BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Erster Band

Frühe Kindheit

 

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Die ersten Eindrücke des Daseins.

 

Meine Lebenserinnerungen beginnen sehr früh, die ersten Eindrücke, die ich bewahrt habe, sind jedoch zerstreut, gleichsam hell beleuchtete kleine Inseln inmitten farbloser nebliger Leere.

Die früheste dieser Erinnerungen weckt mir das grelle Bild einer Feuersbrunst. Ich mag damals im zweiten Lebensjahre gestanden haben, und doch sehe ich heute noch ganz deutlich die Flammenzungen am Dach eines Schuppens im Hof emporlecken, ich sehe mitten im nächtlichen Dunkel seltsam beleuchtete Mauern eines großen steinernen Hauses und den feurigen Widerschein in den Fensterscheiben. Ich weiß mich selbst, warm eingehüllt, bei irgend jemandem auf dem Arm, mitten in einem Häuflein Leute auf der Treppe. In dieser unbestimmten Menge weiß mein Gedächtnis die Gestalt meiner Mutter zu unterscheiden, zugleich sehe ich meinen hinkenden Vater, der sich beim Gehen auf seinen Stock stützt, die Treppe des steinernen Hauses im Hofe gegenüber hinaufsteigen, und mir ist, als ginge er direkt ins Feuer. Doch das erschreckt mich garnicht. Mich nehmen die im Hof wie Fackeln da und dort aufblitzenden Helme der Feuerwehrleute sehr in Anspruch, dann bemerke ich ein Löschfaß am Tor und einen Gymnasialschüler mit einem kurzen Bein und hohem Stiefelabsatz, der gerade ins Tor tritt. Ich empfand damals, wie ich glaube, weder Angst noch Unruhe, der Zusammenhang der Dinge entging mir noch völlig. In meinem Gesichtskreis war zum erstenmal im Leben ein großes Feuer erschienen, metallene Helme und ein Gymnasialschüler mit kurzem Bein, und ich betrachtete aufmerksam alle diese Dinge, die auf dem tiefen Hintergrund der Nacht plastisch hervortraten. Irgendwelcher Schalleindrücke entsinne ich mich dabei nicht: das ganze Bild spielt in meiner Erinnerung lautlos in zuckenden Reflexen purpurroter Flammen.

Dann stehen einige ganz unbedeutende Begebenheiten vor mir wieder auf, wie man mich auf dem Arm hielt, meine Tränen stillte oder mit mir spielte. Sehr dunkel erinnere ich mich, so kommt es mir vor, an meine ersten Schritte. Als Kind hatte ich einen großen Kopf und schlug mit ihm oft, wenn ich fiel, auf den Boden hin. Einmal war dies auf der Treppe passiert. Die Beule tat ordentlich weh, und ich heulte aus Leibeskräften, bis mein Vater auf einen eigenartigen Trost verfiel: er züchtigte mit dem Stock die Treppenstufe, auf der ich hingeschlagen war, und das verschaffte mir augenblickliche Genugtuung. Wahrscheinlich befand ich mich damals in der Periode des Fetischismus und vermutete in dem Holzbrett einen bösen und feindlichen Willen. Nun wurde es für mich durchgeprügelt und konnte nicht einmal weglaufen ... Diese Worte geben freilich meine damaligen Empfindungen nur vergröbert wieder, ich sehe aber das bestrafte Brett in seinem gleichsam demütigen Ausdruck unter den Schlägen noch deutlich vor mir.

Später einmal habe ich dieselbe Empfindung auf verwickeltere Art wieder erlebt. Ich war schon etwas größer. Es war ein heller, milder Mondscheinabend, der erste Abend in meinem Leben, den ich in meinem Gedächtnis festgehalten habe. Die Eltern waren irgendwohin zu Besuch gefahren, meine Brüder schliefen wohl schon, unsere alte Amme hatte sich in die Küche begeben, und ich war mit dem Diener Handylo allein geblieben. Die Eingangstür zum Flur stand offen und aus der mondbeschienenen Ferne kam ein schwaches Wagengerassel. Auch das Wagengerassel habe ich damals zum ersten Mal als besondere Erscheinung im Bewußtsein festgehalten, wie ich zum ersten Mal überhaupt so lange aufgeblieben war. Mir war ängstlich zu Mute. Wahrscheinlich war bei uns am Tage von Einbruchsdiebstählen erzählt worden. Mir kam es plötzlich vor, als sähe unser Hof bei Mondschein ganz merkwürdig aus und als müßte durch die offene Außentür im nächsten Augenblick totsicher „der Dieb“ eintreten. Ich wußte zwar so ungefähr, daß unter einem Dieb ein Mensch zu verstehen sei, gleichzeitig aber stellte ich mir ihn doch nicht ganz als einen Menschen vor, vielmehr als ein menschenähnliches geheimnisvolles Wesen, das mir durch sein bloßes Erscheinen ein Leid zufügen würde. Ich brach in Tränen aus. Kraft welcher Logik, weiß ich nicht mehr, genug, der Diener Handylo brachte wieder Vaters Stock herbei und führte mich auf die Treppe hinaus, wo ich, vielleicht in Erinnerung an die frühere Episode, anfing, heftig den Treppenabsatz zu bearbeiten. Auch diesmal verschaffte mir dies Genugtuung. Meine Feigheit war bald so weit gewichen, daß ich noch zweimal und zwar allein, ohne Handylo, furchtlos hinausging, um wieder auf der Treppe den eingebildeten Dieb zu züchtigen und mich an dem eigenartigen Gefühl der eigenen Courage zu berauschen. Am andern Morgen berichtete ich der Mutter mit Begeisterung, daß gestern, als sie fort war, sich bei uns ein Dieb eingeschlichen hätte, und daß wir beide, Handylo und ich, ihn tüchtig durchgeprügelt hätten. Die Mutter nickte gütig zu der Erzählung. Ich wußte genau, daß gar kein Dieb dagewesen war, und daß auch die Mutter dies wußte. Und doch hatte ich sie in jenem Augenblick besonders lieb, weil sie mir nicht widersprach. Es wäre mir schmerzlich gewesen, auf jenes Phantom zu verzichten, vor dem ich erst Angst empfunden hatte und das ich hernach beim Schein des Mondes zwischen meinem Stock und der Treppenstufe förmlich „fühlen“ konnte. Das war natürlich keine Sinnestäuschung des Auges, vielmehr eine Art Rausch, in den mich die Überwindung der eigenen Furchtsamkeit versetzte.

Dann haftet noch in meinem Gedächtnis wie eine kleine Insel die Reise nach Kischinew zum Großvater von Vaters Seite. Von dieser Reise ist mir deutlich eine Flußüberfahrt (ich glaube, es, war der Pruth) in Erinnerung geblieben. Ich weiß, wie unsere Kalesche auf die Fähre gestellt wurde, die mit sanftem Schaukeln vom Ufer stieß, – oder stieß das Ufer von ihr, – ich unterschied es dazumal noch nicht. Zur selben Zeit setzte ein Militärtrupp über den Fluß, wobei, wie ich noch weiß, die Mannschaft zu zweit und zu dritt auf kleinen quadratischen Fähren hinübersetzte, was sonst bei Truppenüberfahrten wohl nicht üblich ist. Ich betrachtete die Soldaten neugierig, während diese ihrerseits unsere Kalesche betrachteten und dabei einige Worte miteinander wechselten, die ich nicht verstand, wenn ich nicht irre, stand diese Überfahrt in Verbindung mit dem Krimkriege.

Am gleichen Tage lernte ich zum erstenmal das schneidende Gefühl der Enttäuschung und der Kränkung kennen. In unserer geräumigen Reisekutsche war es dunkel. Ich saß vorne bei irgend jemandem auf dem Schoß, als meine Aufmerksamkeit durch einen rötlichen Punkt angezogen ward, der in der Tiefe, wo mein Vater saß, abwechselnd aufflammte und wieder erlosch. Ich lachte fröhlich und streckte meine Hand nach dem Lichtpunkt aus. Die Mutter warnte mich, allein ich wurde von einem so lebhaften Verlangen erfaßt, mit dem interessanten Ding oder Wesen Bekanntschaft zu machen, daß ich zu weinen anfing. Nun brachte mir der Vater das kleine rote Sternlein näher, das sich neckisch unter der Asche versteckte. Ich streckte ihm den Zeigefinger meiner rechten Hand entgegen. Erst wollte das Sternlein sich nicht fassen lassen, dann aber flammte es hell auf, und mich durchfuhr plötzlich das brennende Gefühl eines scharfen Bisses. Ich denke, daß mir heute den gleichen Eindruck etwa nur der unvermutete Biß einer Schlange machen würde, die aus einem Blumenstrauß hervorgekrochen käme. Mir kam vor, als sei das Flämmchen mit Vorbedacht tückisch und boshaft. Als mir nach zwei oder drei Jahren die Erinnerung an jenen Vorfall aufstieg, lief ich zur Mutter, begann ihr zu erzählen und brach in Tränen aus. Das waren wieder Tränen der Enttäuschung und Kränkung.

Eine ähnliche Enttäuschung erlebte ich, als ich das erste Mal ins kalte Bad stieg. Der Fluß hatte mir einen zauberhaften Eindruck gemacht: neu, eigenartig und herrlich waren die kleinen hellgrünen Wellchen, die unter den Wänden des Badehäuschens hineinglucksten und mit Lichtreflexen, mit Splittern der Himmelsbläue, mit bunten Scherben der gleichsam zerbrochenen Kabine spielten. Das Wasser atmete Frische und Munterkeit, war lieblich und lockend, und ich bestürmte die Mutter, mit mir so rasch wie möglich hinunter zu steigen. Und dann das unvermutete schneidende Gefühl von, ich weiß nicht, eisiger Kälte oder brennender Hitze. Ich brach in lautes Weinen aus und zappelte so heftig in den Armen der Mutter, daß sie mich beinahe ins Wasser fallen ließ. Aus meinem Bade war natürlich für diesmal nichts geworden, während die Mutter mit einer mir unbegreiflichen Wollust im Wasser plätscherte, saß ich beleidigt auf der Bank, betrachtete die tückischen Wellchen, die immer noch so lockend mit Splittern des Himmels und Scherben der Badekabine spielten, und schmollte ... Mit wem? Ich glaube, mit dem Flusse.

Solcher Art waren meine ersten Enttäuschungen: ich eilte den Naturerscheinungen in vertrauensseliger Unkenntnis entgegen, die Natur aber vergalt meine Hingebung mit einem elementaren Gleichmut, den ich als bewußte Feindseligkeit empfand. Oft später im Leben erwachten bei ernsten Enttäuschungen aus dem Grunde meiner verwundeten Seele jene ersten Erlebnisse. Und mehr als einmal bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß mein Gefühl der Kränkung zwar in den späteren Fällen verwickelterer Natur, aber im Grunde genommen nicht viel vernünftiger war, als jene ersten Enttäuschungen des Kindes.

Hier noch eins von jenen frühesten Erlebnissen, wenn eine Naturerscheinung für uns zum erstenmal aus der umgebenden Welt heraustritt, um sich als ein gesondertes, scharfumrissenes Bild dem Bewußtsein einzuprägen. Es ist die Erinnerung an meinen ersten Spaziergang im Fichtenwalde. Mich hatte dies wiegende Rauschen der Baumwipfel förmlich verzaubert, und ich blieb wie erstarrt mitten am Wege stehen. Niemand hatte es bemerkt, und unsere ganze Gesellschaft war weitergegangen. Der Waldweg fiel einige Meter weiter steil ab, und ich schaute, wahrscheinlich mit aufgerissenen Augen, wie in dieser Bodenfalte erst die Beine meiner Leute verschwanden, dann ihre Körper, endlich ihre Köpfe. Ich wartete mit beklommenem Herzen, bis der leuchtendweiße Hut Onkel Heinrichs, des größten unter den Brüdern meiner Mutter, als letzter verschwand. Endlich war ich allein ... Ich fühlte wohl, daß „allein im Walde“ eigentlich nicht geheuer sei, und doch vermochte ich, wie ein Behexter, weder eine Bewegung zu machen, noch einen Laut von mir zu geben. Ich lauschte nur, wie der Wald leise pfiff und flüsterte und seufzte und wie alle diese Laute in eine tiefe, unendliche, ergreifende Melodie zusammenflossen, – eine Melodie, in der mein Ohr zugleich den allgemeinen rollenden Chor des Waldes, wie die einzelnen Stimmen der Waldriesen, das langsame Wiegen und das leise Knarren der roten Stämme unterschied. Alles dies drang auf mich ein und schlug über mir wie eine mächtige Woge zusammen. Ich hörte auf, mich als ein von jenem lebendigen Meere gesondertes Wesen zu fühlen, und dieser Zustand war derart stark, daß, als man meine Abwesenheit schließlich gewahr wurde und der Bruder meiner Mutter zurückkam, um mich zu holen, ich immer noch auf demselben Fleck stand, ohne Antwort zu geben. Ich sah den Onkel in seinem hellen Anzuge und weißen Strohhut auf mich zukommen, wie man einen wohlbekannten Menschen im Traume sieht.

Oft in späteren Jahren, zumal in Stunden, wo ich des Lebens müde war, stand jener Augenblick als der Inbegriff des tiefen lebendigen Friedens in meiner Seele wieder auf. Die Natur lockte das Kind freundlich an der Schwelle seines Lebens mit ihren undurchdringlichen Geheimnissen, als verhieße sie irgendwo in unbestimmter Ferne die Tiefen des Erkennens und die Wonnen der Lösung ...

Aber ach, wie vergröbert geben doch die Worte das, was man empfunden, wieder ... Unsere Seele hat eben auch ihr undeutliches Flüstern, das sich von unserer plumpen Sprache so wenig fassen läßt, wie das Raunen der Natur ... Und jenes Unsagbare ist's ja gerade, worin die Seele des Menschen und die Natur eins sind ...

Alles dies sind zerstreute Eindrücke eines halb bewußten Daseins, anscheinend ohne ein anderes Verknüpfungsband als die persönliche Empfindung. Als letztes Bild in jener Reihe ersteht vor mir ein Wohnungsumzug. Eigentlich nicht einmal der Umzug, dessen ich mich gar nicht mehr entsinne, so wie mir auch an die alte Wohnung gar keine Erinnerung geblieben ist, sondern wiederum der erste Eindruck des „neuen Hauses“, des „neuen Hofes“ und des Gartens. Das kam mir wie eine neue Welt vor, und doch, merkwürdig genug: jene Erinnerung an die erste Bekanntschaft mit der neuen Welt war vorerst für lange Zeit ganz aus meinem Gedächtnis geschwunden. Sie kam mir erst nach Jahren wieder, und als sie kam, da war sie mir selbst eine Überraschung, denn ich lebte dazumal in der Vorstellung, als wohnten wir in diesem Hause seit einer Ewigkeit, und als gäbe es in der Welt überhaupt keine erheblichen Veränderungen. Den Grundton meiner Eindrücke aus den paar ersten Kinderjahren bildete die unbewußte Überzeugung von der völligen Abgeschlossenheit und Unverrückbarkeit der Dinge, die mich umgaben. Wäre mir damals die Schöpfungsgeschichte bekannt gewesen, so hätte ich wahrscheinlich behauptet, daß mein Vater (der schon lahmte, als ich geboren wurde) eben mit dem Krückstock in der Hand auf die Welt gekommen sei, daß Großmama einfach schon als Großmama vom lieben Gott erschaffen wurde, daß meine Mutter immer das schöne blauäugige Weib mit dem dicken blonden Zopf war, ja, daß selbst der Schuppen hinter dem Hause wohl schon von allem Anfang an so baufällig mit moosbewachsenem grünen Dach erstanden war. Das war ein stilles ruhiges Wachstum der Lebenskräfte, das mich sanft forttrug mitsamt der kleinen Welt, die mich umgab, wobei die Ufer der unendlichen Außenwelt, an denen ich die Bewegung hätte messen können, damals noch für mich nicht vorhanden waren. Auch war ich selbst – so kam es mir vor – schon immer der kleine Junge mit dem großen Kopf gewesen, dessen älterer Bruder etwas größer, der jüngere aber kleiner war. Und diese Beziehungen sollten für immer so bleiben. Wir sprachen manchmal davon, was alles passieren würde, „wenn wir groß sind“ oder „wenn wir sterben“, aber das waren leere Redensarten ohne lebendigen Inhalt.

Eines Morgens trat mein jüngerer Bruder, der vor mir schlafenzugehen und früher aufzustehen pflegte, zu mir ans Bett und sagte mit besonderer Betonung:

„Steh auf, schnell ... Was ich dir zeige!“

„Was denn?“

„Wirst schon sehen. Aber mach' schnell, warten tu ich nicht.“

Und er ging mit wichtiger Miene, wie ein Mensch, der keine Zeit zu verlieren hat, wieder hinaus. Ich zog mich eilig an und folgte ihm. Es zeigte sich, daß ein paar fremde Männer dabei waren, unsere Freitreppe gänzlich auseinanderzunehmen. Alles, was von ihr übriggeblieben, war ein Haufen Bretter und Moder, und die Eingangstür hing wunderlich oben frei in der Luft. Was aber am merkwürdigsten war: unter der Tür klaffte eine tiefe Wunde aus abgestoßenem Verputz, dunklen Balken und Pfählen. Der Eindruck, den das Ganze auf mich machte, war ein unheimlicher, beinahe schmerzlicher, vor allem aber überraschender. Der Bruder stand regungslos da und folgte in größter Spannung jeder Bewegung der Zimmerleute mit den Augen. Ich schloß mich seiner schweigsamen Betrachtung an, und bald gesellte sich zu uns beiden unser Schwesterchen. So standen wir alle drei lange Zeit wortlos und ohne uns zu rühren. Zwei oder drei Tage später war an Stelle der alten Treppe eine neue fertig, und mir kam entschieden vor, als hätte sich die Physiognomie unseres Hauses völlig verändert. Die neue Treppe war sichtlich „angesetzt“, während die frühere ein organischer Teil unseres ehrwürdigen alten Hauses schien, wie die Nase oder die Augenbrauen im menschlichen Antlitz. Zum ersten Male prägte sich meiner Seele der Begriff der „Kehrseite“ ein, der Gedanke, daß sich unter der glattgehobelten und überstrichenen Oberfläche feuchte vermoderte Balken und gähnende Leere verbargen ...