BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Warum? – Darum!

 

1913

 

Textgrundlage:

Heinrich Lautensack, Warum? – Darum!

in: Anton Kaes, Kino-Debatte.

Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909 - 1929.

München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1978

 

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Warum? – Darum!

 

Warum überläuft geradezu das Publikum die Kinos? Aus einer – wenigstens bei uns in Deutschland dann wahrlich spät genug entdeckten Vorliebe für Pantomimen?

Nur höchst oberflächliche Beurteiler nennen das Film-Drama eine abphotographierte Pantomime und nichts weiter.

Oder bevölkern sich die Lichtspielhäuser allabendlich in sämtlichen fünf Erdteilen, weil darinnen – in Zeichen aus Licht und Schatten – endlich das Volapück erfunden wurde, ein neues, wirklich allen Nationen ohne das geringste Vorstudium zugängiges Esperanto?

Es ist wirklich keine allzu grobe Übertreibung, zu behaupten, daß die Erfindung der Gebrüder Lumière – nämlich des Kinematographen im Jahre 1895 – eine Tat bedeutet, wie sie zuvor nur einmal noch – um 1447 – jenem Johann Gensfleisch zum Gutenberg gelang.

Auf jeden Fall also verhält sich die Sache ein ganz klein bißchen anders als die Feinde, die dreimal abscheulichen, des Kinos in ihrer lügnerischen Weise wahrhaben möchten. Nämlich daß das Publikum in erschrecklicher Majorität in die Lichtspielbudiken dränge – einfach weil da ein Roman oder ein Drama mit so wenig dichterischen Umschweifen als nur irgend möglich geboten würde.

Der Hunger nach dem bloßen Stoff, den die Menge da nach Belieben stillen könnte – es ist einfach nicht wahr, daß das als die Hauptursache des Massenbesuches der Kinotheater anzusprechen sei! (Und hiernach die Kunstfilmfabriken als Hauptanstifter in Grund und Boden zu verdammen!) – Vielmehr die ehrliche kindliche Freude am Kinematographen als (neu erfundenen und oh! wie so ingeniös erdachten!) Ding an sich ist es, die zu solcher unaufhörlichen Wallfahrt nach den Tempeln der Kinokunst antreibt!! – Weil – mit anderen Worten – der Kinematograph nicht nur ein großer Verewiger, sondern auch der größte Veraugenblicklicher zu ganz der gleichen Zeit ist: darum die hohe Kinofreudigkeit allenthalben und nirgends eine Kinomüdigkeit, weder bis dato, noch überhaupt jemals!

Das weiß natürlich nicht einmal der jeweils hundertste unter allen mit auch nur annähernd so bestimmten Worten zu sagen, als ich es hier unternommen habe. Und dennoch verhält es sich so und nicht anders.

Das Kinematographentheater lockt einen immer wieder, weil der Kinematograph selber ein Verewiger ist, wie ich es nannte. Weil er mit höchster neuzeitlicher Vollendung das wiederholt, was im Menschengeschlecht zu seinen primitivsten Zuständen sich als erster Drang zu etwas wie einer Kunst und Kultur ankündigte: nämlich ein Ding aus seiner Umgebung, einen Menschen oder ein Tier, nachzubilden. Unabstreitbare Parallele: der palethnologische Mensch (aus der fingerklammen Eiszeit, ich bitte!) formt als erste Kulturbetätigung und Kunstleistung eine primitive Venusstatuette oder stilisiert ein Tierbild ... und die Gaumontwoche bannt eine Prinzessinenhochzeit und eine Drei-Kaiserzusammenkunft auf dem Film.

... Und zu ganz der gleichen Zeit, sagte ich, sei der Kinematograph auch noch der größte Veraugenblicklicher.

Zunächst einmal ist der Augenblick einer Uraufführung eines Kinodramas ein für allemal festgehalten! – Oder ging von uns allen je schon wer zu einem Asta Nielsen-Film und es passierte ihm, was ihm in Prof. Reinhardts «richtiggehenden» Theatern täglich passieren kann: nämlich daß er die Asta Nielsen gar nicht zu sehen bekommt, sondern eine fünfzehnte bis zwanzigste Besetzung? – Oder – was einem dann den ganzen Theaterabend verleiden kann –: in der 379. Aufführung (Kunststück!) extemporieren die sämtlichen fünf Frankfurter und ulken einander an, bis sie selber vor Lachen

nicht mehr weiterspielen können! Ich frage: hat man das in der 24. Woche eines Bumke-Impekoven-Films schon erlebt, daß Bumke extemporierte?!

Indes Scherz beiseite: der Kinematograph als der größte Veraugenblicklicher, wie ich es bezeichnete, ist noch viel sublimer zu nehmen. – – Alle Natur wie alle Kultur augenblicks statt Wandeldekoration: Das Meer, der Wald, der Berg, das Thal, die Ebene, der Acker, die Wiese, der Baum, der Rain, der Bach, der Garten, die Blume, die Weltstadt, das Dorf, die Eisenbahn, das Dampfschiff, die Fabrik, die Brücke und überhaupt der heutige Motor in allen Verwendungen und nichts von allem immobil mehr oder gar nur dessen «Geräusch» hinter den Kulissen der Bühne nachgeahmt!

Und dazwischen nun Gottes Ebenbild, d. i. – – – – –

Aber da mahnt mich der Herr Chefredakteur recht mitten in meinem Satz zum Schluß. Und so beeil ich mich denn (auf die Gefahr hin, mich zu überstürzen).

So wie das p. t. Publikum bis jetzt durch seinen zahlreichen und regelmäßigen Besuch rein seine Freude am Kinematographen als Ding an sich bewies – so gab es im besonderen auch seinem Beifall für Filmdramen Ausdruck, die nicht mit der kritischen Elle des Theaterrezensenten gemessen werden dürfen, denn dazu langt die einfach bei weitem nicht, und ist auch sonst durchaus nicht angebracht!

Und falls ich meine Leser diesmal nicht gelangweilt haben sollte, schreibe ich nächstens einmal über die spezielle Art der Kino-Dramen, wie sie sich aus diesen vorliegenden Ausführungen allein schon ergibt.