BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Erster Band

Frühe Kindheit

 

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Das „Jenseits“ und die mystische Furcht.

 

Ich kann mich kaum entsinnen, wann ich zum ersten Male vom „Jenseits“ hörte. Das kommt wohl daher, weil dies sehr früh der Fall war, und das Wort mir eher vertraut wurde, als seine eigentliche Bedeutung.

Ich wußte, soweit ich zurückdenken kann, daß wir ein kleines Schwesterlein, die Sonja, gehabt hatten, das gestorben war und sich im „Jenseits“ beim lieben Gott befand. Diese Vorstellung war mit Trauer vermischt, denn die Mutter hatte, wenn man von Sonja sprach, gewöhnlich Tränen in den Augen. Zugleich war es aber eine lichte Vorstellung: die kleine Sonja ist ein Engel, hat es also sehr gut. Und da ich sie nie gekannt hatte, so schwebte sie selbst und ihr Engeldasein mir im „Jenseits“ wie ein kleiner leuchtender Nebelfleck vor, der nichts Mystisches an sich hatte und mir keinen besonderen Eindruck machte.

Dann hatte sich der Hausbesitzer, Pan Kolanowski, ins „Jenseits“ begeben. Dieser pflegte dem Gerücht zufolge von dort bei Nacht zurückzukehren, und wenn ich vor ihm zunächst keine Furcht empfand, so lag in seinem Benehmen doch schon etwas Befremdendes. Er hatte gesagt, er werde mir doch „entwischen“, so spielte er gleichsam Verstecken, und nun kam er vor seinen Angehörigen und dem Gesinde insgeheim zurück. Das war unbegreiflich, beinahe hinterlistig, in allem Unbegreiflichen aber, was uns nahe berührt, steckt schon ein Element der Furcht.

Zwei oder drei Jahre später leuchtete „Das Jenseits“ vor uns Kindern plötzlich auf – diesmal unheimlich und grell, wie ein Wetterleuchten in dunkler Nacht ...

Wir waren mit einem Knaben bekannt, der in unserem Alter stand und Slawek Lissowski hieß. Ich weiß nicht, was das für ein Name ist 1), aber so wurde er gerufen, und uns gefiel der Name, wie wir auch den Knaben sehr gut leiden mochten. Er trug immer ein ganz kurzes Jäcklein mit weißem Krägelchen, war sehr schlank und über sein Alter hochaufgeschossen. Als er uns das erste Mal besuchte, kam er selbst, wie auch sein Gang, sein kurzes Jäcklein, sein weißer Kragen und seine

Manschetten, uns außerordentlich komisch vor. Doch schon eine halbe Stunde später erwachte in dem langstieligen Knaben eine solche Fülle ursprünglicher Munterkeit und Schelmerei, daß wir ganz hingerissen waren. Und jedesmal, wenn er zu uns kam, brach bei uns eine tolle Ausgelassenheit aus, die weit über die Grenzen unserer üblichen Spiele hinausging.

Einmal blieb er fast den ganzen Tag bei uns, und wir waren besonders mutwillig. Wir kletterten auf Zäune und Dächer, bewarfen einander mit Steinen, stiegen in fremde Gärten, beschädigten Bäume; Slawek zerriß an einem wilden Birnbaum sein Jäcklein, – überhaupt trieben wir so viel Unfug, daß uns noch zwei Tage nachher vor den Folgen angst und bange war. Alle hatten wir ein schlechtes Gewissen ...

Und nun geschah es am dritten Tage um drei Uhr, bald nachdem sich das übliche Wagengerassel im Hofe vernehmen ließ, daß wir statt zu Tische in Vaters Zimmer gerufen wurden. Überzeugt, daß nun das dicke Ende unserer Streiche bevorstehe, traten wir leise und einigermaßen gedrückt ein. Im Zimmer fanden wir die Mutter mit einem ergriffenen, von Tränen feuchten Gesicht; auch der Vater schien ergriffen und traurig.

„Kinder“ sagte er, als er unser ansichtig wurde, „ich muß euch eine sehr traurige und schreckliche Nachricht mitteilen: Slawek ist gestern abend gestorben.“

Keins von uns erwiderte etwas, und den Erwachsenen mochte es vorkommen, daß diese Nachricht auf uns Kinder keinen Eindruck gemacht hatte. Wir verließen leise das Zimmer und setzten uns an den Tisch. Aber keines von uns freute sich, daß der Schreck der väterlichen Züchtigung vorübergegangen war. Wir ahnten ein anderes, geheimnisvoll düsteres Schrecknis ... Am nächsten Tage wurden wir zum Begräbnis Slaweks geführt. Seine Eltern wohnten in der sandigen Friedhofstraße, dicht am Friedhof, und ich bekam zum erstenmal eine Ahnung, was Tod sei ... Slawek lag, ebenso schlank, fast noch höher aufgeschossen, in demselben dunkelgrünen Jäcklein mit weißem Kragen auf dem Tisch, genau wie Pan Kolanowski, er war ganz weiß im Gesicht und unbeweglich. Um ihn brannten Kerzen mit gelber Flamme, die Luft war dick und von einem besonderen Geruch erfüllt; im Zimmer hörte man leises Flüstern und Seufzen. Als aber Slawek mitsamt dem Sarge hochgehoben und aus dem Zimmer hinausgetragen wurde, stürzte ihm seine Mutter verzweifelt nach, schrie, man solle sie zusammen mit dem Sohn in die Erde legen, und jammerte, daß sie an seinem Tode selbst die Schuld trage.

Abends flüsterte bei uns in der Küche die Dienerschaft, daß Slawek von seinen Eltern wegen des zerrissenen Jäckleins und der ausgelassenen Streiche die Rute gekriegt hatte. Er küßte ihnen die Hände, versprach, es nie wieder tun zu wollen, bat, ihm die Strafe nur diesmal zu erlassen und ihn lieber ein anderes Mal desto härter zu bestrafen, denn diesmal – rief er – würde er unbedingt daran sterben. „Sein Herz ahnte es also“, fügte man bedeutsam hinzu. Die Eltern wollten es jedoch nicht glauben und züchtigten ihn sehr hart. Gleich in der folgenden Nacht kriegte er hohes Fieber. Man holte den Arzt, allein tags darauf verschied der Junge gegen Abend, wie der Arzt meinte: „an einer Halsentzündung“ ...

Ich erinnere mich nicht mehr, ob wir mit auf dem Friedhof waren. Wohl kaum, denn ich entsinne mich weder des Grabes noch des Versenkens in die Erde. Bei uns wurde den ganzen Tag über nur von diesem Todesfall gesprochen. Die Mutter sah geängstigt aus: sie war um uns besorgt, – obwohl man damals noch nicht so sehr an Ansteckung glaubte –, auch trauerte sie um fremdes Leid.

Es war, glaube ich, am gleichen Tage, daß uns Pan Skalski, ein guter Freund meines Vaters und mein Pate, abends besuchte. Er hatte selbst ein Jahr zuvor einen Sohn verloren, der in Kijew im Kadettenkorps studierte. Sein Schmerz, der noch nicht ganz geheilt war, erneuerte sich nun, und er erzählte uns, wie er den Tod seines Sohnes erfahren hatte.

Auf eine Nachricht des Vorstehers der Kadettenanstalt hin war er gleich nach Kijew gefahren. Ehe er aber in der Stadt anlangte, war es mittlerweile Abend und zu spät geworden, um noch in die Anstalt zu gehen. Er stieg also im nächsten Gasthof ab und blieb lange am offenen Fenster sitzen. Es war ein warmer heller Abend. Der Gedanke an den kranken Sohn wich nicht von ihm. Endlich schloß er das Fenster und blies das Licht aus ...

„Da höre ich plötzlich“, erzählte Skalski mit ruhiger, trauriger Stimme, „höre, wie jemand an die Scheiben klopft, so: ein-, zwei- dreimal ... Ich stehe auf und trete ans Fenster: Niemand ist zu sehen. Auch lag das Zimmer im zweiten Stock. Ich lege mich also hin und höre wieder: poch – poch, poch – poch! Jemand bittet leise um Einlaß. Und der Mond scheint taghell, das Licht flutet nur so herein. Ich stehe wieder auf, trete ans Fenster und blicke hinaus, – da schlägt etwas in der Tat an die untere Scheibe, so ein kleines Knäuelchen schlägt gegen das Glas und pocht ... Ich laufe schnell wieder ans Fenster, reiße es auf“ ...

„Nun, und?“ fragte der Vater. „Ein Maikäfer war's,“ antwortete Skalski mit traurigem Ernst.

„Ein Maikäfer?“

„Ja, ein großer dunkler Maikäfer. Er schwirrte vom Fenster weg und flog – in der Richtung zur Kadettenanstalt. Ich blickte ihm nach und hörte noch eine Zeitlang sein Brummen, ganz wie Ächzen hörte es sich an ... Und da schlug gerade die Kirchenuhr. Ich zähle: elf war es“ ...

„Nun, was ist denn dabei?,“ meinte wieder ruhig mein Vater. „Ein Maikäfer war vorbeigeflogen, das ist alles.“

„Warte mal,“ versetzte Skalski. „Am anderen Morgen gehe ich in die Kadettenanstalt. Ich frage beim Portier: Wo kann ich hier meinen kranken Sohn sehen?“ „Belieben Euer Wohlgeboren in die Leichenkammer zu gehen,“ sagt mir der Mann. Dann berichtete man mir: Schlag elf Uhr war er gestorben. Er also war es gewesen, den ich nicht ins Zimmer gelassen hatte. Seine Seele kam geflogen, um Abschied von mir zu nehmen.“

„Ach was! Belehre Kranker den Medikus!“ rief mein Vater. „Nichts als Köhlerglaube und Ammenmärchen. Der Junge ist an seiner Krankheit gestorben, und der Maikäfer hat nichts damit zu tun. Fliegen nicht genug Maikäfer herum?“

„Nein, sage das nicht. Er pochte an die Scheibe so ... ganz eigentümlich. Und dann schwirrte er fort und ächzte. Ich aber blickte ihm nach, und mein Herz wollte mir aus der Brust springen.“

Mein Vater war ein innig religiöser Mensch, jedoch von Aberglauben völlig frei, und seine nüchterne, mitunter humoristische Art, gruselige Erzählungen zu kommentieren, pflegte unsere Phantome und Ängste in hohem Maße zu verscheuchen. Allein diesmal, bei der Erzählung vom sterbenden Sohn und vom Maikäfer drang mir jedes Wort Skalskis, das von tiefer Überzeugung des erlebten Leids bebte, in die Seele. Und schon war es mir, als höre auch ich etwas an unsere Fensterscheibe schwirren und pochen ...

An jenem Abend waren wir später als gewöhnlich schlafen gegangen, und ich erwachte tränenüberströmt mitten in der Nacht. Ich hatte einen schrecklichen Traum gehabt, dessen Einzelheiten mir nicht klar waren und die nur einen wirren Knäuel vor mir bildeten. Ich hatte dennoch den Slawek gesehen, hörte ihn um irgend etwas bitten, flehen und schluchzen ... Mein Herz krampfte sich vor tiefem Mitleid und zugleich vor Furcht zusammen. Im Nebenzimmer stand ein Leuchter mit brennender Kerze auf dem Fußboden, man hörte die Atemzüge meiner schlafenden Geschwister, hinter dem Fenster seufzte der Wind ... Ich wußte, daß dort draußen unser Hof lag, die Gartenwege, die alte Laube am Ende der Allee. Aber bei dem bloßen Gedanken, daß auf diesen mir so wohlbekannten Wegen nun vielleicht der alte Kolanowski und Slawek umhergingen, schnürte mir Grauen und Mitleid die Brust zusammen ... Ich brach in Schluchzen aus.

Meine Mutter, die mich oft zur Nacht in ihr Bett zu nehmen pflegte, hörte mein Wimmern, erwachte und drückte mich an sich. Ich erfaßte ihren Arm, schmiegte mich an ihn und bedeckte ihn mit Küssen. Die Berührung ihres warmen lebendigen Körpers und ihre Liebkosungen beruhigten mich und ich schlief bald wieder ein. Doch selbst im Einschlafen fühlte ich, daß irgendwo in der Nähe, hinter den verriegelten Fensterläden, in dem dunklen Garten, in den von Finsternis erfüllten Winkeln des Zimmers irgend etwas Fremdes lauerte, – ein unheimliches lebendiges Wesen, etwas von dem geheimnisvollen Leben des „Jenseits“, das dem unsrigen aus irgendeinem Grunde feind ist ...

So war die mystische Furcht in unseren Kinderseelen schon im Keime da, und die Umgebung trug natürlich nur dazu bei, sie großzuziehen. Mein Schwesterlein, das um 2-1/2 Jahr jünger war als ich, hatte eine alte Amme, die auch auf uns aufpassen sollte. Das war ein ganz kleines Hutzelweibchen mit verschrumpftem Gesicht und einer großen Haube auf dem Kopf, der dadurch ganz enorm erschien. Dieses alte Weiblein wußte eine Menge schrecklicher Erzählungen, übrigens vorwiegend Räubergeschichten. Besonders tiefen Eindruck machte mir eine Geschichte von der Mutter und Tochter. Der Räuber hatte die Mutter mit der Tochter allein im Hause getroffen und forderte ungestüm, sie sollten ihm ihr ganzes Geld hergeben. Die Mutter sagte, das Geld sei im Keller und führte den Räuber dahin. Die Tochter leuchtete voran mit der Laterne, ihr folgte der Räuber und die Mutter ging hinterdrein. Als der Räuber eingetreten war, schlug die Mutter die Kellertür zu. Die Tochter war mit dem Räuber allein geblieben. Das Weitere war ein kurzes Poem des Martyriums und des Todes. Die Tochter fleht aus dem Keller: „Schließ auf, schließ auf, lieb Mütterlein, sonst ist es um dein Kind geschehen“ ... „Weh uns, weh uns, lieb Töchterlein, und schließe ich auf, so ist es um uns beide geschehen“ ... „Schließ auf, schließ auf, lieb Mütterlein,“ fleht wieder die Tochter ... Und so entwickelt sich Schritt für Schritt in dem Dialog an der verschlossenen Kellertür das Bild bestialischer Martern, die mit einem letzten Aufschrei enden: „Schließ nicht auf, schließ nicht auf, lieb Mütterlein, denn schon hat er deinem Kinde den weißen Leib aufgeschlitzt“ ... Und dann wird es in dem dunklen Keller still.

Die Alte belebte sich selbst bei diesen Schauergeschichten. Tagsüber pflegte sie meist auf ihrem Stuhl zu schlummern und im Schlaf Federn zu schleißen; ganze Berge des weißen Flaums erwuchsen vor ihr auf dem Boden. Abends hingegen im Halbdunkel des Schlafzimmers ließ sie sich, an der eigenen Erzählung erwärmt, von der Sache selbst hinreißen. Sie trug mit Baßstimme die Rolle des Räubers vor und im weinerlichen Rezitativ die der Mutter. Als aber die Tochter ihren letzten Abschied nahm, da vibrierte die Stimme der Alten in erstickter Klage und erstarb, als käme sie tatsächlich aus einem unterirdischen Verließ ...

Auf diese Weise gedachte die gute Alte uns in den Schlaf zu wiegen, der Schlummer floh uns aber natürlich wie ein aufgescheuchter Vogel; wir pflegten nach solchen Erzählungen vor Angst die Decke über den Kopf zu ziehen und schliefen erst spät in der Nacht ein.

Die richtige Poesie der mystischen Furcht jedoch sogen wir in der Küche an den langen Winterabenden ein, wenn unsere Eltern irgendwohin zu Besuch fuhren, wir aber bis in die späte Nacht hinein bei dem Gesinde hockten. Unsere Amme pflegte ihr Abendbrot in der Küche zu essen, und wenn eines von uns bis dahin noch nicht eingeschlafen war, so hielten wir es für unser gutes Recht, sie dorthin zu begleiten, denn auf der anderen Seite der Wohnung allein zu bleiben, hätten wir nicht über uns gebracht.

In der Küche war es stets mollig, die Luft war von einem besonderen satten Duft erfüllt, Schaben krochen langsam an den Wänden. Das Heimchen zirpte hinter dem Ofen, das Spinnrad surrte und „Pani Budzynska“, unsere Köchin, gab verschiedene Erlebnisse aus ihrer Kindheit zum Besten. Sie war auch schon eine ältere Frau, hatte sogar einen erwachsenen Sohn, der „in der Kanzlei“ angestellt war und der sie Sonntags zu besuchen pflegte; sie sah aber noch rüstig und stattlich aus. Ihr Vater hatte einst in früheren Jahren als „Tschumak“ gelebt, d.h. er zog jedes Jahr mit anderen Bauern auf ochsenbespannten Wagen nach der Krim, um Fische und Salz einzuhandeln; da ihre Mutter früh gestorben war, so nahm der Vater sie gewöhnlich mit. So verfloß ihre Kindheit in tschumakischen Wanderungen, auf knarrenden Fuhren, bei Nachtlagern in der endlosen freien Steppe. Und auf diesen Wanderzügen hatte sie „mit eigenen Augen“ gar viel Geheimnisvolles und Wunderbares gesehen.

Einmal war der Vater mit seinem Wagen hinter dem Transport zurückgeblieben und mußte ihn weit in der Steppe bei fallender Nacht einholen. Die Nacht war taghell (die meisten ihrer gruseligen Geschichten pflegten sich gerade in hellen Nächten zu begeben). Der Mond schien vom hohen Himmel herab und jedes Grashälmchen war in der Steppe zu sehen. Das Mädchen war auf dem Wagen eingeschlafen, wurde aber plötzlich munter. Der Vater schritt neben dem Wagen, murmelte etwas vor sich hin und trieb von Zeit zu Zeit die Ochsen an. Das Mädchen blickte sich in der Steppe um und bemerkte weit am Saume eines kleinen Wäldchens, über einer Schlucht, eine weiße Gestalt. „Papa,“ sagte sie „schau, dort geht wer Weißer am Wald entlang.“ „Schweige still, Töchterlein,“ flüsterte der Vater „bete rasch ein Vaterunser.“ Sie fing zu beten an, so gut sie konnte, die weiße Gestalt aber flitzte rasch im Kreise herum, erst am äußersten Rande der Steppe, dann immer näher und näher zum Wagen. Und wie sie sich näherte, konnte man sehen, daß es ein Weibsbild mit geschlossenen Augen war, das wuchs und wuchs immer höher über den Wald hinaus, bis an den Himmel. „Bete, Töchterlein, bete was du kannst“, sagte der Vater, „dein Gebet hat mehr Kraft.“ ... Und sie schrien beide in der öden Steppe alle Gebete, die sie kannten, schrien in ihrer Herzensangst immer lauter und lauter ... Alsdann fing die Gestalt, gerade wie wenn jemand sie zurückstieße, sich zu entfernen an, drehte sich wieder im Kreise herum, bis sie zu einem kleinen weißen Fleck am Waldrande zusammenschrumpfte. Just blinkten auch schon die Feuer des Tschumakenlagers ganz in der Nähe ...

Ein anderes Mal waren sie wieder hinter dem Transport zurückgeblieben und mußten nachts zwischen Sümpfen über einen langen Damm fahren, der zu einer Mühle führte. Die Nacht war natürlich wieder taghell, in Mühlen aber und in Bruchteichen treibt der Böse – wie alle Welt weiß – mit Vorliebe sein Unwesen. Das Mädchen lag wieder wach auf dem Wagen und bemerkte, kaum, daß sie den Damm befuhren, daß hinter ihnen ein kleines Ding „als wie ein Mäuslein“, daherlief. „Papa,“ sagte sie zum Vater, der eingenickt war, „schau, da läuft ein Mäuslein hinter uns her.“ Der Vater schaute sich um und fing gleich an, Kreuze zu schlagen. „Bete, Töchterlein, ein Vaterunser“ ... Wieder beteten sie beide, was sie konnten, indessen wuchs die Maus zu einer Ratte an, bald war sie wie eine Katze, dann wie ein Fuchs, wie ein Wolf, schließlich wie ein junges Bärchen. Dieses wuchs zu einem ansehnlichen Bären an und fuhr immer noch zu wachsen fort, so daß in dem Moment, wo sie das Ende des Dammes erreichten, und bei der Mühle anlangten, das Untier die Mühle bereits überragte, hier stellte sich zum Glück heraus, daß auch der ganze Tschumakentransport sich verspätet und hinter der Mühle auf der Wiese ein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Man vernahm auch von dorther bereits Stimmen, Gesang und Geschrei. Als der Böse die Feuer und eine solche Menge Christenvolkes sah, richtete er sich auf zwei Beinen in die Höhe, stieß ein dumpfes Geheul aus und stürzte sich kopfüber in den Pfuhl ... Der Vater erreichte nun das Lager und bat, ihn mit seinem Wagen in die Mitte vorzulassen. Als die Tschumaken erfuhren, was ihm widerfahren, erkannten sie sein Begehren als berechtigt an, schoben ihre Fuhren auseinander und machten ihm den Platz frei. Der Vater war aber ein Mensch, der „Bescheid wußte“, deshalb zog er, ehe er sich schlafen legte, mit dem Peitschenstiel rings um den Wagen einen Kreis, schlug ein Kreuz darüber und besprach ihn mit kräftigen Beschwörungen. Und das war gut so. Denn nachts suchte offenbar jemand im schlafenden Lager nach ihm und seinem Töchterlein herum. Am Morgen zeigte sich, daß das ganze Lager in der größten Unordnung war, als wenn es von einer unsichtbaren Macht durcheinandergerüttelt und umhergeschleudert worden wäre, so daß die Wagen ganz verkehrt standen, die Tschumaken lagen jeder auf einer fremden Fuhre, einige waren sogar vom Lager weg in die Steppe verschlagen ...

Das sind zwei Geschichten aus Pani Budzynskas Schatze. Sie wußte aber noch eine Menge anderer: von Wassernixen, Hexen, von Toten, die ihre Gräber verließen. Sie alle bezogen sich freilich auf vergangene Zeiten, Pani Budzynska gab zu, daß neuerdings das Volk schlauer geworden sei, weshalb der Spuk wesentlich abgenommen habe. Immerhin wurden Beispiele auch aus der jüngsten Zeit angeführt.

Es traf sich, daß mitten in einer solchen Erzählung einmal meine Mutter in die Küche trat. 5ie hörte die Geschichte aufmerksam bis zu Ende und sagte dann:

„Sieh, Budzynska, du bist doch eine alte Frau und erzählst nun solchen Unsinn. Schämst du dich denn nicht? Deine Tschumaken hatten einfach zu tief in die Flasche geguckt, das ist alles.“

Die Budzynska war sehr gekränkt.

„Ich habe mein Lebtag noch nicht gelogen,“ gab sie mit großer Würde zurück. „Aber man weiß ja, heute wollen einem die Herrschaften kein Wort mehr glauben ...“

Ich wurde stutzig. Die gruseligen Geschichten erdrückten förmlich unsere Kinderseelen, wenn wir abends aus der Küche wieder ins Schlafzimmer gingen und dabei im Korridor an einem dunklen Ofenloch vorbei mußten, das aus irgendeinem Grunde immer offen blieb, so hatten wir die größte Angst auszustehen, wir waren sicher, daß sich aus diesem Loch einmal unbedingt ein Arm vorstrecken und nach uns greifen würde: eine zottige schwarze Bärentatze oder umgekehrt eine weiße Totenhand, wie wir sie bei Kolanowski und bei Slawek gesehen hatten. Wir rannten gewöhnlich, wenn wir an dieser Öffnung anlangten, wie wahnsinnig vorwärts und stürzten atemlos und bleich ins Schlafzimmer ...

Nun wirkte schon die sichere Überzeugung der Mutter, daß all dies Unsinn sei, beruhigend und schwächte den Eindruck der Erzählungen erheblich ab. Wenn ich mich jetzt an die holde Gestalt meiner jungen Mutter erinnere, wie sie in der halbdunklen, von einem schwälenden Talgstümpchen beleuchteten Küche stand, mitten in der Atmosphäre herzbeklemmenden Gruselns, so schwebt mir ihr Bild wie ein lichter Engel, dessen ungläubiges überlegenes Lächeln allein den finsteren Spuk der Nacht verscheucht, vor Augen.

Gleichzeitig fühlte ich jedoch lebhaft, daß Pani Budzynska keine Lügnerin sei und daß in ihren Erzählungen von bewußter Unwahrheit nichts enthalten war. Natürlich machte ich nicht einmal den Versuch, diese widersprechenden Eindrücke miteinander auszusöhnen, von Halluzinationen und den Autosuggestionen war dazumal noch nichts bekannt, auch der Vater hatte bei seinen „Gelehrten und Philosophen“ nichts darüber entdeckt.

So kam es, daß wir immer mehr und mehr der Macht des „Jenseits“ verfielen, das uns von lauernden feindlichen Geistern erfüllt schien. Einmal schrie mein Bruder in der Nacht gräßlich auf und erzählte, als alle durch sein Geschrei wach wurden, daß aus dem dunklen Nebenzimmer ein Teufel auf ihn zugekommen sei und vor seinem Bette recht höflich und spöttisch einen Diener gemacht habe.

Seitdem litten wir öfters an solchen Halluzinationen. Ich war, glaube ich, der nervöseste unter uns Buben und hatte deshalb die meisten Qualen auszustehen. Meine Brüder pflegten früher einzuschlafen, ich aber wälzte mich gewöhnlich lange im Bette und erzitterte bei dem geringsten Geräusch. Besonders schrecklich war es, wenn die Eltern fortgingen, und dies geschah eine Zeitlang sehr oft. Nachdem der Vater seine Eifersuchtsanfälle überwunden hatte, suchte er sie offenbar wieder gut zu machen und führte die Mutter häufig zu Abendgesellschaften aus, wo sie sich dem Tanz widmete, während er selbst mit älteren Herren Schach oder Karten spielte. An solchen Abenden pflegten unsere Stubenmädchen in die Küche oder in die Nachbarschaft zu verschwinden, bei uns aber blieb bloß die alte Amme, die gewöhnlich bald einnickte. Ich fürchtete mich, allein zu bleiben, fürchtete mich über den dunklen Korridor zu gehen, fürchtete mich ins Bett zu legen. Zuweilen schlief ich denn auch vor Müdigkeit irgendwo im Winkel ein, indem ich auf dem Koffer saß und ins dunkle Nebenzimmer starrte. Die Finsternis wimmelte von wesenlosen Gestalten, die hin und her wogten und manchmal in den Vordergrund traten. Am häufigsten erschien ein schlanker stutzerhafter Herr, der eigentlich nichts Schreckliches an sich hatte, als daß er in der Dunkelheit schlich, wahrscheinlich war er eine Ausgeburt meiner Augenermüdung, denn er bewegte sich immer in einer Kurve, wie jene Lichtflecke, die wir manchmal im eigenen Auge sehen und die sofort im Bogen vorbeihuschen, wenn man sie festhalten will. Derselbe Herr erschien mir auch in den Träumen, doch das größte Grauen packte mich jedesmal, wenn sich in meinem Traumgesicht ein gewisser Offizier zeigte. Er trat gewöhnlich aus der Dunkelheit und blieb einige Sekunden lang regungslos stehen. Er hatte ein gewöhnliches, ich glaube sogar, recht hübsches Gesicht, doch blieben mir seine Züge nicht im Gedächtnis haften, nur der Eindruck blieb, daß sie sehr bleich waren. Nachdem er einen Moment still gehalten hatte, beugte er sich vor und fing an auf mich loszugehen, und dies war das Schrecklichste. Er beschleunigte seine Schritte immer mehr, dann ergriff uns beide ein Wirbel und wir sausten mitten in einen seltsamen Lärm, wieder in einer Kurve, in einen bodenlosen Abgrund hinab.

Ich erwachte jedesmal mit Herzklopfen, in Schweiß gebadet. Im Zimmer waren die Atemzüge meiner schlafenden Brüder zu hören, aber diese vertrauten Laute schienen in etwas Fremdes und Seltsames gehüllt, das sich aus dem Jenseits hineingeschoben hatte. Im Nebenzimmer ticktackt die Wanduhr, die heruntergebrannte Kerze knistert. Die alte Amme schreit auf und murmelt im Schlaf. Auch sie ist mir fremd und schrecklich ... Der Wind rüttelt am Fensterladen, als wenn etwas Lebendiges von außen an ihm zerrte, und die Scheiben klirren leise. Jemand atmet und geht mit unhörbaren Schritten umher, und blickt aus blinden Augen, jemand, der Unnennbares erduldet und der unsagbares Leid bringt ...

Die Vorstellung von Gott übte dabei gar keine Wirkung auf uns aus. Gehört hatten wir von ihm so ziemlich vom ersten Lebenstage an, jedoch „glauben“ lernten wir, wie mir scheint, an den Bösen eher als an den lieben Gott ... In jener qualvollen Periode meiner Kindheit war mein Begriff von Gott sehr verschwommen. Bei diesem Wort pflegte irgendwo auf dem Grunde meines Bewußtseins die Vorstellung von etwas sehr Umfangreichem und durchaus Hellem, aber Unpersönlichem aufzutauchen. Etwa wie ein unendlich großer, unendlich feiner Sonnenfleck schwebte er mir vor. Aber das Sonnenlicht übte nachts keine Wirkung aus, und die Nacht war ganz in die Gewalt des feindlichen „Jenseits“ gegeben, das sich jedesmal mit einbrechender Finsternis in den Bereich des gewohnten Lebens hineinschob.

Ich muß dabei bemerken, daß der eigentliche Teufel in unseren Kindervorstellungen die bescheidenste Rolle spielte. Nachdem er meinem Bruder einmal erschienen war, meldete er sich nicht wieder, und ließ er sich blicken, so jagte er uns keinen großen Schreck ein. Zum Teil mag dies damit zusammenhängen, daß in der Phantasie des ukrainischen wie des polnischen Volkes der Teufel nun einmal als die putzige Figur eines kurzbeinigen „Deutschen“ lebt. Noch mehr hat aber dazu ein altertümliches dickes, in Schweinsleder gebundenes Buch getan, das mein Vater einmal aus Kijew mitgebracht hatte: Das „Heiligenbuch des Klosters zu Petschora“.

In diesem von Unwissenheit und Aberglauben strotzenden, dabei durchaus aufrichtigen Machwerk wimmelte jede Seite von Abbildungen größerer und kleinerer Teufel, die den frommen Einsiedlern zu erscheinen pflegten. Auf den plumpen Holzschnitten war die Teufelsbrut als ein Haufen lächerlicher Halbaffen mit geringelten Schwänzchen und mit Hörnlein dargestellt, und stets zeigten sie sich hier bloß als schalkhafte Plagegeister, die sich bald in Waschbecken versteckt hielten, wo sie von den Mönchen, wenn sie ertappt waren, zur Strafe bekreuzigt und eingesperrt wurden, bald in der Gestalt von Jungfrauen oder auch von Schweinen, großen Eidechsen, Schlangen und Hunden hineinschlüpften. Sie spielten den frommen Vätern jeden erdenklichen Possen, mitunter gelang es jedoch, der Schelme habhaft zu werden, dann bekamen sie ihre Strafe: sie mußten Holz schleppen und ähnliche Arbeit verrichten, zu guter Letzt pflegte man sie aber aus seltsamer Gutmütigkeit stets wieder freizulassen.

Mein Vater zeigte uns manchmal zum Spaß jene Bildchen und erzählte, was sie darstellen sollten. Dabei pflegte um seine Lippen dasselbe Lächeln zu spielen, das ich bei der Mutter damals in der Küche gesehen hatte, und in seinen Erzählungen hörten wir deutlich eine humoristische und spöttische Note heraus. Ich glaube, daß gerade jenes ehrwürdige Heiligenbuch, in dem ich übrigens später altslavisch lesen lernte, bei uns Kindern den schlimmen Ruf des Teufels beträchtlich gemildert hatte, und während wir an seine Existenz glaubten, verloren wir jeden Respekt und jede Furcht vor ihm.

Nicht der beschwänzte Teufel mit Hörnern und feurigem Rachen flößte uns Furcht ein. Es war die Vorstellung von einer anderen Welt mit ihren unfaßbaren und unheimlichen Eingriffen in das diesseitige Leben, was uns mit Grauen erfüllte. Geschah es, daß in der Nachbarschaft jemand eines plötzlichen Todes „unbußfertig“ verschied, dann bekam die Nachtfinsternis für uns alle Schrecken der Hölle: wir bebten, wenn der Wind hinter dem Fenster seufzte oder am Laden rüttelte, wenn die Bäume im Garten rauschten, wenn die alte Amme im Schlaf aufschrie, ja, wenn ein Maikäfer mit dumpfem Brummen an die Scheibe schlug ...

Es war das Rätsel des Lebens und des Todes, was uns schreckte, und vor diesem Rätsel standen wir Kinder damals im Grunde genommen wie die reinsten Heiden.

 

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1) Slawek ist eine Verkleinerungsform des polnischen Vornamens Wladyslaw oder Boleslaw. D. Ü.