BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Wronke (Posen)

 

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Wronke, 15. 1. 17.

 

Sonjuscha, mein kleines Vöglein,

 

wenn es nach meinem Wunsch geht, dann fliegt Ihnen dieses Blatt am 18. mit der ersten Post aufs Bett, um Ihnen zum Geburtstag guten Tag zu sagen und Ihnen meinen Besuch für den ganzen Tag anzumelden. Freilich nur einen „improvisierten“ Besuch vorläufig, aber an diesem Tage bin ich um Sie und bei Ihnen in Gedanken, und Sie sollen es spüren, Sie sollen nicht mehr innerlich frösteln, sondern von meiner Liebe und Wärme wie von einem weichen Mantel umhüllt sein. Mein armes Mädchen, die Sie so mutterseelenallein dort sind mit Ihrer Qual, ich möchte Ihnen wenigstens an diesem Tage mit meinem Briefe eine sonnige Stunde bereiten, da ich leider nicht mehr in Südende Ihr Eckchen am Fenster mit schimmernd weißen Iris schmücken und Ihnen einen flammenden Sonnenuntergang mit apokalyptischen Wolkenzügen vorführen kann, wie man sie – so scheint es mir – einzig aus meiner Wohnung zu sehen bekommt. Ich schicke Ihnen dafür Hyazinthen und Tulpen, auch mein Bild (das freilich zu den Blumen wie die Faust aufs Auge paßt), und noch ein Geschenk in unserem frivolen Geschmack habe ich in Brüssel bestellt (da es etwas Pariserisches ist), es kann leider nicht rechtzeitig kommen, wird Sie aber hoffentlich auch später erfreuen. Unsere Freunde werden Ihnen sicher diesen Tag nach Kräften verschönern, und das bleibt mir ein Trost, da ich hier an der Kette liege.

Ach, heute gab es einen Augenblick, da ich's bitter spürte. Der Pfiff der Lokomotive um 3.19 sagte mir, daß Mathilde [Jacob] abdampft, und ich lief gerade wie ein Tier im Käfig den gewohnten „Spaziergang“ an meiner Mauer entlang, hin und zurück, und mein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz, daß ich nicht auch fort von hier kann, o, nur fort von hier! Aber das macht nichts, mein Herz kriegte gleich darauf einen Klaps und mußte kuschen; es ist schon gewöhnt, zu parieren wie ein gut dressierter Hund. Reden wir nicht von mir.

Sonitschka, wissen Sie noch, was wir uns vorgenommen haben, wenn der Krieg vorbei ist? Eine Reise zusammen nach dem Süden. Und wir tun das! Ich weiß, Sie träumen davon, mit mir nach Italien zu gehen, das Ihnen das Höchste ist. Ich plane hingegen, Sie nach Korsika zu schleppen. Das ist noch mehr als Italien. Dort vergißt man Europa, wenigstens das moderne Europa. Denken Sie sich eine breite heroische Landschaft mit strengen Konturen der Berge und Täler, oben nichts als kahle Felsklumpen von edlem Grau, unten üppige Oliven, Lorbeerkirschen und uralte Kastanienbäume. Und über allem eine vorweltliche Stille – keine Menschenstimme, kein Vogelruf, nur ein Flüßchen schlickert irgendwo zwischen Steinen, oder in der Höhe raunt zwischen Felsklippen der Wind – noch derselbe, der Odysseus' Segel schwellte. Und was Sie an Menschen treffen, stimmt genau zur Landschaft. Plötzlich erscheint z. B. hinter einer Biegung des Bergpfades eine Karawane – die Korsen gehen immer hintereinander in gestreckter Karawane, nicht im Haufen wie unsere Bauern. Vorne läuft gewöhnlich ein Hund, dann schreitet langsam etwa eine Ziege oder ein mit Säcken voller Kastanien beladenes Eselchen, dann folgt ein großes Maultier, auf dem eine Frau im Profil zum Tiere mit gerade herabhängenden Beinen sitzt, ein Kind in den Armen. Sie sitzt hoch aufgerichtet, schlank wie eine Zypresse, unbeweglich; daneben schreitet ein bärtiger Mann in ruhiger fester Haltung, beide schweigen. Sie würden schwören: es ist die heilige Familie. Und solche Szenen treffen Sie dort auf jeden Schritt. Ich war jedesmal so ergriffen, daß ich unwillkürlich in die Knie sinken wollte, wie ich's immer vor vollendeter Schönheit muß. Dort ist noch die Bibel lebendig und die Antike. Wir müssen hin, und so wie ich's getan: zu Fuß die ganze Insel durchqueren, jede Nacht an einem anderen Ort ruhen, jeden Sonnenaufgang schon im Wandern begrüßen. Lockt Sie das? Ich wäre glücklich, Ihnen diese Welt vorzuführen, ma petite reine 1)!

Ja, Sonitschka, vergessen Sie nie, daß Sie eine petite reine sind. Ich weiß, Sie haben's mir selbst gesagt: Sie vergaßen sich oft, degradierten sich und redeten und benahmen sich comme une petite blanchisseuse 2). Aber Sie dürfen das nicht mehr. Sie müssen in diesen vier Jahren inneren Halt gewinnen, damit Karl Sie als eine kleine Königin findet, vor der er den Kopf neigen muß. Dazu ist nur innere Disziplin und Selbstachtung nötig, und die müssen Sie gewinnen. Sie sind es sich und – mir schuldig, die Sie liebt und achtet.

Lesen Sie viel, Sie müssen auch geistig vorwärts kommen, und Sie können das, Sie sind noch frisch und biegsam. – Und nun muß ich schließen. Ich lege Ihnen noch meine drei nackten Babys auf den Schoß und umarme Sie. Seien Sie heiter und ruhig an diesem Tage.

 

Ihre Rosa.

 

PS: Schicken Sie mir, bitte, beim nächsten Besuch den Macaulay 3) den Karl von mir hatte (Tauchnitz 4)).

 

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1) Franz. – meine kleine Königin. 

2) Franz. – wie eine kleine Wäscherin. 

3) Thomas Babington Macaulay, englischer Schriftsteller, der vor allem durch seine biographischen und politischen Essays bekannt war. Hier handelt es sich vermutlich um die „Biographical Essays“. 

4) Von Christian Bernhard Tauchnitz 1837 in Leipzig gegründeter Verlag, der in der „Tauchnitz Edition“ englischsprachige Bücher verlegte.