijs vorlesen. Eines Sonntags lockte ich einen jüdischen Schulkameraden, Simcha, zu mir. Er war ein Junge mit künstlerischen Neigungen, und ich hörte ihn gern auf der Geige spielen. Meinerseits versetzte ich ihm einen Vortrag aus den „Hajdamaken“ von Schewtschenko. Ich las diesmal nicht übel, meine Stimme war biegsam, tief und ausdrucksvoll geworden. Allein bald fühlte ich, ohne auf meinen Zuhörer zu blicken, daß jenes lebendige Band, das manchmal zwischen dem Vorlesenden und dem Zuhörer vorhanden ist, zerrissen war und sich nicht wieder anknüpfen wollte. Ich hörte auf und blickte in das sympathische Gesicht meines Freundes und begriff: ich las ja einem Juden vor, wie der Held des Poems, Halajda, bei dem Blutbad in der Lißjanka ruft: „her mit Polackeh, her mit Juden! Noch mehr von der Sorte!...“ Ich las ihm vor, wie Hajdamaken das Blut „jüdischer Weibchen“ ins Wasser fließen ließen usw. Das war freilich nur eine „Geschichte“, meinem Freunde tat aber diese poetische „Geschichte“ weh. Schließlich trat hie und da aus dem schönen Übel, in den die geniale Hand des ukrainischen Dichters die erschütternden Bilder eines unmenschlichen Kampfes eingestreut hatte, ein Etwas hervor, das auch mich persönlich verletzte. Gonta, der früher in dem Schloß von Uman als Hauptmann der Registerkosaken gedient hatte, war mit einer Polin verheiratet, die ihm zwei Kinder gebar. Als nachmals die Hajdamaken unter der Führung desselben Gonta das Schloß erstürmten, führte ihm der dortige Jesuitenpater seine katholisch aufgezogenen Kinder zu. Gonta ergriff darauf seine beiden Buben, trug sie fort und – schlachtete sie „mit geweihtem Messer“ eigenhändig ab. Seine Leute begruben indes bei lebendigem Leibe die Schüler desselben katholischen Seminars, in dem auch Gontas Knaben Unterricht genossen hatten.

In einem Buche Dobroluboffs, das mir Awdjew gegeben hatte, las ich ein begeistertes Urteil über dieses Poem des ukrainischen Dichters. Es hieß da, Schewtschenko, ein Kind der Ukraine und selber Nachkomme der Hajdamaken, gebe hier die Stimmung seines Volkes mit vollendeter Objektivität und tiefem Verständnis wieder. Ich nahm damals dies Urteil an, dennoch regte sich bei mir tief im Innern irgend ein leiser Widerspruch. In dem Poem wird über das Schicksal der Mutter jener abgeschlachteten Kinder nichts erwähnt. Nur soviel lesen wir, daß Gonta ihr nachruft:

 

Fluch der Mutter-Katholikin,

Daß sie euch zur Welt gebracht,

Daß sie euch, noch eh' es tagte,

Nicht hat selber umgebracht.

 

Aber, dachte ich bei mir, er hat sie ja, wohlwissend, daß sie katholisch sei, zur Frau genommen, genau so wie mein Vater meine Mutter geheiratet hat ... Und bei diesem Gedanken wurde es mir unmöglich, in die bittere Klage des Dichters einzustimmen:

 

Heut wird sein leiblich Kind

Kein Vater schlachten mehr

Um Kameraden-Treu' und Ruhm,

Um der Ukraine Ehr' ...

 

Diese vier Zeilen sind mir tief in der Seele haften geblieben. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil der Einfluß der nationalistischen Romantik in meinem Innern bereits einer anderen Strömung zu weichen begann, die meiner Natur besser entsprach.

Einmal las uns Awdjew, um bei uns Interesse für Dobrolubow zu wecken, dessen „Betrachtungen eines Gymnasiasten“ vor. Ich vernahm plötzlich zu meiner Überraschung das mir längst wohlbekannte Gedicht, das wir Pennäler einst mit solcher Begeisterung einer vom anderen in unsere Albums abschrieben ... Dies war also der unbekannte Verfasser! Er war es also, der mich und meine Schulkameraden, einen Jankiewitsch, einen Kryschtanowitsch, einen Olschanski so lebendig zu schildern verstand. Was in uns heranwachsender Jugend vorging, was uns im Innersten bewegte und uns wehetat, das alles verstand die damalige russische Literatur klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen, und sie begleitete sodann jeden weiteren schritt unserer Lebensbahn.

Dies war es, was zwischen ihr und uns von Anbeginn jenes starke unzerreißbare Band geknüpft hat. Dobrolubows Aufsätze, Nekrassows Gedichte, Turgenjews Erzählungen atmeten den Hauch lebendigster Wirklichkeit, die uns unwiderstehlich packte. Die Schewtschenko'schen Kosaken und Hajdamaken hingegen, seine Dorfburschen und Mädchen blieben für mich wenigstens eine poetische Abstraktion. Auch den Nekrassow'schen Bauer hatte ich ja nie gesehen gehabt, und doch fühlte ich ihn lebendiger. Bei Nekrassow blickte eben durch die Bilder aus dem Volksleben stets der russische Intellektuelle mit seinen Gewissensqualen und seinem Herzensdrang hervor, richtiger: mit meinen Gewissensqualen und meinem Herzensdrang...

Diese soziale Note in der damaligen schönen Literatur, dieser ihr besonderer Doppelklang eroberte meine Seele von dreierlei nationaler Abstammung. Ich fand endlich meine geistige Heimat: es war dies vor allem die russische Literatur. 3)

Einmal kam Awdjew in die Klasse mit ernstem und unzufriedenem Gesicht. „Es werden von uns die Semesteraufsätze zur Prüfung durch die Bezirksdirektion eingefordert, sagte er mit besonderer Betonung. Danach soll nicht nur über Ihren Stil, sondern auch über Ihre Denkweise geurteilt werden. Ich möchte Sie daran erinnern, daß unser Schulprogramm mit Puschkin schließt. Alles, was ich Ihnen aus Lermontow, Turgenjew und namentlich aus Nekrassow vorlas, von Schewtschenko garnicht zu sprechen, gehört nicht zum Programm. Jetzt fahren wir im Unterricht fort: ..“

Nichts mehr sagte er, und wir fragten nicht. Er las uns nach wie vor aus neuen Schriftstellern vor, wir begriffen aber, daß irgend jemand uns all das zu entreißen trachte, was soviel neue Empfindungen und Gedanken in uns weckte, daß es irgend jemandem daran gelegen sei, das Fenster zu schließen, durch das in die muffige Schulatmosphäre soviel Licht und Luft hereinströmte.

„Nun, ich werde Sie wohl bald verlassen müssen,“ sagte mir bald darauf Awdjew mit weicher Trauer, als ich ihn besuchte.

„Warum?“ fragte ich beklommen.

„Das wäre lang zu erzählen, und es verlohnt sich auch kaum,“ entgegnete er. „Kurz gesagt: ich passe hier nicht in den Kram...“

Wir hatten um jene Zeit einen neuen Direktor bekommen, denselben Dolgonogow, von dem ich schon einmal gesprochen habe. Von dem überlebensgroßen Inspektor bis zum Pedell Ditjatkiewitsch herunter bekamen alle sofort eine feste Hand über sich zu fühlen. Dolgonogow wurde von allen gefürchtet und – besonders nach dem Zwischenfall mit dem General Bösack – auch geachtet, niemand kannte ihn aber eigentlich näher. Uns Schülern erschien er schon durch seine amtliche Stellung gleichsam stets nur in großer Entfernung.

Es war leicht vorauszusehen, daß Awdjew mit diesem unbeugsamen Bureaukraten keinen leichten Stand haben würde. Dabei änderte er jedoch seine Haltung nicht im geringsten. Nach wie vor las er uns in den Unterrichtsstunden die modernste russische Literatur vor, nach wie vor empfing er uns zu ganzen Haufen in seinem Heim, und nach wie vor zirkulierten in der Stadt von Zeit zu Zeit Geschichten über seine Streiche ...

Ich fühlte auch ohne nähere Erklärung Awdjews heraus, worum es sich handelte, und die aufrechte Gestalt Dolgonogows wurde mir von nun an unangenehm. Einmal, als ich ihm auf der Holzbrücke begegnete, trat ich zur Seite, grüßte aber mit einiger Verspätung und Lässigkeit. Er blickte sich nach mir um, ging jedoch, als er sah, daß ich immerhin gegrüßt hatte, sofort seinen festen gemessenen Schritt weiter. Er war nicht kleinlich und beachtete keine Nüancen.

Bald darauf kam in unsere Stadt der Kijewer Schulkurator Antonowitsch auf Inspektion. Das war ein bescheidener alter Herr, in der Uniform eines Militärs a. D., einfach und nett in der Haltung. Er war ohne jeden offiziellen Pomp in der Stadt angelangt, in die Schule kam er zu Fuß, mit dem Glockenschlag, zusammen mit den Lehrern. In der Klasse stellte er sich auch jedesmal gleich zu Beginn des Unterrichts ein und blieb ruhig bis zum Schluß der Stunde sitzen, so daß man seine Anwesenheit beinahe vergaß. Es wurde erzählt, dieser alte Herr wäre einst wegen Beteiligung an einer politischen Affäre mit Kostomarow und Schewtschenko zum Gemeinen degradiert gewesen und erst unter Alexander II. wieder in die Höhe gekommen.

Die Unterrichtsmethode Awdjews hatte den Kurator sehr befriedigt. Während seiner Inspektion in unserer Stadt, die mehrere Tage dauerte, verbreitete sich die Nachricht, daß er in den Schulbezirk im Kaukasus versetzt werden würde.

Als ich an einem jener Tage nach Schluß des Unterrichts mit meinem Bündel Bücher in der Hand die Gymnasiumstraße entlang ging, holte mich Awdjew ein.

„Was ist denn das für ein Watschelgang, Verehrtester?“ ... rief er lachend, „halten Sie sich doch mal ein bißchen strammer, ja? Aber was ich noch Betrübenderes sagen wollte: warum kommen Sie denn eigentlich in der Mathematik nicht recht vorwärts?“

„Ich bin unbegabt, Benjamin Wassiljewitsch.“

„Ach Unsinn. Niemand will von Ihnen mathematische Offenbarungen, für das bißchen, was das Schulprogramm verlangt, ist jeder begabt genug. Ohne mathematische Disziplin gibt es eben keine Bildung.“

In diesem Augenblick trat aus dem Hause des Direktors auf dem anderen Trottoir der Kurator Antonowitsch. Er verabschiedete sich von dem ihn bis zum Ausgang geleitenden Direktor, kam quer auf unsere Seite herüber und ging einige Schritte vor uns weiter.

„Sieh da,“ sagte Awdjew leise, „meine Sache wird gleich entschieden werden.“ Und mit einem freundlichen Kopfnicken sich verabschiedend, holte er rasch den alten Herrn ein, lüftete den Hut und sagte mit seiner hellen angenehmen Stimme:

„Ich hätte eine große Bitte, Exzellenz. Awdjew, Professor der Literaturgeschichte ...“

„Ich weiß,“ sagte der alte General mit einem unbestimmten Ausdruck in der Stimme. „Was für eine Bitte?“

„Man sagt, Sie übersiedeln nach dem Kaukasus. Falls das stimmt ... nehmen Sie mich doch mit.“

„Und weshalb dies?“

Awdjew lächelte.

„Da Sie mich wiedererkannt haben,“ sagte er, „gestatten Sie mir zu glauben, daß Ihnen auch die Gründe nicht unbekannt sein dürften, weshalb ich hier ... nicht ganz hereinpasse.“

Der alte Herr blieb einen Augenblick stehen und blickte dem jungen Lehrer, der sich so freimütig an ihn wendete, ins Gesicht. Dann setzte er seinen Gang fort, und ich hörte noch, wie er mit gewöhnlicher, ruhiger Stimme sagte:

„Nun wohl. Wir wollen sehen.“

Es wurde mir peinlich zu lauschen, und ich blieb absichtlich zurück. Als aber am Ende der Straße Antonowitsch grüßte und nach rechts abbog, holte ich rasch Awdjew ein, der lustig vor sich hinpfiff.

„Also die Sache ist abgemacht,“ sagte er.

„Ich wußte, daß man mit ihm menschlich reden kann. In Tiflis, heißt es, kommen die Burschen mit einem Dolch am Gürtel in die Schule. Um so weniger dürfte man dort an Kleinigkeiten herumnörgeln. Nun, bewahren sie mir ein freundliches Andenken!“

„Ist denn das ... so bald?“ fragte ich. „Ja, etwa in drei Wochen ...“

Drei Wochen später reiste er ab. In der ersten Zeit war mir, als sei es in der Schule plötzlich dunkel geworden ... In der Erinnerung an unser Gespräch auf der Straße holte ich, so gut ich konnte, das Versäumte in der Mathematik nach und ... suchte mir einen strammen Gang anzugewöhnen.

 

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1) schlechteste Note in Rußland. D. Ü. 

2) So heißt die Hauptperson des bekannten Romans von Lermontow: »Held unserer Tage«, der in Rußland eine ganze Generation tragisch-pessimistischer Poseure unter der Jugend der höheren Gesellschaft zur Welt gebracht hatte. D. Ü. 

3) Dieser Teil der Geschichte meines Zeitgenossen hat in einigen Organen der ukrainischen Presse lebhaften Widerspruch geweckt. Ich gestatte mir daran zu erinnern, daß ich keinen kritischen Artikel und keine literarische Abhandlung schreibe, sondern nur den Eindruck wiederzugeben versuche, den die populärsten Werte Schewtschenkos auf die Jugend meiner Generation machten. Ob ich diesen Eindruck wahrheitsgetreu wiedergebe? Ich glaube, ja. Wir lasen den großen ukrainischen Nationaldichter gewiß alle mit Verehrung und Entzücken. Und doch ... Man braucht nur an die Hunderte von Namen aus der ukrainischen Jugend zu denken, die mit der sozialistischen, von allem Nationalismus freien Bewegung der 70er Jahre in Rußland verknüpft sind, um einzusehen, welcher Idee die größere Macht über die Geister innewohnte. Der Bewegung »in der Richtung des geringsten Widerstandes« – so bezeichnet ein ukrainischer Kritiker den russischen Sozialismus – sind Hunderte junger Leute aus der Ukraine begeistert in den Kerker, nach Sibirien und sogar – wie z. B. der junge Lisogub – auf den Galgen gefolgt ... W. K.