BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Maurice Renard

Der Doktor Lerne. Ein Schauerroman

 

Übersetzt von Heinrich Lautensack

 

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I

Das Präliminar.

 

Solches begab sich an einem Winterabend, vor über einem Jahr. Es war nach dem Abschiedsdiner, das ich meinen Kameraden in der Avenue Victor Hugo, in jener kleinen Privatwohnung gab, die ich vollständig möbliert gemietet hatte.

Da diesen Domizilwechsel nichts anderes als meine Vagabundenlaune motivieren konnte, nahmen wir meinen nomadischen Einweihungsschmaus von unlängst an diesem selbigen Herd gleicherweise fidel da wieder auf, wo wir ihn ehedem verließen; und als die Stunde der Schnäpse und Witze geschlagen hatte, grub ein jeder von uns aus sich aus, womit er brillieren könnte, zuvörderst natürlich Gilbert, der Schlüpfrige, Marlotte, der Held der Paradoxa und Possenreißer der ganzen Bande, und Cardaillac, der ständige, angestellte Mystifizierer mit festem Gehalt.

Ich weiß nicht mehr sehr genau, wie's kam, daß nach einer Stunde Tabakqualmens irgendeiner das elektrische Licht löschte, den Dringlichkeitsantrag auf Tischrücken stellte und uns in der Finsternis um einen Nipptisch gruppierte. Und dieser Jemand – man merke sich's wohl – war nicht der Cardaillac. Aber vielleicht hatte ihn Cardaillac als seinen Helfershelfer gewonnen, wenn ja Cardaillac der Schuldige war. Wir waren also acht Mann stark, ziffernmäßig acht Ungläubige gegen eine Null von einem Nipptischchen, das einzig auf seinen Dreifuß rechnen konnte und das sich mit seiner runden Platte unter unsern sechzehn Händen bog, die sehr nach den Regeln des Okkultismus aufgelegt waren.

Jener Marlotte war's, der uns diese Regeln lehrte. Der war früher einmal eifrig auf Beschwörungen ausgewesen und, wenn auch nur als ziemlich ruchloser Laie, mit solchen tanzenden Möbeln vertraut; aber da er uns sonst unsern Gewohnheits-Hanskasper abgab, ließ sich jetzt jeder von uns bereitwilligst herbei, daß er als Autorität die Oberleitung der Seance an sich riß, und wir alle freuten uns im voraus auf einen Mordsspaß.

Cardaillac, der war mein Nachbar zur Rechten. Und ich hörte, wie er ein Lachen verschluckte und hustete.

Währenddessen rückte der Tisch.

Und Gilbert stellte eine Anfrage, und – maßlose Verblüffung Marlottes! – der Tisch antwortete. Antwortete mit trockenen Knarrlauten, so wie Holz, das sich verzieht, und genau nach dem esoterischen Alphabet.

Marlotte übersetzte mit einer Stimme, der nicht wenig von ihrer sonstigen Sicherheit abging.

Nun wollte ein jeder den Nipptisch befragen, der in seinen Repliken bedeutenden Scharfsinn aufwies. Ernst wurde es um die Sache; verzweifelte Gehirnarbeit hub an. Die Fragen drängten sich auf unsere Lippen, und die Antworten geschahen überaus prompt aus dem Fuß des Tischchens – ein wenig mehr meiner Seite zu, wie mir schien, und zu meiner Rechten.

– Wer wird in einem Jahr hier wohnen? kam nun der an die Reihe, der diese spiritistische Erlustigung angeregt hatte.

– Oho! Wenn du ihn über die Zukunft interviewst, schrie Marlotte, dann wirst du lauter Aufschneidereien zu hören kriegen – oder er schweigt dann gar vollends.

– Laß doch! mengte sich Cardaillac ein.

So fragte man auf ein neues:

– Wer wird in einem Jahr hier wohnen?

Der Tisch knarrte.

– Niemand, bedeutete der Interpret.

– Und in zwei Jahren?

– Nicolas Vermont.

Alle hörten den Namen zum allererstenmal.

– Was wird der zu dieser Stunde machen, das Jahr auf diesen Tag? ... Wir wollen doch einmal sehen, was er macht...

Antwort!

– Er beginnt ... hier auf mir zu schreiben ... seine Abenteuer hinzuschreiben.

– Vermagst du zu lesen, was er schreibt?

– Ja ... und auch, was er in der Folge schreiben wird, das eine wie das andere.

– So sag es uns an ... Nur den ersten Anfang, nur den...

– Müde. Alphabet ... zu umständlich. Gebt eine Schreibmaschine her, will es Daktylographen eingeben.

Ein Murmeln lief durchs Dunkel. Ich stand auf, holte meine Schreibmaschine und stellte sie auf den Nipptisch.

– Das ist eine Watson, sagte der Tisch. Mag ich nicht. Bin Französin, verlange französische Maschine, muß eine Durand haben.

– Eine ... Durand? machte mein Nachbar zur Linken höchlichst verwundert. Existiert denn eine solche Marke? Ich kenne keine.

– Ich auch nicht.

– So wie ich.

– Und ich.

Uns blutete das Herz über solchem Pech. Da kam die Stimme Cardaillacs deutlich und langsam einher:

– Ich benutze ausschließlich eine Durand. Wollt ihr? Soll ich sie holen?

– Wirst du schreiben können, ohne zu sehen?

– In einer Viertelstunde bin ich wieder da, sagte der. – Und ging, ohne uns zu antworten.

– Wenn Cardaillac sich dreinmischt, sagte ein Tischgenosse, dann gibt's was zu lachen.

Jedoch der neuaufflammende Lüster zeigte strengere Gesichter als gut war. Marlotte sogar war aschfahl.

Cardaillac kam nach einer winzigen Spanne Zeit zurück – man könnte sagen: erstaunlich winzig. – Er setzte sich an den Nipptisch vor seine Durand-Maschine, man machte wieder Nacht, aber unversehens erklärte die Platte:

– Die übrigen unnötig. Stell du bloß deine Füße auf die meinigen. Schreib.

Und man vernahm das Klimpern der Finger auf den Tasten.

– Seltsam! rief das Typewriter-Medium nun aus. Verflucht! ... Meine Hände gehen von ganz allein!...

– Pfff! So ein Schwindel... zischelte Marlotte.

– Wenn ich's euch schwöre!... ich schwör's euch zu... versetzte Cardaillac.

Wir verharrten eine ganze Weile und vernahmen nichts als das Geklapper dieses «Fernschreibers», das nur alle Augenblicke durch das Kling-kling am Ende einer Zeile und durch das Rack-lack des Schlittens unterbrochen wurde. Und alle fünf Minuten ein vollgeschriebenes Blatt. Wir beschlossen, in den Salon hinüberzugehen und da eins ums andere laut zu lesen, so wie sie Gilbert mir von Cardaillac überbrachte.

Blatt 79 dechiffrierten wir ums Morgenlicht, in dem Augenblick, als die Maschine stillstand.

Aber was die Durand uns da alles gedruckt hatte, das fesselte uns so, daß wir Cardaillac um die Liebe baten, uns die Sache bis zum Schluß zu liefern.

Und der ging auch ans Werk. Und als er so manche Nacht vor dem Nipptisch an seinem Schreibe-Clavicembalo verbracht hatte, besaßen wir die Abenteuer jenes Vermont vollständig. Der Leser wird auf den folgenden Seiten Bekanntschaft mit ihnen machen.

Sie sind äußerst wunderlich, und sie sind sehr heikel. Ihr zukünftiger Verfasser darf sie nicht dem Druck übergeben. Er wird sie verbrennen, sobald sie nur geschrieben sein werden. Dergestalt daß, wär der Nipptisch nicht so zuvorkommend gewesen, kein lebendiges Wesen je in ihnen zu blättern vermöchte. Und das ist so prickelnd für mich, der ich von der Echtheit der Urkunde überzeugt sein muß, daß ich die Zeilen veröffentliche, noch ehe sie überhaupt geschrieben sind.

Denn ich halte sie für echt. Obgleich sie einen Charakter zeichnen, der verzerrt bis zur Grimasse erscheint; und wiewohl sie seltsam jenen auf das flüchtigste hingeworfenen Skizzen ähneln, spielerischen, beinahe in der Art von Glossen hingekritzelten Randbemerkungen zu etwas, das freilich dann die Wissenschaft selber wäre ...

Oder sollten sie apokryph sein? Märchen kommen leicht in den Ruf, daß sie verführerischer seien als die Historie. Und dieses Märchen von Cardaillac, dieses brauchte so vielen andern in nichts nachzustehen.

Gleichwohl wünschte ich mir, dieser Doktor Lerne sei die getreue Niederschrift von wahrhaftigen Mißgeschicken, denn in dieser Voraussicht – da ja der Nipptisch es prophezeit hat – haben die Drangsale unseres Helden in Wirklichkeit noch gar nicht angefangen und werden sich zweifellos erst in der Zeit abspielen, in der sie dieses Buch schon unter die Leute bringt – welch über alle Maßen aufrüttelnde, fieberische Aktualität!

Überdem werd ich ja heut in zwei Jahren wissen, ob Herr Nicolas Vermont meine kleine Privatwohnung in der Avenue Victor Hugo bewohnt. Und dieses ist's, was mich in fast allem im voraus sehr bestärkt und in nichts zweifeln läßt: wie soll ich von Cardaillac, einem so tiefernsten und so hochintelligenten Burschen, annehmen, er hätte soviel Stunden und Stunden verschwendet, um einen ähnlichen Blödsinn einfach zu fabrizieren? ... Ja, und das ist mein Hauptargument, das für seine Lauterkeit ficht.

Nun, und wenn ein spitzfindiger Leser ganz sichergehen will? Dann möge er nach Grey-l'Abbaye fahren! Dort wird man ihm schon Auskunft geben über die Existenz des Professor Doktor Lerne wie über seine Gewohnheiten. Ich allerdings, ich hab soviel freie Zeit nicht, aber ich ersuche diesen etwaigen Forschergeist dringend, mich die Wahrheit wissen zu lassen, der ich doch so sehr darauf brenne, ob der folgende Bericht weiterhin eine Mystifikation Cardaillacs bleibt oder ob er in der Tat von jenem tanzenden Geistertisch daktylographiert wurde.