BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Zweiter Band

Auf dem Lande

 

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Die Wohlgeborenen von Harnyj Lug.

 

Für einen Stadtjungen heißt plattes Land soviel wie Schulferien.

Als wir von Schitomir nach Rowno übersiedelten, stellte es sich heraus, daß das Landgut des Onkel Hauptmann, Harnyj Lug, nur 50 oder 60 Werst von unserem neuen Wohnort entfernt war. Gemäß einer Übereinkunft beider Familien sollte Onkel Hauptmanns Sohn Sanja bei uns in Rowno während des ganzen Schuljahres wohnen, dafür gingen wir alle zu Onkel aufs Land für die Sommerferien. Besagter Sanja war ein hochaufgeschossener schmächtiger Knabe mit dem Benehmen eines Dorfjungen, was ihn zur Zielscheibe häufiger Spötteleien machte, mit kindlich reinem Herzen und etwas schwachem Kopf. Wir hatten ihn alle lieb, setzten ihm aber nichtsdestoweniger wegen seiner bäurischen Naivität mitunter arg zu. Was ihn übrigens nicht hinderte, sich diese Naivität sein Leben lang unversehrt zu bewahren, – mitsamt noch anderen Absonderlichkeiten: es war, als ob sich die schrillen Dissonanzen des Lebens auf dem Lande unbewußt der zarten empfänglichen Seele des Knaben für immer eingeprägt hätten.

Das Gut des Onkels war ein eigenartiges, eines von jenen, wo die Leibeigenschaft schon vor ihrer offiziellen Aufhebung von selbst zur augenscheinlichen Absurdität geworden war. Der verstorbene Danilewski hat in einer seiner Skizzen die Verhältnisse in einem Dorfe geschildert, das den bezeichnenden Namen „Stopanowka“ 1) trug. So war das Dorf getauft, weil es ein ganzes Hundert „Herrschaften“ beherbergte, – fast ebensoviel als Leibeigene. Solche Dörfer mag es wohl gegen das Ende der Periode der Leibeigenschaft in Rußland nicht wenige gegeben haben. Der kleine Landadel vermehrte sich, kam herunter, verlor allmählich den adeligen Anstrich und brachte immer mehr Schmarotzerexistenzen, Besitzer von einer oder zwei leibeigenen „Seelen“, hervor.

Das Dorf Harnyj Lug war ein klassisches Nest dieses entarteten Krautjunkertums. Schon zur Zeit der einleitenden Maßnahmen zur Aufhebung der Leibeigenschaft hatte es dort ungefähr 60 Bauernhöfe und dazu an die zwei Dutzend „Herrschaften“ gegeben, die sich in den Besitz jener teilten. Dem Onkel Hauptmann allein gehörte aber etwa ein Drittel der gesamten Bauernschaft des Ortes.

Wie diese merkwürdige „soziale Struktur“ entstanden war, weiß ich nicht zu erklären. Höchstwahrscheinlich war Harnyj Lug in den Zeiten der polnischen Unabhängigkeit eines jener Nester des kleinen, von Gnaden irgendeines Magnaten lebenden Krautjunkertums gewesen, das in dem berühmten Epos des polnischen Nationaldichters Mizkiewitsch: „Pan Taddäus“ so prächtig geschildert ist. Im Bereich des Gutsbezirks meines Onkels ragte auf einem kleinen Hügel am Teich ein uraltes dunkles Gebäude mit spitzem Dach, von seltsamem Äußeren und rätselhafter Bestimmung. Um den Bau herum standen, als eine Art Ehrengarde, sieben Pyramidenpappeln mit verbrannten Wipfeln, und von weitem konnte man das Ganze für einen altertümlichen Wachtturm halten. In Wirklichkeit war es nur ein „Magazin“, d. h. ein Speicher. Im Erdgeschoß standen hier Fässer mit Kwas 2), Gurken und Sauerkohl. Im mittleren Stockwerk wurde Korn aufgespeichert. Oben gab es eine Wohnstube mit einem kleinen Balkon. Diesen zu betreten war uns Kindern, wegen der Absturzgefahr, verboten, wie auch das ganze ehrwürdige Gebäude mitunter in den Fugen krachte und einstürzen zu wollen schien. Onkel Hauptmann indes wollte es nicht wahr haben. War doch dieses „Magazin“, das, mit seinen Pappeln von weither sichtbar, im Dorfe eine zentrale beherrschende Lage einnahm, sein ganzer Stolz. Ringsherum, gleichsam unter den schützenden Fittichen des altertümlichen Bauwerks, kauerten strohbedeckte Hütten, Obstgärtchen, Ziehbrunnen. Hie und da ragten einzelne verstreute Pappeln, jede ein Zeichen des „herrschaftlichen“ Hauses. Selbst das ansehnlichste darunter, die Residenz meines Onkels, hatte ein Strohdach, die übrigen aber waren fast gar nicht mehr von den Bauernhütten zu unterscheiden.

Der Überlieferung zufolge war das „Magazin“ ein letzter Überrest eines einstigen reichen herrschaftlichen Gutshofes, der für das Krautjunkertum von Harnyj Lug den Mittelpunkt bildete. Der Hauptmann schätzte es gerade als ein Symbol seiner überragenden Stellung im Dorf. Als der größte Grundbesitzer am Orte hatte er, wiewohl ein Zugezogener, mit diesem ehrwürdigen Gebäude gleichsam die Vorherrschaft in Harnyj Lug übernommen. Der ehemalige Mittelpunkt indes war für immer dahingeschwunden und mit ihm auch jeder Sinn im Dasein des örtlichen Krautjunkertums. Onkel Hauptmann war, wie ich schon berichtet habe, ein vortrefflicher Erzähler, und er liebte manchmal an langen Winterabenden verschiedene Episoden aus der Vergangenheit seines Dorfes mit ihren merkwürdigen Sitten zum Besten zu geben. Die altpolnische adelige „Freiheit“, die sich völlig überlebt, Sinn und Inhalt verloren hatte, war hier zur reinen Karikatur geworden. So war das Dorf z. B. von alters her in zwei Parteien gespalten, die aus Gründen, auf die sich kein Mensch mehr besinnen konnte, fortfuhren, einander zu befehden, zu überfallen und gerichtlich zu verfolgen. Als Hauptobjekt dieses Kampfes galt das sogenannte „Propinationsrecht“, d. h. das Pachtrecht über die Schnapsschenke des Ortes. Jede der beiden Parteien nahm die einträgliche Gerechtsame für sich in Anspruch und jede stellte einen Kandidaten für das Pächteramt auf, den sie auch mit gepanzerter Faust unterstützte. Die Schenke glich zuzeiten einer regelrechten Festung. Die Herren Lochmanowitsch stellten Posten auf, um den von ihnen in der Schenke eingesetzten Juden Jankel zu verteidigen, wohingegen die Herren Bankiewitsch auf besagten Jankel Überfälle veranstalteten, um an seiner Statt ihren eigenen Leibjuden Moschek einzusetzen. In dunklen Nächten entbrannten manchmal blutige Schlachten. Die „Wohlgeborenen“ von hüben und drüben rückten an der Spitze ihrer Leibeigenen zum Sturm auf die Schenke aus: Schädel krachten alsdann unter homerischen Streichen, Hunde bellten, Frauen und Kinder zeterten und wehklagten ...

Geschah es, daß der Schnapsvorrat alle wurde, und es neuen aus der Stadt zu beschaffen galt, dann erfolgten die dramatischsten Episoden in der Ilias von Harnyj Lug. Der Jude Jankel zog mit dem leeren Faß, unter dem Schutze eines bewaffneten Konvojs, der Stadt entgegen. Die Hinfahrt war glücklich ausgeführt. Auf dem Rückweg aber wurde der Transport jedesmal auf der kleinen Brücke an der Schlucht tückisch aus dem Hinterhalt überfallen. An einer dieser Expeditionen war der Hauptmann, glaube ich, persönlich beteiligt, und er berichtete mit vieler Laune, wie mitten in der heißesten Schlacht die Bauern den Boden des heiß umstrittenen Fasses einschlugen. Beide Parteien stürzten sofort, ihre Feindschaft vergessend, hin, um das kostbare Naß in Mützen, Krüge, ja in Stiefel – wofern man mit solchen versehen war – aufzufangen. Der Morgen überraschte dann die Helden auf dem Waldrasen, wo sie, von kräftigem Schlummer übermannt, Freund und Feind durcheinander, friedlich lagerten. All dies gab natürlich neuen Grund zu gerichtlichen Klagen, zu Lokalterminen vor Gerichtsassessoren, die allein aus diesen ritterlichen Fehden Nutzen zogen.

Zu der Zeit, als es mir vergönnt war, mit Harnyj Lug Bekanntschaft zu machen, gehörte jenes heroische Zeitalter der Vergangenheit an. Die „Wohlgeborenen“ waren bereits vor der Bauernreform völlig auf den Hund gekommen. Es wurde z. B. erzählt, daß infolge irgendwelcher erblicher Verwickelungen zwei Krautjunker, die zwei leibliche Schwestern zu Frauen hatten, nur noch über einen einzigen Bauernhof ihr, dazu noch angefochtenes, Herrschaftsrecht ausübten. Am schlimmsten erging es dabei natürlich dem unglücklichen Objekt des Streites. Währenddem der endlose Kampf um die „Seele“ des armen Nikita vor den Gerichten in verschiedenen Instanzen ausgefochten wurde, erteilten ihm beide „Wohlgeborenen“ Befehle und forderten beide Gehorsam. Der unglückliche Bauer befand sich ewig unter dem Druck zweier Kräfte, die ihn nach entgegengesetzten Richtungen zerrten. Kein Wunder, daß die mittlere Linie ihn nach einer dritten Richtung schob: er hatte an einem Plätzchen in der Schenke Jankels Gefallen gefunden. Die Lage zwischen zwei Kriegführenden und einer neutralen Macht hatte bei Nikita diplomatische Talente entwickelt: er schloß manchmal ein Bündnis mit dem einen seiner „Wohlgeborenen“ und walkte gemeinsam mit ihm den anderen nach Noten durch. Dann schlug er sich auf die Gegenseite und prügelte zur Wiederherstellung des Gleichgewichts ebenso gewissenhaft seinen gestrigen Bundesgenossen durch. Vor Gerichten hatte er keine Angst, da er in beiden Fällen nur den Befehlen seiner Herren Folge leistete. Es kam freilich auch vor, daß beide „Wohlgeborenen“ sich ihres, wie man heute sagen würde, Klasseninteresses bewußt wurden und zeitweilig gegen Nikita ein Bündnis schlossen. Dann erging es dem Armen übel, wofern der freundliche Jankel ihm nicht rechtzeitig eine Zuflucht in seinem neutralen Reich zu sichern gewußt hatte.

Alles in allem hatte sich das Schicksal gegen den unseligen Bauern gar grausam verschworen. Einen nur, aber einen „richtigen“ Herrn zu haben wäre für ihn ein Glück gewesen. Er kam auch mehr als einmal zu meinem Onkel und bat, ihn, Nikita, käuflich ganz zu eigen erwerben zu wollen, wobei er versprach, für dreie zu schuften.

Er war auch ein tüchtiger Arbeiter, und Jankel hatte sich über ihn sicher nicht zu beklagen. Nichtsdestoweniger war es unmöglich, ihn käuflich zu erwerben, da es eben im Unklaren blieb, wer ihn eigentlich zu verkaufen das Recht hatte. Die Kaufsumme aber etwa unter sich zu verteilen, dazu wollten die streitenden „Parteien“ sich um nichts in der Welt verstehen: lieber hätten sie den Nikita selbst in zwei Hälften gehauen.

„Ja, bin ich denn schließlich gar nichts wert?“ rief der Ärmste in seiner Verzweiflung.

„Ich sage doch nichts gegen dich, du Bedauernswerter,“ pflegte ihm mein Onkel zu antworten. „Du bist ein tüchtiger Bauer, aber mit dir kriegt man die Gerichte auf den Hals. Nein, geh du lieber mit Gott ...“

Und Nikita ging – geradeaus in die Schenke, betrank sich und wurde zum Schrecken für seine beiden „Herren“. Der älteste unter den Schlachzizen von Harnyj Lug war Pan Pogorzelski, die lebendige Chronik des Ortes, ein Mann, der sich noch der Zeiten der polnischen Unabhängigkeit erinnerte. Er hatte damals als „Ritter in voller Rüstung“ unter der Fahne eines Pan Cholewinski oder Pan Golembiowski – ich weiß es nicht mehr – gedient und war an der berühmten patriotischen Verschwörung zu Bar zur Rettung Polens beteiligt. Er war nunmehr zirka hundert Jahre alt.

Mir steigt bei dieser Erinnerung ein merkwürdiger Gedanke auf. Es vergeht kaum ein Jahr, ohne daß man in den Zeitungen liest, da oder dort sei ein Greis oder eine Greisin im Alter von 100, von 110 Jahren gestorben. Ja, vor acht oder zehn Jahren brachten die sibirischen Zeitungen, wie ich mich wohl entsinne, die Nachricht vom Tode eines Ansiedlers im Alter von 136 Jahren ... Wenn wir waldige Berghänge betrachten, so erscheint uns schon ein Berg mittlerer Höhe ungeheuer groß gemessen an den Bäumen: so zahllos sind die grünen Reihen, die sich den Abhang hinauf bis zum Gipfel aneinander drängen. Faßt man jedoch etwa nur hundertjährige Bäume ins Auge und verfolgt ihren Aufstieg, dann wird sich bald herausstellen, daß schon ein bis zwei Dutzend der Waldriesen ausreichen, um die ganze Berghöhe vom Fuße bis zum Gipfel zu messen.

Unzählige Menschengeschlechter haben, gleich dem Kleinholz an Bergabhängen, auf der Zeitstrecke der zwanzig Jahrhunderte einander abgelöst, seit der langschweifige Stern über der Höhle von Bethlehem geleuchtet hat, in der die Familie des Zimmermanns Joseph aus Nazareth Zuflucht suchte. Seitdem ist Judäa gefallen, das Römische Reich barst unter dem Ansturm zahlloser barbarischer Horden und ging unter, neue Reiche sind an seiner Statt entstanden, die gotische Finsternis des Mittelalters hielt Einzug mit ihren himmelwärts gerichteten Hymnen und dem Ächzen der Ketzer auf Erden; dann leuchtete unter den Trümmern wieder die Antike hervor; die Reformation rauschte vorüber; ganze Geschlechter wurden im Dreißigjährigen Krieg niedergemäht; wie eine lodernde Fackel flammte die große Revolution auf und breitete sich in der Feuersbrunst der Napoleonischen Kriege über Europa aus ... Und nun bedenke man, daß all dies Geschehen binnen weniger als 20 höchstbemessener Menschenleben stattgefunden hat!

Auf dieser ganzen Zeitstrecke fehlte es sicher nicht an 125jährigen Greisen, die als Augenzeugen einander die Chronik der Jahrhunderte hätten von Mund zu Mund überliefern können. Solcher Augenzeugen hätte es bis auf unsere Tage nicht mehr als zwanzig bedurft! ...

Eine solche altertümliche Eiche des Menschenwaldes lernte ich in Harnyj Lug in der Person Pan Pogorzelskis kennen, der schon als erwachsener Mensch in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts gelebt hatte. Wäre ich selbst dazumal gescheiter und wißbegieriger gewesen, ich könnte jetzt den Kindern des 20. Jahrhunderts nach Berichten eines Augenzeugen über den Fall Polens vor anderthalb Jahrhunderten erzählen. Leider interessierten mich damals derartige Fragen herzlich wenig.

Als ich einmal aus irgendeinem Anlaß in ein Seitengäßchen des Dorfes einbog, erblickte ich hinter dem Zaun im Gemüsegarten eine hohe aufrechte Gestalt mit völlig kahlem Schädel, der an den Schläfen von schneeweißen Haarlöckchen eingefaßt war. Dieser Kopf erinnerte merkwürdig an ein vertrocknetes Köpfchen des Mohns, an dem etwa zwei weiße Kronblättchen noch hängen geblieben wären. Ich zog im Vorbeigehen die Mütze. Der Greis betrachtete mich eine Weile mit seinen verblichenen, aber noch lebhaften Augen und fragte:

„Wem gehörst denn du, Büblein? Ich kann mich nicht entsinnen, deinesgleichen hier schon gesehen zu haben.“

Ich sagte, daß ich ein Neffe des Hauptmanns wäre, und wir kamen ins Gespräch.

Er stand hinter dem Zaun, groß und hager, lauter Knochen und Sehnen; am Leibe trug er eine altpolnische schwarze „Tschamarka“, die sehr abgetragen und voller Flecke war; ursprünglich war sie wohl durch eine Reihe kleiner Knöpfe verschließbar, doch fehlte jetzt von diesen die Hälfte, und durch die offene Jacke blickte der nackte Körper durch: der arme Schlucker besaß nämlich nur ein Hemd, und geschah es, daß sich eine gute Seele seiner erbarmte und es zum Waschen nahm, dann mußte sich der Alte inzwischen ohne Leibwäsche behelfen.

„Aha, der Hauptmann, ich weiß, ich weiß ... Er hat bei dem und dem zwanzig Seelen gekauft ... Homo novus ... Die Früheren sind alle fort, alles ist hin. Denn, siehst du wohl, es waren früher hier, sagen wir, zwei Schlachzizen: Pan Bankiewitsch, Joseph mit Vornamen, und Pan Lochmanowitsch, Jakob mit Vornamen. Pan Bankiewitsch hatte drei Söhne und Pan Lochmanowitsch hatte gleichfalls drei Söhne. Das macht schon sechse zusammen. Dann noch die Töchter ... Einer hatte Joseph Bankiewitsch fünfzehn Höfe als Brautschatz nach Podolien mitgegeben. Diese hatten wiederum Kinder ... Bei Bankiewitschs waren Stach, Franzl, Fortunatus, Joseph“ ...

Er schüttelte wie aus dem Ärmel genealogische Verzweigungen, die ich hier natürlich nur sehr frei wiedergebe, dann kam er auf die alten Zeiten zu sprechen.

„Ach, ach! Ich sage dir, mein Junge, die volle Wahrheit, im freien Polen da gab es noch Männer, wenn z.B. das Husarenregiment zum Sturm vorrückte, dann hörte es sich, verstehst du, wie ein Gewitter an: die Husaren hatten nämlich am Rücken Flügel. Die Pferde sprengen los, der Wind rauscht in den Flügeln, sage ich dir, wie ein Orkan im Fichtenwalde – Jesus, Maria und Joseph!“ ...

Das Antlitz des alten Ritters übergoß eine flammende Röte bis zum kahlen Schädel hinauf. Die weißen Löckchen an den Schläfen erzitterten, und in den verblichenen Pupillen glomm ein Fünklein auf. Dann erlosch es ebenso plötzlich.

„Und heute! Ha, die ganze Welt steht heute auf dem Kopfe. Noch unlängst, so vor dreißig Jahren, da gab es in diesem selben Harnyj Lug eine richtige Schlachta. Die Bauernkanaille wurde in eiserner Zucht gehalten. Beim geringsten Anlaß – Himmel Herrgott! – gleich gab es Züchtigung, beinahe zu Tode wurde das Pack geprügelt. Offen gestanden: es tat einem zuweilen sogar leid, denn das war schon nicht mehr Christenart ... Und heutzutage!“

Er streckte seinen hageren Hals über den Zaun vor und flüsterte mir ins Ohr:

„Heutzutage gibt der Bauer einem waschechten Schlachziz Maulschellen, so wahr mir Gott helfe und die heilige Jungfrau. Und was geschieht danach? Gar nichts! ... Nun, was ist da zu reden: mit einem Wort, alles ist hin!“ ...

Um uns her herrschte vollkommene Stille; die Hitze brütete unbarmherzig. Im Gemüsegärtchen wiegten die Sonnenblumen leise ihre schweren Köpfe, Bienen umschwirrten sie mit fleißigem Summen. Auf den Latten des uralten Zaunes steckten hie und da, mit dem Boden hinauf, schwarze Kochtöpfe. Die steifen Maisblätter raschelten mit einem trockenen zischenden Laut ... Der Alte schien sich plötzlich in all diesen Dingen, als wären sie ganz fremd, mit naivem Staunen umzuschauen: was ist denn das alles? Wo sind die „beflügelten“ Husaren hin, wo Pan Cholewinski, wo seine Fahne, wo die alte Schlachta? ...

Um die Gestalt dieses Greises, der seine Zeit zu Grabe getragen hatte, lag ein Schimmer kindlicher, rührender Wehmut. Von den anderen Vertretern nobilitatis harnolusiensis ließ sich dasselbe kaum behaupten, wiewohl es auch in ihrer Mitte einige markante Gestalten gab.

Einmal wurde bei Onkel Hauptmann ein Diebstahl verübt: in der Nacht war jemand durch das Fenster des Erdgeschosses in das „Magazin“ eingebrochen und hatte ein Fäßchen Butter und ein Fäßchen Honig entführt. Als erster entdeckte das Vorgefallene Pan Lochmanowitsch.

Das war ein Mann von sehr malerischem Äußeren. Breitschultrig, mit schlanker Taille, gerader polnischer Nase und einem imposanten Vollbart, der schön seine ganze breite Brust bedeckte, mochte er das lebendige Abbild irgendeines kriegerischen Urahnen sein, der einst seine Ritterhaufen tapfer ins Feuer führte. Jetzt war das bloß eine leere Schale ohne Inhalt. Von allen Eigenschaften des altpolnischen Rittertums hatte dieser Nachkomme nur die majestätische Haltung, einen heroischen Appetit und eine noble Passion für leckere Gerichte geerbt. Mein Onkel pflegte von ihm zu sagen: „Pan Lochmanowitsch wittert von weitem, was in jedem Bratofen von Harnyj Lug gebraten wird.“ Dem Bauernvolk gegenüber legte der Pan eine unverhohlene Verachtung an den Tag.

„Das ist ihr Werk,“ sagte er auch diesmal mit Überzeugung, als die Nachbarn sich am Tatort versammelt hatten, um über den Diebstahl zu beraten. „Ein Schlachziz wird sich zu so etwas nicht hergeben. Ein Schlachziz sagt sich: ich besitze wenig, aber was ich besitze, ist mein. Die Bauernkanaille hingegen hat weder Scham noch Gewissen, noch Gottesfurcht im Leibe“ ...

Die Bauern, die zugegen waren, schwiegen finster und ließen sich eine aufmerksame Untersuchung des Tatorts des Einbruchs angelegen sein. Plötzlich entdeckte einer von ihnen einen Fußstapfen unter dem Fenster. Es waren deutliche Stiefelspuren, wobei der rechte Stiefel sichtbar einen stark abgetretenen Absatz verriet. Nun tragen die Bauern ausnahmslos Bastschuhe, wohingegen Lederstiefel ausschließlich Fußbekleidung der „Wohlgeborenen“ sind. Die Bauern fingen denn auch an, unzweideutig auf den rechten Absatz des sittlich entrüsteten Pan Lochmanowitsch zu schielen. In diesem kritischen Moment des Lokaltermins verschwand Pan Lochmanowitsch unmerklich von der Bildfläche.

Jetzt brach ein Hallo los. Der „freche Pöbel“ schrie ungeniert, daß der Diebstahl von einem aus der noblen Schlachta ausgeführt worden sei, und strömte mit diesem Feldgeschrei auf die Straße. Die Standesehre des Adels von Harnyj Lug war in empfindlichster Weise bloßgestellt. Die Schlachzizen versammelten sich darauf bei dem alten Pogorzelski als einem in Sachen der Ehre kundigen Mann, und es wurde beschlossen, an Pan Lochmanowitsch eine Deputation abzuordnen. An ihrer Spitze trat der ehemalige „Ritter in voller Rüstung“ von der Fahne Pan Cholewinskis vor und hielt an den „Bruder-Schlachziz“ eine Ansprache. Der verehrte Bruder und Wohltäter sähe ja selbst ein, daß ein Fall außergewöhnlicher Natur vorliege: die Bauernkanaille erdreiste sich, den ganzen wohlgeborenen Adelsstand von Harnyj Lug in schwerster Weise zu verdächtigen. Einzig zu dem Zweck, um das Pack zu zwingen, seine niedrige Verleumdung wieder zu verschlucken, bitte die Schlachta ihren verehrten Bruder, eine kleine Haussuchung in dessen Keller zu gestatten.

Pan Lochmanowitsch, unerschütterlich großartig in allen Lebenslagen, gab gelassen seine Einwilligung.

„Nur pro forma, mein Wohltäter, nur pro forma, rief entzückt der alte Pogorzelski. „Nur um dem Pöbel den Mund zu schließen“ ...

Die Haussuchung näherte sich ohne jedes Ergebnis ihrem Ende.

„Ich besitze wenig, aber was ich habe, ist mein,“ wiederholte Lochmanowitsch. Man wollte gerade aufbrechen, als einer der Bauern, die als Zeugen bei der Haussuchung zugelassen waren, in einem Winkel des Kellers einen Haufen Spreu auseinanderscharrte: darunter standen nebeneinander die beiden Fäßlein ... Die Bauern ergriffen sofort die corpora delicti, luden sie sich auf die Schultern und zogen damit im Triumph zum Hauptmann, unter Siegesgeschrei, Gesang und Gejohle.

Das war ein grausamer Schlag für den ganzen Adel des Ortes. Wie Onkel erzählte, hat Pan Pogorzelski über die Sittenverderbnis – periculum in moribus nobilitatis harnolusiensis – geweint, wie ein Kind. Nur Pan Lochmanowitsch selbst nahm den fatalen Zwischenfall mit philosophischer Ruhe hin. Zwei Tage später erschien er, ruhig und majestätisch wie immer, beim Onkel Hauptmann.

„Wäre es nicht besser, mein verehrter Bruder und Nachbar,“ meinte er, „wenn wir diese schmutzige Affäre auf sich beruhen lassen würden? Nun, es ist einmal passiert ... Wem passiert so was nicht ... verlohnt es sich denn, die Rechtsverdreher in nachbarliche Angelegenheiten zu mischen?“

Der Hauptmann war ein jähzorniger, aber äußerst gutmütiger Mensch, der es verstand, manches im Leben von der humoristischen Seite zu fassen. Überdies war das, glaube ich, kurz vor der Bauernbefreiung. Man empfand in den Kreisen der Grundbesitzer das Bedürfnis, zusammenzuhalten ... Der Hauptmann strengte denn auch nicht nur keine gerichtliche Verfolgung an und sah den „kleinen Vorfall“ nach, sondern es gab in der Folge keine Familienfestlichkeit in seinem Hause und es stiegen bei ihm aus der Ofenröhre keine appetitaufreizenden Düfte, ohne daß die malerische Gestalt Pan Lochmanowitschs die Tafelrunde schmückte.

Als die merkwürdigsten Vertreter dieses heruntergekommenen Krautjunkertums müssen wohl die beiden Brüder Bankiewitsch betrachtet werden, von denen der eine „notorischer Ränkeschmied“ war (in der alten russischen Rechtspraxis hat es einen solchen terminus technicus gegeben), der andere – o Schmach! – ein Pferdedieb.

Das Äußere Pan Antonis, so hieß der „Ränkeschmied“ mit Vornamen, war ungemein süßlich: eine rundliche Gestalt mit bedeutendem Bäuchlein, ein kleiner kahler Kopf, eine blaurote Nase und ein paar gutmütige Äuglein, die vor Nächstenliebe troffen, wenn er im Lehnstuhl saß, seine Hände auf dem Leib zusammengefaltet und die Daumen umeinanderdrehend, während seine Äuglein in lächelndem Wohlwollen auf sein Gegenüber gerichtet waren, könnte man ihn für das verkörperte gute Gewissen halten. In Wirklichkeit war dieser süßliche Mann ein höchst gefährliches Raubtier.

Begabt mit einer spitzen Feder, ausgestattet mit gründlichen Kenntnissen der Gesetze wie der Gerichtsprozedur, wußte er der gesamten Nachbarschaft abergläubische Furcht einzuflößen. Das Anwesen Antoni Bankiewitschs war eine Art verzauberten Reichs, war z. B. ein Huhn irgendeines Pan Kunzewitsch in Antonis Gemüsegarten geraten, dann verschwand es erstens spurlos, zweitens aber bekam sein früherer Besitzer todsicher einen Prozeß wegen Beschädigung fremden Gartens durch sein Geflügel auf den Hals. Geschah es aber, daß umgekehrt etwa ein Schwein Bankiewitschs in den nachbarlichen Gemüsegarten eingebrochen war, dann erging es dem unglücklichen Pan Kunzewitsch noch schlimmer. Mochte der Bedauernswerte das Vieh aus seinem Besitztum noch so ehrerbietig hinauskomplimentieren, es erwies sich dennoch jedesmal, daß es ein gebrochenes Bein, eine Stichwunde am Schenkel oder sonst einen Schaden an seiner Gesundheit genommen hatte, was wiederum straf- und zivilrechtliche Verfolgungen nach sich zog. Die Nachbarn zitterten und kauften sich los.

„Aber ich bitte Sie, mein Wohltäter,“ rief einer dieser Unglücklichen, mit dem ich sprach, in ohnmächtiger Verzweiflung, „wie soll man sich denn anders helfen, wenn unsereiner nicht weiß, auf Grund welcher Gesetzesparagraphen er eine fremde Gans aus dem Gemüsegarten hinaustreiben soll und auf Grund welcher anderen ein Ferkel. Er aber treibt fremdes Vieh in seinen Hof und lacht sich einen Ast!“

Den Nachbarn kam es beinahe vor, als ständen die Hühner, Puten und Kälber Pan Bankiewitschs unter einem besonderen Schutze des Gesetzes, und der „Ränkeschmied“ saß den ganzen Tag vor seiner Haustür, ließ seine Blicke fleißig über sein Anwesen spazieren und erspähte immer neue Einnahmequellen.

Der Ruhm Bankiewitschs verbreitete sich weit über die Grenzen des Harnyj Lug, und die Ränkeschmiede der ganzen Umgegend kamen zu ihm, als dem Magister dieser Kunst, um sich bei ihm Rats zu erholen.

Die Ankunft Onkel Hauptmanns in Harnyj Lug und die freimütige Art, wie der neue Grundbesitzer dem gefürchteten Manne gegenüber auftrat, brachten dessen festgewurzelte Autorität beinahe ins Schwanken. Bankiewitsch, der äußerlich mit dem „verehrten Nachbar und Wohltäter“ die allerbesten Beziehungen pflegte, lauerte denn auch nur auf eine günstige Gelegenheit, um den Angriff zu eröffnen.

Da geschah es, ich glaube im zweiten Jahr des Aufenthalts meines Onkels in Harnyj Lug, daß sich Bankiewitsch einmal mit seinen Leuten einfach auf ein dem Hauptmann gehöriges Grundstück begab und das Korn daselbst schneiden ließ. Der Schaden war nicht allzu groß, und die eingeschüchterten Nachbarn rieten meinem Onkel dringend, auf die Sache zu „pfeifen“ und mit dem Kujon lieber gar nicht erst anzubinden.

Doch Onkel Hauptmann war ein Mann von anderem Schlag. Er nahm den Handschuh auf und sah sich bald in einen gerichtlichen Feldzug verwickelt, über den er nachmals mit mehr Lust und Liebe zu erzählen pflegte, als über seine Kriegstaten vor dem Feinde. Als man ihm meldete, daß Bankiewitschs Leute sein Korn schnitten, tat der schlaue alte Herr zunächst, als berühre ihn die Sache gar nicht. Die fremden Schnitter hatten indes das Korn geschnitten, gebunden, sogleich auch aufgeladen und gegen Sonnenuntergang schritt der „Ränkeschmied“ als Triumphator vor seinen mit fremden Garben beladenen Wagen daher. Der Weg vom Felde führte hinten an den Wirtschaftsgebäuden des Onkels vorbei. Kaum waren die Wagen an dem breiten Tor der Dreschtenne angelangt, als das Tor plötzlich aufging, der Hauptmann mit seinen Leuten herausstürzte, die vorgespannten Pferde und Ochsen anpackte und in die Tenne lenkte. Die Wagen wurden zu einem Tor hineingelassen, rasch abgeladen und zum anderen Tor wieder leer herausgelassen. Das Ganze spielte sich so blitzschnell ab, daß die Bankiewitschsche Partei in ihrer Verblüffung gar keinen Widerstand leistete. Als alles beendet war, lüftete der Hauptmann höflich die Mütze, bedankte sich bei dem lieben Nachbarn für die Erntehilfe und lud ihn nach der gehabten Mühe ins Haus zu einem Löffel Suppe.

Diesen Schlag erhielt der „Ränkeschmied“ im Angesicht van ganz Harnyj Lug, und alle begriffen sofort, daß nun ein Tanz auf Tod und Leben zwischen den beiden beginnen mußte. Bankiewitsch begab sich zunächst, wie das in allen ernsten Lebensfällen bei ihm Sitte war, auf eine Wallfahrt zur heiligen Mutter Gottes. Gleich nach seiner Rückkehr leuchtete die ganze Nacht hindurch der Lampenschein auf Jasminsträucher und Sonnenblumen vor seinem Fenster, und man konnte durch die Scheiben sehen, wie der „Ränkeschmied“ bald ganz in Schreiben vertieft saß, bald wieder, wenn ihm die Eingebung zu versiegen schien, vor dem Heiligenbild auf die Knie fiel und betete. Die Hähne krähten bereits im Dorf, als das Fenster aufging und darin das gerötete Antlitz Pan Bankiewitschs erschien, noch mit sichtbaren Spuren der Begeisterung. Wie im Triumph hielt er einen Bogen Papier in die Luft und winkte damit nach der Richtung hin, wo der dunkle Turm des Hauptmannschen „Magazins“ mit seiner Fahnenstange inmitten der Pappelgruppe ragte. Alle diese Einzelheiten beeilte sich ein Nachbar sofort „vertraulich“ meinem Onkel mitzuteilen.

Nachmals erzählte uns der Onkel wiederholt alle Wechselfälle des berühmten Streites. Die Hornbrille auf der Nase, las er immer wieder mit gerührter stimme die Eingaben Bankiewitschs sowie seine eigenen Repliken darauf laut vor. Antoni Bankiewitschs Schriftsätze verrieten entschieden ein ganz eigenartiges Talent. In altertümlich polnisch-russischem Stil verfaßt, schnörkelhaft und geziert, waren sie von so unerwarteten Wendungen durchsetzt, daß manchmal der Vortrag des Onkels durch allgemeine Heiterkeit unterbrochen wurde. Nur der vortragende selbst blieb unerschütterlich ernst. Man sah es ihm an, daß er der Kunst des Gegners aufrichtige Bewunderung zollte. Da war in der Tat alles: genaue Kenntnis der Gesetze, Kraft des Ausdrucks, ein eigentümliches, gleichsam auf die Gefühle der Richter berechnetes Pathos ... Sich selbst nannte der Verfasser der Eingaben nie anders, als den „verwaisten Edelmann“, seinen Gegner hingegen den „vermeintlichen Hauptmann“ (mein Onkel war Hauptmann des Stabes a. D.), sein Besitztum wurde – weiß Gott weshalb – als „unrechtmäßig angeeignetes“ und seine Arbeiter als „gottlose“ bezeichnet.

„Und als sich jene Wagen auf dem Wege voranbewegten, der an dem unrechtmäßig angeeigneten Anwesen des besagten Falschen Kurzewitsch vorbeifuhr, alsdann sprang jener angebliche Hauptmann mit seiner Rotte aus dem Hinterhalt mit großem Lärm, Geschrei und Tumult, als wie ein echter Dieb, Bandit und Straßenräuber, herfür, packte die Pferde, so dem obgenannten verwaisten Edelmann Bankiewitsch zu eigen gehören, bei den Stangen, die Ochsen aber bei dem Joch, schleppte dieselben in seine, Kurzewitschs, Dreschtenne und lud mit großer Eile ab. Über welchen öffentlichen Überfall und augenscheinlichen Raub der endesunterzeichnete verwaiste Edelmann Anton, des Fortunatus Sohn, Bankiewitsch, unter Strömen bitterer Tränen die strengste Untersuchung einzuleiten und nach Recht und Gesetz das Verfahren zu eröffnen untertänigst bittet.“ Zum Schluß berief sich der Petent auf Paragraphen des Gesetzbuchs, die den Hauptmann so ungefähr mit dem Zuchthaus bedrohten, und stellte eine Liste des Schadenersatzes auf, die seinen Gegner an den Bettelstab hätte bringen müssen.

An diesen Erzeugnissen der Bankiewitschschen Feder lernte ich zuerst den berühmten altrussischen „Ränkeschmiede-Stil“ kennen, von dessen Schönheiten indes meine obige Probe nur einen ganz schwachen Begriff gibt. Besonders auffallend war der Reichtum an pathetischen Stellen. Der alte Gauner konnte sich natürlich im Ernst keine Wirkung auf die Herzen der Richter versprechen, es kam also darin nur seine ästhetische Ader, eine Art reine Dichtkunst zum Ausdruck. Die Eingabe ging, einmal ausgearbeitet, von Hand zu Hand im Dorfe und wurde immer wieder vorgelesen. Zeitungen gab es damals auf dem Lande keine, Bücher fast ebenso wenig. Die Dorfbewohner lernten also die Vorzüge der Schriftsprache fast ausschließlich aus derlei Erzeugnissen kennen. Es war allgemeine Ansicht, daß die Eingabe mit spitzer und vortrefflicher Feder abgefaßt, und daß dem Hauptmann „eine harte Nuß“ aufgegeben sei. Pan Bankiewitsch berauschte sich unterdes an seinem literarischen Erfolg.

Jetzt wappnete sich der Hauptmann seinerseits und trat in die Schranken. Bald konnte auch er seinen Bekannten „die Widerklage des Hauptmanns des Stabes a.D. Kurzewitsch vom Departement der kaiserlichen Forsten an das Bezirksgericht so und so, betreffend folgende Punkte“ vorlesen.

Vor allem sei er, Endesunterzeichneter, kein angeblicher, sondern wirklicher Hauptmann seines Kaisers, wofür er gesetzliche Belege vorweisen könne, sintemal er an Expeditionen wider rebellische stamme teilgenommen, dabei eine Kontusion davongetragen und durch Verleihung von Orden die allerhöchste Anerkennung empfangen habe. Außer Dienst getreten, sei er im Departement der kaiserlichen Forsten aufgenommen, befördert und auf eigenen Antrag unter Zubilligung der Uniform und Pension verabschiedet worden. Woraus folgt, daß der sich als verwaister Edelmann Bankiewitsch bezeichnende sich nicht allein einer lügnerischen Verleumdung ihm, Kurzewitsch, gegenüber, sondern überdies einer dreisten Mißachtung des allerhöchsten Namens, so auf den obgenannten amtlichen Dokumenten unterfertigt ist, schuldig gemacht habe.

Dem Pathos und der Empfindsamkeit des Bankiewitschschen Machwerks setzte der Hauptmann Bosheit und Ironie entgegen. Er fragte: wieso denn der verwaiste Edelmann mit den garbenbeladenen Wagen an seiner, Kurzewitschs, Dreschtenne auftauchte, da männiglich bekannt sei, daß seine, Bankiewitschs, eigene Besitzung auf der entgegengesetzten Seite des Dorfes liege. „Es sei wohl gesehen und erhört – fügte der Hauptmann boshaft hinzu –, daß Waisen mit Bettelsäcken herumgehen, um bei mildtätigen Leuten ein Stückchen Brot zu erbitten; daß aber Waisen auf fremden Acker, nicht mit Bettelsäcken sondern mit Leiterwagen, mit Gesinde und Pferden einbrechen, dafür erscheint bis jetzt als wenig löbliches Beispiel allein der obgenannte Antoni, des Fortunatus Sohn, Bankiewitsch, welche Dreistigkeit in einem wohlgeordneten Rechtsstaate mit Nichten geduldet werden dürfe. In Anbetracht sotaner Umstände forderte der Hauptmann seinerseits auf Grund der Gesetze eine strenge Bestrafung Antoni Bankiewitschs.

Seine Widerklage überbrachte der Onkel persönlich nach der Stadt. Zu diesem Behufe wurden aus Kästen und Truhen der Waffenrock mit Achselstücken, Beinkleider mit roten Streifen, Sporenstiefel und der Helm mit Federbusch hervorgeholt. All das wurde auf dem Zaun ausgebreitet und gelüftet und machte auf die Umgebung nicht geringen Eindruck. In den Augen der braven Einwohner von Harnyj Lug stiegen die Prozeßaussichten des Hauptmanns bei diesem kriegerischen Aufwand und Glanz um ein Beträchtliches.

Der Rechtsstreit schleppte sich mit allerlei Listen und Klagen, Widerklagen und Denunziationen ins Unendliche. Das ganze Ansehen des „Ränkeschmiedes“ war nahe daran, in die Binsen zu gehen. Den Hauptmann unterzukriegen wurde zu seiner Lebensaufgabe. Doch der Hauptmann stand da wie ein Fels in brandender See und erwiderte die pathetischen Verleumdungen seines Gegners pünktlich mit ironischen Widerklagen, die seinen literarischen Ruhm in Harnyj Lug immer mehr befestigten. Wenn er seine Eingaben im Kreise seiner Bekannten vorlas, so pflegten sich die Zuhörer auf die Schenkel zu schlagen, laut zu lachen und den Verfasser um einen solchen „Redefluß“ zu beneiden. Bankiewitsch verging vor Wut und Neid.

Die verbissenste Zeitungspolemik kann heute kaum die literarischen Parteien leidenschaftlicher erregen, als jener Kampf des Hauptmanns mit dem „Ränkeschmied“ sowohl die Beteiligten als auch die öffentliche Meinung von Harnyj Lug erregte. Das Ansehen Bankiewitschs schwankte dabei fortwährend, ganz wie heute mancher literarische Ruf unter den Angriffen einer neuen kritischen Feder erschüttert werden kann.

Schließlich verlor Pan Antoni jede Selbstbeherrschung und fing an, die Richter selbst an höhere Instanzen zu denunzieren, über ihre Parteilichkeit und Duldsamkeit dem benannten Kurzewitsch gegenüber, sowie ihre Ungerechtigkeit und „Impertinenz“ ihm, dem verwaisten Edelmann gegenüber, zu klagen. Zugleich überschüttete er verschiedene Behörden mit Denunziationen über Verwandte und Bekannte des Hauptmanns, sowie über Bekannte jener Bekannten. Es genügte, daß der Amtsrichter, der in irgendeiner dienstlichen Angelegenheit ins Dorf gekommen war, beim Hauptmann vorsprach, damit Bankiewitsch gegen ihn eine Denunziation vom Stapel ließ. Das war schon ein Spiel vabanque, ein verzweifeltes blindes Umsichschlagen der verwundeten Eigenliebe.

Das Gericht, dem all das schließlich zum Hals herauswuchs, packte die Bankiewitschschen Erzeugnisse zusammen und schickte den ganzen Kram an den Senat. Der Senat erblickte, kurz und bündig, den im Paragraph über „notorische Ränkeschmiede“ vorgesehenen Fall als gegeben und verbot demgemäß allen öffentlichen Behörden, irgendwelche Klagen oder Denunziationen von Bankiewitsch fürderhin entgegenzunehmen. Diese Entscheidung traf den Mann wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Laut Verfügung des Kreisgerichts erschien in Harnyj Lug der Amtsrichter mit der Ortspolizei, begab sich zu Antoni Bankiewitsch, beschlagnahmte dessen gesamten Vorrat an Papier, Federn und Tinte und ließ ihn eine Erklärung unterzeichnen, worin sich der „notorische Ränkeschmied“ verpflichtete, „auch für alle Zukunft besagte Schreibmaterialien nicht mehr zu halten“.

Bankiewitsch war vernichtet, war eine Leiche. Man hatte dem bösen Zauberer das schwarze Buch weggenommen, und er verwandelte sich plötzlich in einen gewöhnlichen Sterblichen. Jetzt vertrieben die Schüchternsten unter den Nachbarn seine verirrten Schweine mit derben Knütteln, wobei sie die Tiere nun auch wirklich beschädigten; ihre eigenen Ferkel aber, die sich in den weiland verzauberten Bereich verirrten, nahmen sie mit Gewalt wieder in Besitz. Der „notorische Ränkeschmied“ stand außerhalb des Schutzes der Gesetze.

Bankiewitsch verfiel zusehends. Doch nach einiger Zeit begab er sich wieder auf die Wallfahrt und kam von ihr bedeutend gestärkt zurück. Es geschah dann, daß in einer dunklen Herbstnacht beim Hauptmann im Hofe ein Hund anschlug, dann ein zweiter. Einer der Knechte erwachte dabei, bemerkte zunächst nichts Auffälliges im Hofe, bis er schließlich hinter der Dreschtenne einen hellen Schein aufleuchten sah. Ehe er das Gesinde und den Hauptmann aus dem Schlaf gerüttelt hatte, stand die Dreschtenne, die nämliche, von der aus der Streit ausgegangen war, in hellen Flammen ...

Jene Nacht sollte in Harnyj Lug noch lange unvergessen bleiben. Das Korn war bereits in die Scheunen eingefahren, aber nur zu einem geringen Teil durchgedroschen und im „Magazin“ aufgespeichert. Die übrigen Garben mitsamt dem Stroh brannten jetzt so lichterloh, daß es unmöglich war heranzutreten. Über der Feuersbrunst kreisten hoch im blutroten Schein und Funkenregen Tauben und fielen in die Flammen; die hohen Pappeln am Magazin sahen aus, wie Säulen flüssigen Kupfers. Das Feuer war mit guter Überlegung angelegt: der Wind trieb die Flammen gerade auf das Magazin hin. Zum Glück schlug er plötzlich um und wendete sich gegen das offene Feld. Der ehrwürdige altertümliche Bau war gerettet, nur bei einigen Pappeln verdorrten die Wipfel und hingen seitdem wie schwarze Besen über dem frischen Grün, als traurige Zeugen der schrecklichen Nacht.

Der Hauptmann war in jener Nacht ergraut. Er griff mehrmals zu den Pistolen, und es kostete seiner Frau nicht geringe Mühe, seine Wutanfälle zu beschwichtigen. Pan Antoni aber saß am anderen Morgen wieder friedlich vor seiner Haustür, wie früher, die Hände auf seinem runden Bäuchlein zusammengefaltet, und drehte die Daumen umeinander. Die Nachbarn hatten gesehen, wie er zu Beginn der Feuersbrunst unangekleidet aus seiner Haustür trat und sich den Schlaf aus den Augen rieb. Beweise gab es also gegen ihn keine. Aber er machte daraus kein Hehl, daß er vor der heiligen Muttergottes um Sühne für die erlittenen Kränkungen heiß gebetet und daß ihm die Gebenedeite versprochen hatte, die Tränen einer Waise sollten nicht ungerochen bleiben ... Dabei funkelten die Äuglein des „verwaisten Edelmannes“ vor tiefer Rührung, und auf seinen Lippen spielte ein so eigentümliches Lächeln, daß die Nachbarn wieder anfingen, vor Pan Antoni tief die Mütze zu ziehen ...

Einmal noch schien dem alten „Ränkeschmied“ sogar auf seinem ureigensten Gebiet der Erfolg lächeln zu wollen. Es kam die Zeit des polnischen Aufstands. Der Hauptmann war ein Pole, aber nur lauer Patriot, der die ganzen Ereignisse mehr von der humoristischen Seite nahm. Unter anderem hatte er den Einfall, sich mit dem alten Pogorzelski einen Spaß zu leisten und den ehemaligen „Ritter in voller Ausrüstung“ zu überreden, in ein Aufständischenkorps zu treten. Die Patrioten benötigten dringend erfahrener Führer, redete er dem Alten ein, und ein Mann, der einst unter der Fahne Pan Cholewinskis gedient hätte, sei jetzt moralisch verpflichtet, an die Spitze eines Korps zu treten. Vergeblich seufzte der arme Alte, weinte sogar und suchte sich des Verführers zu erwehren: seine Füße, meinte er, taugten doch nicht mehr für den Steigbügel, noch seine Hände für den Säbel. Aber der Hauptmann ließ nicht locker, kam vielmehr Tag für Tag an seine Hütte und flüsterte ihm immer wieder zu. In einem dieser Gespräche ließ der Spaßvogel einfließen, daß man ganze Wagenladungen voll Schinken „in den Wald“ gebracht hätte. Da hielt es der arme ausgehungerte Greis schließlich nicht aus und ging am anderen Morgen „sich einschreiben zu lassen“.

Um ein Haar wäre der grausame Schabernack dem Hauptmann teuer zu stehen gekommen. Bankiewitsch hatte nämlich seine Unterredung mit dem Alten aufgefangen und sandte sofort eine Denunziation ab, in der er die Tatsachen ziemlich wahrheitsgetreu wiedergab, sie aber ihrer humoristischen Färbung natürlich entkleidete. Es wehte damals ein scharfer Wind, und der Hauptmann hatte einige böse Minuten auszustehen. Nur der Anblick des armen Greises, der vor der russischen Untersuchungskommission wie ein kleines Kind schluchzte, überzeugte selbst die Gendarmen, daß man einen solchen Krieger lediglich hatte anwerben können, um sich über ihn wie über die Sache selbst lustig zu machen. –

Der „Ränkeschmied“ Antoni hatte einen Bruder, Fortunatus mit Vornamen. Dieser führte eine rätselhafte Lebensweise. Er ging oft auf Reisen, von deren Ziel niemand etwas wußte, und verschwand mitunter für längere Zeit vom Horizont. Man sah ihn des öfteren mit Zigeunern, mit Griechen und sonstigen zweifelhaften Elementen von der Profession der Roßhändler Umgang pflegen. Von Zeit zu Zeit tauchten auch in der Herde von Harnyj Lug stattliche Vollblütler unbekannter Herkunft auf, um nach einiger Zeit ebenso geheimnisvoll wieder zu verschwinden. Viele in Harnyj Lug schüttelten ob diesem Treiben bedenklich den Kopf. Pan Fortunatus war aber ein umgänglicher Mann, der mit aller Welt glänzend auszukommen wußte... Einmal verschwand er schließlich, um nicht wieder zu erscheinen. Es hieß, daß er irgendwo bei Nacht und Nebel in dem gefährlichen Handwerk mit fremden Pferden sein adelig Haupt eingesetzt hatte. Sicheres hat man nie erfahren.

 

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1) Der Name rührt von „Sto“, auf russisch Hundert, und von „Pan“ her: der Herr, der Wohlgeborene. D. Ü. 

2) Ein säuerliches Getränk aus Roggenmehl und Malz. D. Ü.