BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Erster Band

In der Kreisstadt

Lehrjahre

 

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Das Kreisgericht“, seine Sitten und Gestalten.

 

Als wir in Rowno ankamen, waren gerade noch sommerliche Schulferien. Das Gymnasialgebäude lag still und öde, die meisten Schüler waren noch nicht in die Stadt zurückgekehrt. Mein Vater hatte in der Stadt noch wenige Bekanntschaften erworben, unser Verkehr beschränkte sich deshalb vorerst auf die Beamten, die in unserer unmittelbaren Nachbarschaft im Hofe des Kreisgerichts wohnten.

Der erste, mit dem wir Kinder Bekanntschaft schlossen, war der Archivarius, Pan Kryschanowski. Er hatte sich gleich bei unserer Ankunft pünktlich eingefunden, um uns zu begrüßen, hob mich wie ein Federchen mühelos vom Kutschbock herunter und half meiner Mutter galant aus der Kutsche. Dabei wehte mich von dieser hünenhaften Gestalt ein kräftiger Schnapsduft an, und ich sah, wie die Mutter, die den Archivarius bereits von ihrem Besuch in Rowno her kannte, mißbilligend den Kopf schüttelte. Herr Kryschanowski schielte darauf schamhaft zur Seite, wobei ich die unwillkürliche Feststellung machen mußte, daß seine blaurote Höckernase gleichfalls ganz windschief saß, während seine Augen von hoffnungslos trübem Schimmer waren.

Wir schlossen rasch miteinander Freundschaft. In seiner freien Zeit pflegte der Archivarius uns Kinder spazierenzuführen, er zeigte uns die Sehenswürdigkeiten der Stadt, brachte uns das Rudern im Kahn bei. Wir erfuhren bald, teils von ihm selbst, teils von anderen, daß er einmal in früheren Zeiten ein reicher Gutsbesitzer war und nicht anders als in einer mit vier prachtvollen Rappen bespannten Kutsche in der Stadt einzukehren pflegte. Es hieß ferner, daß seine Frau einmal mit einem Offizier durchgegangen war (dazumal gingen, scheint's, merkwürdig viele Ehefrauen mit Offizieren durch!), worauf er sich der Ausschweifung ergab und sein ganzes Vermögen vertrunken hatte. Oder war es vielleicht umgekehrt: erst hatte er sein Vermögen durchgebracht, und darauf ging ihm seine Ehehälfte mit dem Offizier durch. Wie dem auch gewesen sein mochte, nun amtierte er als Archivarius beim Kreisgericht der Stadt Rowno, bei einem Gehalt von sage und schreibe acht Rubel monatlich, ging in einem abgetragenen, fettig glänzenden Anzug einher, trug bald ein hochmütiges und bald ein äußerst gedrücktes Wesen zur Schau und machte im ganzen einen recht heruntergekommenen Eindruck. Dafür ließ er sich nie zum Gebrauch billiger Haarpomaden oder Talmikettchen herab, wie sie die anderen „Beamten“ ohne jede Notwendigkeit, aus purer Hoffahrt trugen, denn eine Uhr besaßen sie alle zumeist nicht.

Pan Kryschanowski führte das Dasein eines echten Weisen und hielt selbst eine eigene Behausung für überflüssigen Luxus: er hatte seine Zelte in dem engen Archivgebäude selbst aufgeschlagen. Auf den Regalen in den Amtszimmern dieser Anstalt boten verschiedene anspruchslose Toilettengegenstände zwischen den Aktenbündeln eine angenehme Abwechslung, desgleichen standen leere Schnapsflaschen und daneben allerlei „gegenständliche Beweise“ herum. Da waren z.B. erbrochene Schlösser zu sehen, ein gestohlener Samowar, eine Axt mit rostigen Blutflecken auf der Klinge, verschiedene Kleiderbündel, ein Paar enorme Wasserstiefel und zwei doppelläufige Jagdflinten. Obwohl an allen diesen Dingen Papierstreifen mit Nummern und Siegellackpetschaften bammelten, so hinderte das Herrn Kryschanowski nicht, mit ihnen ziemlich frei zu schalten und zu walten: den Samowar pflegte der Gerichtsdiener für den Herrn Archivarius aufzusetzen, so oft dieser Lust verspürte, Tee zu trinken (was übrigens beileibe nicht alle Tage geschah), die Flinten aber nahm Pan Kryschanowski mit, so oft er auf die Jagd ging, bei welcher Gelegenheit er auch noch die Wasserstiefel anzuziehen pflegte und so zu einem Unternehmen die corpora delicti aus ganz verschiedenen Gerichtsfällen friedlich vereinigte.

Einmal hatte einer seiner zahlreichen Widersacher unter den Kollegen aus diesem Anlaß einen niedrigen Verleumdungsfeldzug gegen ihn anzuzetteln versucht. Doch Kryschanowski beugte rechtzeitig dem Ungemach vor: den Samowar ließ er auf eigene Kosten verzinnen, eine der Jagdflinten wurde schnell mit einem neuen Schloß verziert, die Wasserstiefel aber wurden auf sein Geheiß vom Gerichtsdiener eigenhändig neu besohlt. „Obwohl dies alles einen Batzen Geld gekostet hatte“, wie Herr Kryschanowski selbst mit Stolz berichtete, so wurde doch auf diese Weise der niedrigen Denunziation die Spitze abgebrochen.

An die Arbeit pflegte er sehr ungleichmäßig, in unerwarteten Anläufen, heranzugehen. Bald bummelte er irgendwo mit seinem „nagenden Wurm im Herzen“ ganze Tage hindurch, bald stürzte er sich plötzlich aufs Ordnen im Archiv. In solchen Fällen pflegte er eine Schnapsflasche mitzunehmen und sich in seinem Amtsbereich einzuschließen. In dem kleinen vergitterten Fensterchen des Gebäudes war dann bis spät in der Nacht Licht zu sehen.

Pan Kryschanowski heftete, flickte, siegelte, machte Eintragungen ins Register und trank, bis eines schönen Tages alle Akten geordnet waren, die Flasche leer, der Archivarius aber mit weit von sich geworfenen Armen und Beinen auf dem Boden ausgestreckt lag und schnarchte.

Bald nach unserer Ankunft – es war gerade der zwanzigste des Monats 1) – bat Kryschanowski meine Mutter, ob er uns Kinder ein wenig in die Stadt spazierenführen dürfe.

„Pan Kryschanowski?“ sagte darauf die Mutter, halb fragend und halb streng.

„Ach, Pani Sendzina 2),“ erwiderte er, ihr die Hand küssend, „also auch Sie halten mich wohl für einen verlorenen Menschen?“

Die Mutter willigte ein, und wir zogen los. Kryschanowski führte uns in der Stadt herum, kaufte uns Bonbons und Äpfel, und alles ging großartig, bis er plötzlich vor einer schäbigen Baracke in Gedanken stehen blieb. Nach einer Weile des Schwankens murmelte er: „Macht nichts, ich gehe nur auf einen Sprung hinein“ ... und schlüpfte rasch in die niedrige Tür. Leicht verändert kam er wieder zum Vorschein, zwinkerte uns lustig zu und sagte:

„Der Mutter braucht man das nicht zu erzählen.“ Und mit einem Seufzer fügte er hinzu: „Sie ist eine Heilige!“

Leider folgte der ersten Haltestelle eine zweite, dann eine dritte, und bis wir ins Zentrum der Stadt gelangten, war Pan Kryschanowski bis zur Unkenntlichkeit verändert. Seine Augen blitzten stolz, die Gedrücktheit seines Wesens war verschwunden, und was das Schlimmste war: er fing an, mit Vorbeigehenden Händel zu suchen, Frauen zu belästigen und auf Juden Jagd zu machen. Um unsere kleine Gesellschaft bildete sich bald ein Auflauf. Zum Glück war unser Haus nicht mehr weit, und wir beeilten uns, den Rückzug in den Hof anzutreten.

Nach diesem Abenteuer verschwand der Archivarius für längere Zeit von der Bildfläche. In seinem Amtszimmer ließ er sich gar nicht mehr blicken, und nur hie und da bekamen wir Kunde von seinem Treiben aus Berichten Sachars, des Dieners meines Vaters. Diese Kunde war leider nichts weniger als erfreulich. Einmal hatte Kryschanowski in einem öffentlichen Lokal einer fremden Gesellschaft von Billardspielern sämtliche Bälle untereinandergemischt, woraus „ein großer Krach“ entstand. Ein anderes Mal wurde er auf der Straße mit den Nachtwächtern handgemein. Ein drittes Mal hatte er sich in eine Gesellschaft von Beamten gestürzt und den Bureauvorsteher Wenzel geohrfeigt.

Mein Vater geriet bei diesen Hiobsposten in maßlosen Zorn. Er überhäufte die Mutter mit Vorwürfen, weil sie diesen Galgenstrick noch begönnert hätte, und befahl, man solle ihm den Sünder tot oder lebendig zur Stelle schaffen. Doch der Archivarius war spurlos verschwunden.

Drei oder vier Tage später waren wir, mein Schwesterlein, mein Bruder und ich, in unserem Garten, als Kryschanowski unerwartet seine langen Beine von der Teichseite her über den Zaun setzte, im hohen Gras niederkauerte und uns still zu sich heranwinkte. Er sah gedrückt und unglücklich aus, sein Gesicht war erschlafft, die Augen ganz trübe, die Nase schien noch schiefer als gewöhnlich zu sitzen und sogar noch länger geworden zu sein.

„Pst!“ ... machte er und schielte auf unsere kleine Terrasse, die in den Garten führte, „Wie, ist der Herr Richter sehr böse?“

„Ja, er ist böse,“ gaben wir zur Antwort.

„Und Pani Sendzina?“

Wir konnten ihm nicht verschweigen, daß selbst unsere Mutter ihn diesmal nicht in Schutz zu nehmen wage.

„Sie ist eine Heilige!“ sagte Kryschanowski und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Geht, meine lieben Freunde, fragt bei ihr an, ob ich schon heute erscheinen dürfe oder lieber noch abwarten solle.“

Wir brachten den Bescheid, daß es für ihn nicht ratsam sei, sich zu zeigen, und der arme Kerl setzte in derselben Weise wieder über den Zaun, – just im rechten Augenblick, denn gleich darauf trat der Vater auf die Terrasse.

Noch zwei Tage vergingen. Es war Sonntag. Der Vater war kürzlich erst in friedlichster Verfassung aus der Kirche gekommen, hatte seinen Schlafrock angezogen und wandelte im Wohnzimmer auf und ab. Als er, von der Tür sich wendend, zum entgegengesetzten Winkel seinen Schritt lenkte, tauchte aus dem Flur plötzlich die lange Gestalt des Archivarius auf. Mit einem Wink an uns trat er unhörbar über die Schwelle und erstarrte am Türpfosten. Kaum hatte aber der Vater in seinem hinkenden Gang, auf den Stock sich stützend, das Ende des Zimmers erreicht, als der Archivarius auch schon wieder im Flur verschwand. Dieser Auftritt wiederholte sich ein paarmal. Endlich faßte er sich ein Herz, bekreuzte sich, trat wieder aus dem Flur vor, lehnte sich mit dem Rücken an den Türpfosten und ward in dieser Stellung zur Bildsäule.

Der Vater machte kehrt und bemerkte sofort das schlimme Subjekt. In Dubno hatte er einen leichten Schlaganfall erlitten, und meine Mutter befürchtete sehr eine Wiederholung. Jetzt, bei der unvermuteten Erscheinung des schuldigen Archivarius, übergoß sich Vaters Gesicht, Stirn, selbst der Nacken mit dunkler Röte, und der Stock erzitterte in seiner Hand. Pan Kryschanowski trat nun mit der Miene eines Hundes, der Prügel zu erwarten hat, an den Vater heran und neigte sich über seine Hand. Der Vater packte darauf den vorgeneigten Riesen am Haar, und dann erfolgte eine merkwürdige Szene: der Richter zerrte den Archivarius mit seiner schwachen Hand am struppigen Haarschopf hinauf und herab, der Archivarius seinerseits bemühte sich nur ihm, die Mühe zu erleichtern, indem er gehorsam seinen Kopf der Hand des Richters folgen ließ. Wenn der Kopf nach unten ging, küßte der Archivarius den Richter auf den Leib, ging aber der Kopf nach oben, küßte er ihn auf die Schulter, wobei er ihm mit einer Stimme, die versuchte, möglichst überzeugend zu wirken, zuredete:

„Ach, Pan Sendzia, ach bei Gott! Verlohnt es sich denn? Das kann Ihrer Gesundheit schaden ... Nun, lassen Sie schon gut sein, nun ist's ja genug ...“

Die Mutter stürzte unterdes aus der Küche herein. Sie suchte sofort den Vater zu beruhigen und Kryschanowskis Kopfschmuck aus seiner Hand zu befreien. Als dies gelungen war, küßte Kryschanowski den Vater noch einmal auf die Schulter.

„Nun ist's gut,“ sagte er. „Gott sei Dank! Nun beruhigen Sie sich, Herr Richter. Bei Gott, verlohnt es sich denn, sich so allerhand Lappalien zu Herzen zu nehmen?“

„Hinaus mit dir!“ schrie der Vater. Kryschanowski aber küßte noch der Mutter die Hand, flüsterte: „Eine Heilige!“ und verschwand freudestrahlend aus dem Zimmer. Auch wir Kinder waren uns darüber klar, daß die Angelegenheit erledigt war, und daß Kryschanowski im Dienst verbleiben würde. In der Tat schuftete er am anderen Morgen, wie wenn nichts geschehen wäre, eifrig im Archiv. Das Lichtlein schimmerte aus dem vergitterten kleinen Fenster bis in die späte Nacht hinein.

Die Sitten in den damaligen Beamtenkreisen waren eben noch höchst einfach. Die Herren vom Gericht fragten uns mit der größten Neugier über die Einzelheiten der Szene aus und lachten aus vollem Halse. Ich kann mich dabei nicht besinnen, daß auch nur einer von ihnen für sich oder Kryschanowski in dem Vorgefallenen etwas Unziemliches und Beleidigendes gefunden hätte. Wir Kinder ergötzten uns auch. Die Jugend geht leider manchmal an verborgenen Seelendramen ganz verständnislos vorüber. Einmal hatten wir Buben sogar mit vereinten Kräften auf den unseligen Archivarius ein Spottgedicht verfaßt, das wir ihm als ein Aktenstück einhändigten. Das Gedicht war eine ziemlich grausame Schilderung der äußeren Erscheinung des Herrn Kryschanowski sowohl, wie seiner dienstlichen Drangsale und Kümmernisse. Der Archivarius fing an, das angebliche Aktenstück zu lesen, dann zerknitterte er es nervös, schob es in die Tasche, betrachtete uns mit seinen trüben, glanzlosen Augen eine Weile und sagte nur:

„Das lehrt man euch also ... Ihr Bengels“ ...

Ein Jahr darauf verschwand er wieder, diesmal aber für immer, verschiedene Leute wollten ihn in ganz heruntergekommenem Zustand und schwer betrunken irgendwo auf dem Jahrmarkt in Tultschin gesehen haben. Andere wieder verbreiteten die Mär, als habe Kryschanowski eine schwere Erbschaft gemacht und ein neues Leben begonnen. Auf jeden Fall war und blieb er verschollen ...

 

*  *  *

 

Überhaupt hatte die nähere Bekanntschaft mit den Sitten des Rownoer Kreisgerichts noch einmal in verwickelterer Form jenen Eindruck der Kehrseite der Erscheinungen in mir wachgerufen, der sich mir zum erstenmal in der frühen Kindheit beim Anblick der auseinandergenommenen Haustreppe eingeprägt hatte. Früher, als wir noch in Schitomir wohnten, fuhr der Vater jeden Tag „zum Dienst“ aus dem Hause fort, und dieser „Dienst“ erschien uns allen zu Hause als ein höchst wichtiges, geheimnisvolles, erhabenes und schicksalsschweres Gebiet, – war es doch „das Reich des Gesetzes“! hier in Rowno hingegen befand sich dieser geheimnisvolle Tempel der Gerechtigkeit bei uns im Hofe. In seiner Vorhalle stand der verschlag, in dem der Pförtner des Gerichts, ein braver Unteroffizier von den „Nikolajschen“, in dienstfreier Zeit das Schuhwerk der Beamten flickte und, wenn ich nicht irre, daneben im stillen Branntwein feilbot. Aus seinem Verschlag schlug einem stets der kräftige Duft eines niegelüfteten Wohnraumes entgegen. Übrigens herrschte dieser herbe Geruch, von dem es einem in der Nase juckte und im Halse kratzte, ebenso in sämtlichen „Kanzleien“ des Gerichtsgebäudes. Einige Schreiber hatten keine eigene Wohnungen und hielten sich Tag und Nacht im Gerichtsgebäude auf. In den schwarzen amtlichen Schränken fanden außer den Gerichtsakten verfettete Hemden und Westen Unterkunft, ferner Teller mit Wurstzipfeln und dergleichen nichtamtliche Gegenstände mehr. Die Gehälter der „Beamten“ waren – auch wenn man die Billigkeit des Lebensunterhaltes in Betracht zieht – geradezu erstaunlich. Der Archivarius bezog, wie gesagt, 8 Rubel monatlich und galt als ein Glückspilz. Festangestellte Schreiber erhielten 3 Rubel monatlich, Hilfsschreiber aber fünf „polnische Gulden“ (zu 15 Kopeken). In diesen Gehaltsverhältnissen wurzelte offenbar die philosophische Nachsicht, mit der mein Vater die kleinen Bestechungen seiner Unterbeamten übersah: ohne die „Erkenntlichkeiten“ des Spießbürgers hätten die Unterbeamten buchstäblich Hungers sterben müssen. Einige von den jungen Gerichtsbeamten, die keine Unterstützung ihrer Verwandten genossen, suchten sich einen Unterschlupf in den Kellern des alten Schlosses oder richteten sich als sogenannte „ewige Nachtwachen“ im Gericht ein. Eine solche war z. B. ein gewisser van Lazlowski. Er bezog ganze 3 Rubel im Monat, pflegte dabei ein wenig hinter die Linde zu gießen und hatte dazu auch noch bedeutende Neigungen zur Eleganz: er trug schmutzige steife Vorhemden, und seine aschfarbigen Locken waren stets fingerdick mit Haarpomade beschmiert. Nach all diesem Luxus verblieb ihm für die Wohnungsmiete natürlich kein Heller. Solcher armen Teufel gab es im Gericht noch fünf oder sechs, und sie hatten es gegen die bescheidenste Entschädigung übernommen, für alle andere Kollegen die Nachtwache zu halten.

Jeden Abend brannte in den leeren Kanzleien des Kreisgerichts ein Talglichtstümpchen, auf dem Tisch stand ein Fläschchen mit Schnaps, daneben lagen auf einer alten Zuckerdüte ein paar saure Gurken, und die Wachthabenden droschen bis in die späte Nacht hinein Karten. Des Morgens pflegte alsdann der Tempel der Gerechtigkeit ein bei weitem nicht offizielles Aussehen zur Schau zu tragen. Wenn Pan Lazkowski in saurer Katerstimmung schlaftrunken seine Augen rieb und sich von seinem dienstlichen Lager erhob, so blieb auf dem Umschlag des Aktenbündels, das ihm in der Nacht als Stütze des lockigen Hauptes gedient hatte, jedesmal ein sichtbarer Fettfleck von der Haarpomade zurück. Nach dem „Zwanzigsten“ jeden Monats aber pflegte es im Gericht am Abend ein wenig hoch herzugehen. Beim Kartenspiel wurden die Nachtwachen sogar manchmal handgemein. Wenn die Autorität des Pförtners in solchen Fällen nicht ausreichte, pflegte mein Vater in Schlafrock und Pantoffeln, mit dem Stock in der Hand, an Ort und Stelle zu erscheinen. Die Beamten stoben dann auseinander, im Sommer sprangen sie sogar mitunter zum Fenster hinaus: war es doch bekannt, daß der Richter eine lockere Hand hatte und in der Hitze sogar seinen Stock ins Werk zu setzen liebte.

Nur einen Raum des Gerichts behütete mein Vater vor dem Eindringen jeglicher privater Ausschweifung: es war dies der Sitzungssaal mit dem langen Tisch, der mit einem grünen Tuch mit goldenen Troddeln bedeckt war und auf dem der „Gerichtsspiegel“ stand. Keiner von den Unterbeamten durfte diesen Raum betreten, dessen Schlüssel der Vater ständig bei sich bewahrte. Er selbst betrat das Heiligtum stets mit einem feierlichen Gesichtsausdruck, als träte er in die Kirche, und dies gab für die anderen den Ton an. Nach seinem Beispiel pflegten in den Sitzungsstunden auch die Beisitzer ihre Sitze einzunehmen, unter denen auch gewählte Ständevertreter waren. Einer von ihnen war der Jude Rabinowitsch. Zu jener Zeit hatte man noch nicht viel von der „Judenfrage“ gehört, aber auch der heutige bösartige Antisemitismus war noch unbekannt. Das Gesetz hielt es für recht und billig, daß im Gericht, wo auch Angelegenheiten der Juden zur Entscheidung kamen, ein Vertreter der jüdischen Bevölkerung Sitz und Stimme hatte. Und wenn Rabinowitsch, ein typischer Semit, mit seinem rabenschwarzen Vollbart und dem krausen Haar, im silbergestickten Uniformrock mit Degen in den Sitzungssaal trat, so hätte niemand in ihm den kleinen Händler wiedererkannt, der in der übrigen Zeit in seinem Laden oder hinter dem Wechslertisch saß. Der „Gerichtsspiegel“ schien auch auf ihn einen leuchtenden Widerschein auszustrahlen.

Dieser „Gerichtsspiegel“ bildete gleichsam das geistige Zentrum des ganzen muffigen Gebäudes, das sonst mit elenden Wesen in der Art Kryschanowskis oder Lazkowskis angefüllt war. wenn es uns Kindern gelang, in nichtdienstlichen Stunden in das Allerheiligste einzudringen, so pflegten auch wir besonders vorsichtig vor dem Spiegel vorbeizugehen: er kam uns wie eine Art Zauberlade vor. War doch ein „vor dem Spiegel“ geäußertes unvorsichtiges Wort kein einfaches Wort mehr, sondern es zog ernste Folgen nach sich.

Einmal kam in diesem ersten Herbst nach unserer Übersiedelung in die Stadt die Nachricht, daß der Gouverneur zur Revision nach Rowno komme. In Schitomir, wo der Gouverneur seinen ständigen Sitz hat, hatten wir wenig von ihm verspürt, hier aus der Ferne wirkte er als eine Art Komet, der sich gegen die zitternde Erde bewegte, um sie zu zerschmettern. Die Polizeiwachtmeister kamen auf die Nachricht hin in Bewegung, man fing an die Straßen zu reinigen. Seit langem zerbrochene Laternen wurden durch neue ersetzt. Im Gerichtsgebäude kamen die Fußböden unter gründliche Scheuerung, und die Akten wurden Hals über Kopf „erledigt“ und geheftet. Mein Vater war in Aufregung. Seine dienstlichen Angelegenheiten befanden sich zwar in musterhafter Ordnung, aber er war sich zweier wunden Stellen bewußt: er hatte eine Polin zur Frau und selbst war er gelähmt. Im Gouvernement war aber schon das Wort des neuen Gouverneurs im Umlauf: ... „Ich bin ein rüstiger Meister und brauche rüstige Gesellen.“ In Dubno war auch schon ein Richter wegen Krankheit entlassen worden.

Er kam ... Er stieg bei dem Polizeihauptmann ab ... Er war auf dem Polizeiamt, im Rentamt ... Der Vater begab sich in neuer Uniform und mit dem Wladimirorden im Knopfloch ins Gericht. Die Mutter bekreuzte ihn beim Abschied mit dem verpönten polnischen Kreuz und schickte uns Buben Wachtposten stehen. Unser Beobachtungsposten befand sich in den Sträuchern gegenüber den Fenstern des Sitzungssaales. „Er“ war noch nicht da, aber zwei – drei stutzerhafte Beamte aus seiner Gefolgschaft wühlten schon in den Akten, die ihnen der Sekretär ehrerbietig darreichte. Es ging gegen Abend. Man zündete im Saal die Kerzen an, – ungewöhnlich viel Kerzen ... Der Gerichtsspiegel, der mit Schlemmkreide frisch geputzt worden war, strahlte in unbeschreiblichem Glanz. Der ganze Saal atmete Feierlichkeit und Strenge. .. Nun wurde am Tor Wagengerassel hörbar. Der Vater und die Beisitzer erhoben sich von ihren Sitzen. Der Gehilfe des Polizeihauptmanns riß eigenhändig die Türflügel des Sitzungssaales weit auf, und in der Tür erschien im strahlenden Glanze wie ein zweiter Gerichtsspiegel die brave Generalsgestalt des Gouverneurs, hinter ihr die gepflegten Physiognomien der „Beamten für besondere Missionen“, und im Hintergrund durch die Türöffnung die bis zur Unkenntlichkeit veränderte Kanzlei, ganz in Licht und Ehrfurcht getaucht.

Wir stürzten zur Mutter. „Nun, wie?“ fragte sie ängstlich.

„Er ist gekommen, hat dem Papa die Hand gegeben... Ließ ihn Platz nehmen“ ... Ein Seufzer der Erleichterung.

„Gott sei Dank!“ ... Die Mutter bekreuzt sich inbrünstig.

„Gott sei Dank“, wiederholen die Damen, die sich in zitternder Schar in unserer Wohnung drängen. „Ach, wie wird es unseren Gatten ergehen?“ ...

Ich kann mich nicht entsinnen, daß nach dieser ersten Revision, der beizuwohnen mir beschieden war, in meinem Hirn irgendwelche kritischen Gedanken aufgetaucht wären, daß ich mir etwa die Frage vorgelegt hätte: welcher Natur war denn dieses über unsern Häuptern plötzlich zur Entladung gekommene Gewitter? oder die Frage: weshalb benahmen sich die stutzerhaften Herrchen vom Geleite des Generals so ungezwungen, während mein verdienter und allgemein geachteter Vater vor ihnen wie ein Schuljunge bei der Prüfung stehen mußte? Oder auch die Frage: weshalb durfte dieser majestätische General mit einer Handbewegung die Existenz einer ganzen Familie vernichten, ohne daß irgend jemand von ihm Rechenschaft forderte, ob dies auch recht getan wäre? Solche Fragen existierten dazumal für mich so wenig, wie sie für meine ganze Umgebung existierten. Der Zar „darf alles“, der General hat einen Stein im Brett beim Zaren, die Stutzer aber beim General. Also dürfen auch sie alles. Man muß Gott danken, daß sie uns nicht samt und sonders vernichtet, nicht alle verjagt, daß sie noch diesen und jenen mit heiler Haut davon gelassen haben. Wenn der Komet seinen Lauf im Weltraume weiter fortsetzte und am Orte die Resultate seines Durchganges gezählt wurden, dann stellte sich zumeist heraus, daß Dienstentlassungen, Strafversetzungen, Degradationen ohne jeglichen ersichtlichen Sinn, nach purem Zufall trafen, etwa so wie das Gewitter zufällig in einen Baum einschlägt und den anderen stehen läßt. „Die obrigkeitliche Gewalt“ wurde den Unterbeamten auf diese Weise jedesmal sehr nachdrücklich zu Gemüte geführt, aber als eine rein elementare blinde Gewalt, von der weder Sinn noch Zweckmäßigkeit zu erwarten waren. In einigen Beamtenfamilien wurden darauf Dankgebete abgehalten, in anderen weinte man und rief: wer mag denunziert haben, wer hat geklatscht, wer war der Ohrenbläser? Als Schuldige galten eben die „Angeber“. Sie waren es, die das Gewitter angezogen hatten. Das Gewitter selbst hingegen war jenseits von Gut und Böse. Es mußte augenscheinlich in dieser Weise verfahren, gemäß den Naturgesetzen, die sein Wesen regierten, Das rechtlose und widerstandslose Milieu wußte sich unter der Zuchtrute der Obrigkeit nur wie unter dem Anprall eines Wirbelwindes demütig und zitternd zu beugen.

 

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1) Tag der Gehaltsauszahlung in Rußland (nach altem Kalender). D. Ü. 

2) Polnisch: Frau Richter. D. Ü.