BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Maurice Renard

Der Doktor Lerne. Ein Schauerroman

 

Übersetzt von Heinrich Lautensack

 

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XI

Die Operation.

 

Als ich die Augen wieder auftat: Schatten alles. Und die Ohren wie verstopft, die Nase wie zugehalten. Ich wollte wieder sagen: «Fangt doch nicht an! Ich bin ja noch wach!» Aber kein Wort kam aus mir, und mir war wie in den Delirien der letzten Nacht: als ob das Stiergebrüll wieder nah wäre, näher käme und aber klang, als ob's aus mir selber erklänge .... Ich spürte meine Sinne nicht; ich war willenlos, fühllos, träge. Ich kauerte.

Und wie eine große stumpfe Sicherheit kam's über mich, daß das Rätselhafte nun geschehen wäre.

Nach und nach zerteilten sich die Finsternisse. Und wie eine dumpfe Seelenruhe kam's mich an. In dem Maße wie meine Blindheit wich, kamen auch Gerüche und Geräusche wieder her, immer zahlreicher, zahllos, wie eine Menge Leute, die alle glücklich und selig sind. Glückseligkeit. O blieb's so, blieb's so, blieb's!

Aber dann nahm mich das Leben wieder, das Leben hatte mich wieder.

Nur ... alle Dinge, die ich jetzt unterschied, blieben unförmig in der Kontur, wurden gar nicht plastisch und waren bizarr gefärbt. Ich sah, so war mir, einen weiteren Raum, doch schien mir der vergrößerte Raum verschwommener als vorher. Und ich mußte mich daran erinnern, daß solche Betäubungen die Pupille verändern ... daher diese Abweichung meiner Sehkraft ....

Daß man mich vom Tisch fortgehoben und auf der andern Seite des Raumes auf den Boden hingelegt hatte, konnte ich nichtsdestoweniger mit Leichtigkeit konstatieren. Überhaupt die ganze Situation erkennen, obwohl mir mein Auge alles wie ein Hohlspiegel verzerrte. Der Vorhang war nicht mehr da. Lerne und seine Gehilfen standen um den Operationstisch und waren da bei irgendeiner Arbeit, von der ich aber nichts sehen konnte, denn ihre Rücken hinderten mich ... wahrscheinlich reinigten sie die Instrumente. Durch die große geöffnete Flügeltür sah man in den Park und sah – auf zwanzig Meter ungefähr – eine Ecke von der Viehweide, von wo die Kühe käuend und brüllend zu uns herglotzten.

Nur dies eine war: ich glaubte, das allerrevolutionärste Bild der Expressionistenschule vor mir zu haben! Das Azurene des Himmels hatte wohl seine lichte Tiefe, aber war zu einem schönen Orange geworden. Die Weide, die Bäume schienen mir rot statt grün. Was früher gelb gewesen, war jetzt violett, mit einem Stich wie ins Zinnoberische. Alles und jedes hatte seine Farbe geändert – die schwarzen und die weißen Dinge ausgenommen. Das schwarze Schuhwerk der vier Männer war wie zuvor; ihre Blusen gleichfalls. Aber diese weißen Blusen hatten ... grüne Flecken; und auf den Fliesen waren grüne Lachen – das konnte doch nichts anderes als Blut sein? Und schien mir doch grün, was ich rot haben wollte? ... Und diese Lachen hauchten ein starkes Arom her, das mich von hier vertrieben hätte, wenn ich mich hätte rühren können. Und trotzdem roch's nicht so, wie ich wußte, daß Blut roch ... so hatte ich es noch nie gerochen ... und ebenso alle anderen Gerüche. Gleichwie ich mich nicht erinnern konnte, solches Hellklingen jemals vernommen zu haben ....

Und das Blendwerk verging nicht, und all das Fremdfarbige verblieb, wie sich auch die Ätherdämpfe verflüchtigten!

Ich kämpfte gegen das alles an, lehnte mich auf. Unmöglich.

Man hatte mich auf eine Streu aus Stroh gelegt ... ja, ja, ja, ja, ganz sicherlich aus Stroh ... aber aus malvenfarbigem Stroh! ...

Die Operateure wendeten mir den Rücken zu – Johann ausgenommen. Von Zeit zu Zeit warf Lerne in ein Waschbecken Watte, die grün von Blut gefärbt war ....

Johann bemerkte als erster, daß ich das Bewußtsein wieder erlangt, und teilte dies dem Professor mit. Da sahen die vier neugierig zu mir her, und mit einemmal konnte ich auf dem Operationstisch einen Menschen liegen sehen - ganz nackt, gebunden, die Arme unter dem Gitter, leblos und weiß, mit geschlossenen Augen, leichenhaft, mit schwarzem Bart, der die Totenblässe noch erhöhte, und den Kopf bandagiert ... und die Bandagen mit Blut befleckt, mit ... grünem Blut befleckt. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Er atmete mit vollen Lungen. Seine Nasenflügel bebten ihm bei jedem Atemzug.

Und dieser Mensch – ? – und dieser Mensch: Der war ich!

Als ich gewiß war – und die Kontrolle war sehr leicht –, daß da nicht etwa nur ein Spiegel im Spiel war, kam mir der Gedanke: Lerne hatte mein Wesen verdoppelt, ich war jetzt der sowohl als jener, ich war zwei ...

Oder träumte ich?

Nein, nein, ich träumte absolut nicht. Bis jetzt war im Grunde doch gar nichts so Absonderliches vorgegangen: ich war weder tot, noch war ich geistesgestört – und diese Evidenz machte mich im höchsten Grade wieder munter. (Das scheint wohl kaum glaublich. Das scheint sehr bestreitbar. Aber die Zukunft wird's lehren.)

Der Operierte da drüben schüttelte mit dem Kopf. Wilhelm band ihn los, und ich wohnte dem Erwachen meines Doppelgängers bei. Nachdem er die Augen aufgetan hatte, wackelte er noch einmal ziemlich idiotisch – mit dem Kopf, tastete blöd an den Tischrändern hin und setzte sich hoch. Er schien ausnehmend schlecht gelaunt. Ich hätte mich selber nie für also vertiert gehalten.

Man legte den Kranken auf das kleine Gurtbett. Er ließ sich verhätscheln. Aber bald wurde ihm übel, er keuchte, und ich sah ein: es bestand absolut keine Kommunikation zwischen mir und mir, ich fühlte absolut nicht, was ich litt – außer jenes selbstverständliche Mitleiden, das man für einen Gentleman hat, der einem sozusagen unvergleichlich ähnlich sieht ....

Aber was denn? ... Unvergleichlich ähnlich? ... War der ein Duplikat meines Leibes? Oder war's mein Leib in Person? ... Ach nein, ich Ochse! – Herrgott, ich fühlte, sah und hörte doch! Wenn auch miserabel, so doch immerhin so reichlich, daß ich überzeugt sein konnte: ich habe Nase, Aug und Ohr! Ich wollte mich strecken, da spürte ich Stricke um meine Glieder: ich hatte doch also Fleisch, mageres und steifes, aber doch immerhin Fleisch .... Mein Leib war also hier und nicht dort! ...

Der Professor befahl, man solle mich losbinden.

Das hanfene Netz zerriß. Viel Eile trieb mich an. Ich war mit einem Ruck hoch ... aber ich war plötzlich so entsetzt, daß ich ausschlug. Gott, war ich plump und niedrig! ... Ich wollte an mir selber herabsehen: unter meinem Kopf war nichts, nichts. Und als ich mich mit vieler Anstrengung weit vorbeugte, sah ich an Stelle meiner Füße zwei gespaltene Holzschuhe ... Holzschuhe? ... an schwarzen und krummen, rauhhaarigen, borstigen Beinen.

Ich schrie laut auf ... und es war ein Gebrüll, wie das zur Nacht, das aus meinem Munde ausging, das das Haus in seinen Grundfesten erzittern ließ und weit, weit, weithin schallte und von den hohen Felswänden widerhallte.

«Still doch, Jupiter!» sagte Lerne. «Du erschreckst mir ja den armen Nicolas, der die Ruhe so nötig hat!»

Und ich sah meinen Leib da drüben, der vor Schrecken aufgeschnellt war.

Ich war also der schwarze Stier! ... Der schwarze Stier war ich! Der scheußliche Magier Lerne hatte mich in ein Tier verwandelt!

Und er machte sich über mich lustig, der Rohling, und seine drei Mordgesellen hielten sich, die Seiten vor Lachen. Meine Rinderaugen wollten weinen.

«Tjajajaja,» tat der Hexenmeister, als ob er in meinen verstörten Gedanken läse – «eija doch! Du bist also jetzt der Jupiter. Aber dir steht das Recht zu, noch mehr über dich zu wissen. Hör mal deine Personalakten. Du bist in Spanien in einer der berühmtesten Stierzüchtereien am Quadalquivir geboren und stammst von notorischen Eltern ab, deren männliche Nachkommen glorreich, mit dem Degen in den Gedärmen, auf dem Sande der Arenen unterliegen. Ich hab dich den Banderillos der Toreadore entführt. Da sich eure Rasse für meine Pläne vorzüglich eignete, kaufte ich euch, dich und die drei Kühe, für teures Geld. Du hast mich 2000 Pesetas, den Transport nicht mitgerechnet, gekostet. Du bist fünf Jahre und zwei Monate alt und kannst noch mal so alt werden ... wenn wir dich an Altersschwäche sterben lassen wollen. Ich erwarb dich, mein Lieber, um an deinem Organismus einige Experimente vorzunehmen ... und dieses war das erste davon.»

Und mein zärtlicher Verwandter brach in ein närrisches Lachen aus. Schüttete sich aus vor Gewieher. – «Hahaha! Nicolas! ... Geht's dir gut, was? Gar nicht so übel, ich weiß gewiß. Deine Neugierde, du Sohn von einem Weibe, deine infernalische Neugierde ... wie? Ich wette, du bist viel weniger beleidigt als neugierig, hm? ... Nun denn, ich bin ein herzensguter Mensch, und da du ja diskret bist, mein lieber Eleve, sollst du alles, auf das du entbrannt bist, erfahren. Hab ich dir's übrigens nicht gleich gesagt: «Der Augenblick ist nah, wo du alles erfahren sollst.» Nicolas, du sollst alles wissen. Ich bin kein Teufel, kein Thaumaturg und kein Hexenmeister. Weder Baal Peor, noch Moses, noch Merlin – ich bin ganz einfach Lerne. Meine Macht kommt nicht von oben oder unten, sie ist die meinige, und ich bin stolz darauf. Meine Wissenschaft ist's. Die Wissenschaft der Menschheit ist's, die ich bereichert hab, ich bin ihr kühnster Pionier, ich bin ihr erster Streiter .... Aber zanken wir uns nicht um Kleinigkeiten. Kannst du mit deinen Bandagen alles hören und verstehen?»

Ich nickte mit dem Kopf.

«Gut. So hör und roll nicht so mit den Augen. Es wird sich alles aufklären, zum Donnerwetter, wir sind doch hier in keinem Roman! ...»

Die Gehilfen putzten die Instrumente und ordneten sie. Mein Leib da drüben schnarchte. Lerne zog die Fußbank zu mir her, setzte sich nah zu meinen Augen und Ohren und diskurrierte:

«Mein lieber Neffe, es war vorhin unrecht von mir, daß ich dich Jupiter nannte. Im wahren Sinn hab ich dich absolut nicht zum Stier gemacht – du bist immer noch der Nicolas Vermont – denn der Name bezeichnet doch insonders die Person, die Seele, und nicht den Leib. So wie du deine Seele behalten hast und die Seele ja das Gehirn zum Sitz hat, wirst du mich angesichts all der chirurgischen Instrumente leicht verstehen, wenn ich dir sage: daß ich nur das Gehirn Jupiters mit dem deinen vertauscht hab und daß das seinige nun in deinem menschlichen Werkel wohnt.

Nun wirst du mir sagen, Nicolas, daß das ein sehr zweideutiger Scherz sei .... Du ahnst weder das grandiose Ziel meiner Studien noch das Gedankensystem, das dazu führt. Dies hier ist nur ein kleiner Spaß, eine neue Ovidsche Verwandlung; es ist möglich, daß sie dir gar nichts sagt, etwas rein Subsidiarisches. Wenn wir sagen wollen: eine Skizze, ein fast spielerischer Entwurf.

Nein, nein, du siehst bei diesem einen Fall hier kaum einen höhern Zweck. Einen Mutwillen, ja, eine kleine Bosheit. Einen Dummerjungenstreich ohne soziale und industrielle Aussichten und Ausbeute.

Mein Zweck aber ist: die Interversion der Persönlichkeit des Menschen – die ich durch den Austausch der Gehirne erreiche.

Du weißt von meiner eingewurzelten Passion für Blumen. Der frönte ich bis zum Übermaß. Früher war mein Leben ganz von meinem Beruf ausgefüllt, und als einzige Erholung widmete ich den Sonntag der Gärtnerei. Der Zeitvertreib war von Einfluß auf meine Profession, die Okulierkunst auf die Chirurgie; im Hospital weihte ich mich mehr und mehr animalischen Okulationen. Ich spezialisierte mich und geriet in heiligen Eifer, indem ich in der Klinik meinen Enthusiasmus vom Treibhaus wiederfand. – Zu Anfang ahnte ich nur dunkel einen Kontakt zwischen animalischer und vegetabilischer Okulation, nur etwas wie einen Bindestrich zwischen den beiden. Aber durch logische Arbeit präzisierte ich die Sache bald ... doch, darauf werden wir noch zurückkommen.

Als ich mich von der animalischen Okulation so sehr einnehmen ließ, lag dieses ganze Feld der Wissenschaft völlig brach. Ich kann wohl sagen: Seit den Indiern des Altertums, die die ersten Pfropfkünstler gewesen waren, war diese Kunst stationär geblieben.

Aber vielleicht weißt du die Prinzipien nicht? Hör zu –

Das alles, Nicolas, basiert auf dieser Tatsache: Die animalischen Stoffe haben jeder eine persönliche Vitalität. Der Leib eines lebendigen Tiers ist nichts als das Milieu, in dem die Stoffe leben, das Milieu, aus dem sie heraustreten können, indem sie den Leib selber längere oder kürzere Zeit überleben.

Die Nägel und die Haare wachsen noch nach dem Tode. Das weißt du doch? Sie überleben den Leib also.

Einer, der vierundzwanzig Stunden tot ist und etwa keine Nachkommenschaft zurückließ, erfüllt immer noch die Hauptbedingung, wär sozusagen noch zeugungsfähig. – Leider fehlen ihm dazu andere essentielle Fähigkeiten. Von den Gehängten zum Beispiel sagt man ...

Aber ich will hier der Reihe nach vorgehen:

Unter gewisser erforderlicher Feuchtigkeit, Oxydierung und Wärme verstand man, am Leben zu erhalten: einen kupierten Rattenschwanz – sieben Tage; einen amputierten Finger – vier Stunden. Am Ende dieser Perioden waren sie tot, aber während der sieben Tage und während der vier Stunden würden sie, wenn man sie dem Leib richtig wieder angesetzt hätte, weiterhin gelebt haben.

Das hatten schon jene alten Indier zuwege gebracht – die setzten bei Züchtigungen abgehauene Nasen wieder an oder ersetzten sie, wenn die Ansätze ins Feuer geschmissen worden waren, durch Nasen aus Hautstücken, die sie dem Gemarterten, mein lieber Nicolas, schon im voraus aus den Hinterbacken herausgeschnitten hatten.

Eine solche Operation ist der erste Fall animalischer Okulation und besteht darin, daß man einen Teil eines Individuums auf dem Individuum selber verpflanzt.

Der zweite Fall ist der: Man verschweißt zwei Lebewesen, indem man sie beide verwundet und von dem einen ein abgeschnittenes Stück dem andern aufsetzt, das dann auf diesem weiterlebt.

Der dritte Fall: Man verpflanzt einen Teil eines Lebewesens auf ein anderes, immer so, daß es dort sein eigenes Leben bewahrt. – Das ist die eleganteste der drei Arten. Und die war's, die mich verführt hat ....

Aber so eine Operation ist heikel. Aus sehr vielen Gründen. Und der Hauptgrund ist dieser, daß eine Okulation um so weniger gern gedeiht, je entfernter die Verwandtschaft ist. Etwas von einem Lebewesen dem Lebewesen selber aufgepfropft, gedeiht herrlich. Weniger schon von Vater auf Sohn. Und immer noch weniger von Bruder auf Bruder, von Vetter auf Vetter, von einem Fremden auf einen Fremden, einem Deutschen auf einen Spanier, einem Neger auf einen Weißen, Mann auf Weib, Kind auf Greis.

Als ich mich an diese Wissenschaft machte, mißlang die Auswechselung, um die es sich handelte, innerhalb von zoologischen Familien. Und mehr noch innerhalb von Ordnungen und Klassen.

Aber einige Experimente sollten eine Ausnahme machen. Und diese waren es, auf die ich die meinigen stützte. Es galt erst den Austausch zwischen Fisch und Vogel, ehe man mit Erfolg an den Menschen ging. – Ich sagte: einige Experimente:

Wiesmann hatte sich die Feder eines Zeisigs aus dem Arm ausgerissen, die er einen Monat vorher eingepflanzt hatte. Und das ließ eine kleine blutende Wunde zurück.

Boronio hatte einen Zeisigflügel und einen Rattenschwanz auf einen Hahnenkamm gepfropft.

Das war nicht viel. Aber die Natur selber spornte mich an:

Die Vögel kreuzen sich ohne Scham und bringen zahlreiche Bastarde hervor, was mir die Möglichkeit einer Fusion der Arten bewies.

Und dann, wenn man sich noch immer vom Menschen fern hält, sind es doch die Pflanzen, die beträchtliche, schöpferische Kräfte haben.

Das war – mit ein paar Worten – die Lage, die ich vorfand und die ich nützen wollte.

Ich zog hierher auf Fonval, um mit aller Muße arbeiten zu können.

Und bald darauf gelangen mir wunderbare Operationen. Sie sind weltbekannt. Besonders die eine. Du erinnerst dich gewiß.

Lipton, der Konservenkönig, der amerikanische Milliardär, hatte nur ein Ohr und wollte doch zwei haben. Ein armer Teufel verkaufte ihm eins von sich für 5000 Dollar. Ich führte die kleine Operation aus. Das neue aufgepfropfte Ohr starb erst mit Lipton, zwei Jahre später – an einer Indigestion.

Und da, während die Alte wie die Neue Welt meinen Triumph bejubelten, zur selbigen Zeit, da ich aus lauter Liebe meiner Emma ungeheuere Reichtümer schaffen wollte, hatte ich jene große Idee, die mir also kam:

Wenn ein Milliardär, den sein fehlendes Ohr ärgert, für die Behebung dieses kleinen Schönheitsfehlers schon 5000 Dollar bezahlt – wieviel möchte er dann wohl dafür bezahlen, daß er ganz und gar an Leibe ausgewechselt wird, daß er zu seinem Ich – zu seinem Gehirn – einen vollständig neuen Körper bekommt, ein neues, anmutiges, männliches und junges Kleid aus Fleisch und Blut an Stelle seines alten gebrechlichen und abstoßenden Plunders? – Und wieviel Bettelvolk andererseits gäb's, das seine glänzende Anatomie gerne für ein paar Jahre Schlemmerei fortwürfe?

Du mußt bedenken, Nicolas, daß der Kauf eines jugendlichen Körpers nicht nur die Annehmlichkeit einer neuen Geschmeidigkeit, Blutwärme und Abhärtung bedeutet, sondern auch den enormen Vorteil mit sich bringt, daß der ganze Mensch sich in diesem neuen Milieu regeneriert – verjüngt! Oh ... ich bin auch nicht der erste, der dies anstrebte! Paul Bert schon gab die Möglichkeit zu, daß man ein Organ nacheinander auf mehrere Leiber übertragen könnte, in dem Maße wie die alt werden ... derart, daß durch solche fortwährenden Verjüngungen der Traum zur Wirklichkeit wurde, unbegrenzt lange zu leben, mit dem gleichen Magen etwa, auch mit dem gleichen Gehirn durch viele Leiber hindurch. Das hieß wahr und wirklich: Ein Mensch kann unbegrenzt lange leben, mit Hilfe einer Reihe von Verkörperungen, einer Reise durch verschiedene Rümpfe ... indem man von einer Haut in die andere fährt, so wie vom Nacht- ins Taghemd.

Die Erfindung zu machen überholte weit all meine früheren Hoffnungen. Ich verfolgte von nun an nicht nur mehr die Möglichkeit der Auswahl einer sympathischen Einkleidung: Ich hielt das Geheimnis der Unsterblichkeit.

Da das Gehirn der Sitz des ‹Ich› ist – du weißt doch, das Rückenmark ist nur eine Transmission, ein Zentrum aller Reflexe – handelte es sich um nichts weiter als: okulieren zu können ....

Freilich, von einem Ohrwaschel bis zum Gehirn ist nicht nur ein Sprung ... und doch nur wieder ein Sprung: (1°) von der knorpeligen Substanz zur Nervenmaterie und (2°) vom Angegliederten zum Ganzen. Da mußte mir die Logik helfen, die Logik, die sich auf berühmte und offiziell beglaubigte Präzedenzfälle stützen konnte:

1° Abgesehen von Pfropfungen der Schleimhaut, Haut usw. usw. ersetzten im Jahre 1861 Philippeaux und Vulpian die Nervenmaterie eines Sehnerven.

1880 wechselt Gluck bei einem Huhn einige Zentimeter Hüftnerven gegen Kaninchennerven aus.

1890 löst Thompson ein paar Kubikzentimeter Gehirn von Hunden und Katzen aus und führt dafür andere Zerebralsubstanz entweder von andern Hunden und Katzen oder anderen Arten ein.

Hier kamen wir also vom Knorpel zum Nerv, vom Ohrfragment zum Gehirn. – Besehen wir uns noch die zweite Schwierigkeit:

2° Die Gärtner verpfropfen leicht ganze Organismen.

An Stelle von Fingern, Schwänzen und Pfoten verpfropften Philippeaux und Mantegazza schon ziemlich bedeutende Organe: wie Milz, Magen, Zunge. Machten – wie aus Liebhaberei – aus einem Huhn einen Hahn. Sogar die Bauchspeicheldrüse versuchte man zu verpflanzen.

Orrel und Guthrie glauben 1905 in New York Venen und Arterien von Tieren auf Menschen übertragen zu können.

Somit wären wir über die Grenze vom Angegliederten zum Ganzen gekommen.

Endlich behauptet Mantegazza, er hätte Markteile und Froschgehirne übertragen! ...

Nach alldem waren also meine Projekte realisierbar.

Ich ging ans Werk.

Aber da war ein Hindernis: es geschah, daß, sowie Leib und Gehirn getrennt wurden, das eine oder andere oder alle beide starben, eh sie mit dem Fremden verbunden waren.

Aber da faßte ich mir vor den folgenden Tatsachen ein Herz.

Was den Leib anbetrifft:

Ein Tier kann sehr wohl mit nur einem Gehirnlappen leben. Du selbst sahst eine Taube sich wenden und drehn, die zu drei viertel Teilen ihres Gehirns beraubt war.

Oft fliegen geköpfte Enten weit, ja Hunderte von Metern weit vom Block fort, auf dem ihr abgehauener Kopf liegt.

Eine Heuschrecke lebte vierzehn Tage lang ohne Kopf. Vierzehn Tage lang! Das ist ein wahr bewiesenes Experiment.

Und was die einzelnen Organe betrifft, so erzählte ich dir vorhin schon.

Gehirn und Leib mußten also bei richtiger Behandlung die paar Minuten Trennung, die unbedingt erforderlich sind, jedes für sich allein leben.

Aber obgleich dem so war, brachte mich die Langsamkeit der Trepanation im Prinzip darauf, nicht die Gehirne, sondern die ganzen Schädel auszuwechseln, indem ich von Brown-Séquard wußte, daß der Schädel eines Hundes, der mit oxydiertem Blut angefüllt war, die Hinrichtung um eine Viertelstunde überlebte.

Aus jener Zeit datieren heteroklitische Wesen: Ein Esel mit einem Pferdekopf, eine Ziege mit einem Hirschkopf ... ach! In der Nacht deiner Ankunft hat Wilhelm die Türen offen gelassen, und diese Monstra, die eines Doktor Moreau würdig waren, haben mit vielen andern Behandelten das Weite gesucht.

Aber wo bin ich stehengeblieben? Ja ... Ich will dich Genesenden nun nicht mit vielen Details übermüden: wie ich die erste Methode aufgab und glücklich die ‹Lernesche Schädelkreissäge Extra Rapid› erfand, jene Gehirnbehältergloben oder künstlichen Hirnhäute und all die Nervensalben und Nervenlöther, wie ich auf die Notwendigkeit von Morphiuminjektionen nach Broca kam, die die Blutgefäße verengern und allzu reichlichen Blutverlust verhüten, wie ich den Gebrauch von Äther zur Betäubung einführte usw. usw. usw. usw. ...

Dank alldem intervertierte ich die Persönlichkeit eines ... eines ... (ach! ich kann nie auf den Namen kommen!)... eines ... Eichhörnchens und einer Ringeltaube – das war fein – dann die einer Grasmücke und einer Viper, eines Karpfens und einer Amsel: kaltes Blut und warmes Blut - das war glänzend! Nach all solchen Dingen mußte die Substitution eines Menschen ein Kinderspiel sein.

Da boten sich Karl und Wilhelm mir zum Hauptversuch an. Das war groß, das war das Höchste. Otto Klotz war fort, hm! Mac-Bell war nicht sicher: so operierte ich einzig mit Hilfe von Johann und mit meinen automatischen Maschinen.

Es gelang über die Maßen.

Die braven Kerle! ... Wer wollte vermuten, daß ihnen ihr ganzer Leib amputiert ist und daß seit jenem Tag dieser in jenem und jener in diesem wohnt und umherläuft! ... Sieh doch!»

Und er rief die Gehilfen herbei, hob ihnen die Haare auf und zeigte mir die veilchenfarbenen Ringe um den Hinterkopf, von einer Schläfe zur andern. Die beiden Deutschen lächelten sich an – ich mußte sie bewundern. Dann fuhr Lerne fort zu erzählen:

«Mein Glück war also gemacht. Ich sollte Ruhm erwerben, und ich sollte meine geliebte Emma – mein Unschätzbarstes, Nicolas! besitzen!

Aber nun galt's, meine Erfindung anzuwenden.

Die Wahrheit zu sagen – etwas bekümmerte mich. Ich meine den Einfluß der Moral auf das Physische und umgekehrt. Nach einigen Monaten veränderten sich nämlich meine Operierten. Wenn ich einen Körper mit einer feineren Geistigkeit als vorher begabte, so ruinierte die ihn; ich sah unter anderm, wie Schweine mit dem Gehirn eines Hundes leidend wurden, stark vom Fleisch fielen und sehr rasch verendeten. Und im Gegenteil – die Intelligenzen, die dümmer als ihre Vorgänger waren, unterwarfen sich ihrem neuen Leiblichen, und jedes solche Tier wurde immer noch blöder und gedieh dabei aufs allerfetteste. Zuweilen kam's auch vor, daß sehr wildes Fleisch einen kleinen Geist mit all seiner Tierheit beeinflußte: Einer meiner Wölfe übertrug all seine Grausamkeit auf ein Hammelhirn! – Aber würde dieser Nachteil bei meinen zukünftigen Klienten, den Menschen, nicht schreckliche Fehlschüsse an Gesundheit und Charakterstärke zeitigen? Das war wie eine Verhöhnung und konnte mich dennoch nicht abhalten.

Ich wollte Mac-Bell nicht gerne mit Emma allein lassen, so expedierte ich ihn nach Schottland. Ich aber nahm den Kurs nach Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der Milliardäre und des angeklebten Ohrs. Das schien mir das geeignetste für mich. Und das war vor zwei Jahren.

Am Tag nach meiner Ausschiffung mietete ich mir fünfunddreißig Strauchdiebe, die entschlossen waren, ihre gesunde Leiblichkeit zu Nutz und Frommen von fünfunddreißig Milliardären, die ich kennenlernen, ausforschen, belehren und überzeugen mußte, zu opfern.

Schlappe.

Ich hatte bei den abscheulichsten und verdorbensten angefangen.

Die einen hielten mich für wahnsinnig und ließen mich hinausschmeißen.

Wieder andere waren beleidigt. Bedeuteten mir schielend und aus schwindsüchtigen Lungen, wie ich dazu käme, sie krank zu finden.

Todkranke waren sicher, in den allernächsten Tagen zu genesen, und noch sicherer, daß sie unter der Wirkung meines Äthers sterben würden.

Noch andere getrauten sich nicht, denn: ‹Das hieße Gott versuchen!› Die scheuten mich wie den Teufel, ja, besprengten mich sogar mit Weihwasser .... Ich hatte ihnen gut alle möglichen Vorstellungen über Religion und Leben machen ... es nützte nichts.

Viele waren der Meinung: ‹Man weiß, was man hat, aber man weiß nicht, was man kriegt.›

Wirst du mir glauben, wenn ich dir sage, daß die Weiber die einzigen waren? Die wollten närrisch gern zu Männern gemacht werden. Aber meine gemieteten Galgenvögel – zwei oder drei ganz verwegene ausgenommen – schreckten wild davor zurück, weibliche Geschlechtsteile in Kauf zu nehmen.

Ich führte ihnen das Verführerische eines unbegrenzt langen Lebens vor Augen. Aber da antworteten mir die Siebzigjährigen: ‹Das Leben, das Gott schenkt, währt sowieso schon zu lang. Wir wünschen nichts als das nahe Ende.› – ‹Aber ich gebe Ihnen doch mit der Jugend alles Sehnen und Verlangen neu zurück!› – ‹Dafür bedank ich mich schönstens! Ich hab nur noch den einen Wunsch, keinen Wunsch mehr zu haben !›

Die im Mannesalter standen, sagten mir oft: ‹Ich bin froh, daß ich weiß, was ich weiß. Ich hab lieber meine Erfahrung von heut, als daß ich bei aller Feurigkeit und Jugend noch mal all meine Jugendblödsinnigkeiten begehen möchte:›

Es fanden sich ja wohl ein paar Faustnaturen, die den Verjüngungspakt mit mir eingehen wollten.

Aber diese paar Nabobs hatten alle noch den einen Einwand: die Operation sei gefährlich, und es sei Unvernunft, soviel Leben für ein wenig Lebenslüsternheit zu wagen. Du siehst, Nicolas, nur die Jugend selber setzt ihr Leben ein ....

Es galt für mich also, die Gefahr bei allem erst noch so viel wie möglich auszuschalten. Ich war zu neuen Studien bereit! Aber mir waren die Augen geöffnet! Ich wußte von da an, wie bescheiden die Zahl derer war, die bei einer neuen Erfindung sich mir anvertrauen würden, doch auch, daß es immerhin genügen würde, mich reich und glücklich zu machen .... Aufgeschoben sollte nicht aufgehoben sein.

Ich komm verbittert und verschlossen – mit Groll und Wut im Herzen nach Fonval zurück. Für Emma und Doniphan nur noch ein unversöhnlicher Rächer. Ich erwischte die beiden; ich hab mich gerächt. Du hast's doch wohl erraten? Gestern haben die beiden Mac-Bells das Gehirn Nellys mit fortgenommen – die Seele Doniphans aber logiert in der Bernhardinerin. Die gleiche Züchtigung sollten du und Emma für den gleichen Mißbrauch erfahren. Salomo hätt nicht weiser urteilen, Circe nicht besser zaubern können als ich.

Nun denn, mein lieber Neffe, ich hab gearbeitet – trotzdem du mir dann hierherkamst und ich so peinlich auf dich aufpassen mußte. Vielleicht trennen mich nur noch Tage, und mir gelingt der Transport der Persönlichkeit ohne chirurgischen Eingriff.

Stell dir vor, ich hab die Okulation von Pflanzen nie vernachlässigt. Ich hab es darin sogar sehr, sehr, sehr weit gebracht, und diese meine Erfahrungen zusammen mit meinen Experimenten an Tieren, dies bildet heut ein ziemliches Universalwissen, was Verpflanzung und Übertragung überhaupt angeht. Die Kombination dieser Wissenschaft mit andern Wissenschaften ist's, die mir die mögliche Lösung ergibt. – Man generalisiert im allgemeinen viel zu wenig. Nicolas! Wir sind in Parzellen vernarrt, in unendlich kleine Minuskeln sterblich verliebt, wir sind von der Manie der Analyse besessen, unser Auge hängt am Mikroskop. Bei der Hälfte all unserer Forschungen müßten wir ganz anders vorgehen, mit einem – wie sag ich's gleich? – mit ganz entgegengesetzten, sozusagen synthetisch-optischen Instrumenten, mit einer synoptischen Brille, wenn du so willst, kurz: mit etwas wie einem Megaloskop statt immer mit dem Mikroskop!

Ich steh vor einer kolossalen Entdeckung, kann ich dir sagen!

Aber ohne Emma, mußt du nicht vergessen, wär ich nicht so weit, hätt ich's niemals bis hieher gebracht! Die Liebe ist's, die mich zum Ruhm antreibt! ... Zu diesem Behufe, mein liebes Neffchen, wirst du dir die menschlichen Züge des Professors Frederic Lerne gefallen lassen müssen, ei ja! Emma liebte dich mit einem so schönen Feuer, mein Lieber, daß ich darauf kam, mich als dich zu verkleiden, um an deiner Stelle so süß geliebt zu werden! Diese Rache ist die beste ... und wie so pikant obendrein! Ich brauche nur noch für wenige Zeit meine verhutzelte Gestalt, dann aber werd ich den alten Adam ausziehn ... Der junge Adam, liegt denn der auf dem Bett da drüben nicht schon fein bereit für mich?»

Bei diesen sarkastischen Worten weinte ich laut auf – und so schön ich nur konnte. Mein Onkel tat, als ob er Mitleid mit mir hätte:

«Aber ich seh schon, ich mute dir, so tapfer du dich hältst, mein teurer Patient, fast zuviel zu. Ruh dich nun, ruh dich. Daß deine Neugierde befriedigt ist, das wird dir einen heilsamen Schlaf bringen. – Nur, daß ich nicht vergesse: Erreg dich nicht, daß du die Welt nun anders als früher siehst. All die Dinge werden dir nun eben, flach, platt wie auf einer Fotografie erscheinen. Das kommt davon, daß du sie meist nur mit einem Auge auffängst. Viele Tiere sind sozusagen zwei Einäugige. Sie sehen nicht stereoskopisch, Andere Augen, andere Ansichten. Andere Ohren, andere Musik. Und so fort. Das tut nichts. Es faßt ja auch jeder Mensch jede Sache anders auf. Aus Gewohnheit heißen wir eine bestimmte Farbe ‹rot›, wohl ja! Aber der eine versteht darunter – das kommt sogar häufig vor – eine Impression wie grün, ein anderer wie türkischblau .... Und damit – schönen guten Abend!»

 

Nein, meine Neugierde war absolut nicht befriedigt. Ich wollte überlegen, aber es war mir nicht möglich, die Punkte festzuhalten, die mein Onkel unaufgeklärt gelassen hatte. Ich war zu Tode betrübt, das war es. Und ich war nach dieser Operation wie mit Äther imprägniert. Mit Ätherdämpfen gesättigt – meine menschliche Urteilskraft sowohl als mein Stierherz.