BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1918

Aus Breslau

 

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Breslau, 2. 5. 18.

 

Sonitschka,

 

ich habe den Candide 1) und die Gräfin Ulfeldt 2) gelesen und mich über beides gefreut. Candide ist eine so köstliche Ausgabe, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, das Buch aufzuschneiden und es so gelesen habe; da es in halben Bogen gefaßt ist, ging das sehr gut. Diese boshafte Zusammenstellung aller menschlichen Erbärmlichkeiten hätte auf mich vor dem Kriege wahrscheinlich den Eindruck eines Zerrbildes gemacht, jetzt wirkt sie durchaus realistisch ... Zum Schluß erfuhr ich endlich, woher die Redensart stammt: „mais il faut cultiver notre jardin 3), die ich selbst schon gelegentlich gebrauchte. Die Gräfin Ulfeldt ist ein interessantes Kulturdokument, eine Ergänzung Grimmelshausens. ... Was machen Sie? Genießen Sie nicht den herrlichen Frühling?

 

Stets Ihre

Rosa.

 

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1) Die Novelle „Candide, ou l'optimisme“ von Voltaire. 

2) „Leidensgedächtnis das sind die Denkwürdigkeiten der Gräfin zu Schleswig-Holstein Leonora Christina vermählten Ulfeldt aus ihrer Gefangenschaft im Blauen Turm des Königsschlosses zu Kopenhagen 1663-1685“. Bearb. und neu hrsg. von Clara Prieß, Leipzig 1911 (Ausgabe Wien 1871, herausgegeben von Johannes Ziegler). 

3) Franz. – „aber es ist nötig, unseren Garten zu pflegen“ (Der letzte Satz des „Candide“).