BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Siegfried Keßler

1883 - 1943

 

Berthold Auerbach als Erzieher

 

Text

 

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[5]

 

 

I.

Einleitung

Dichter und Erzieher

 

Berthold Auerbach als Erzieher! Liegt nicht in der Fassung dieses Themas ein Widerspruch? Ist doch Erziehung etwas Bewußtes, zu einem bestimmten Ziel Hinsteuerndes; und damit steht sie im Gegensatze zur Poesie; denn die Dichtung hat ihren wahren Beruf in sich selbst. Sie ist der Ausdruck der Gefühle und Gedanken, die den Dichter beseelen, der da sagt: „Ich singe, wie der Vogel singt!“ Und dennoch haben viele Dichter bewußt und bestimmt wirken wollen, haben sie in ihren Werken gerade die Fragen der Erziehung ihrer Zeit zum Gegenstand der Erörterung gemacht. Sie waren sich dabei bewußt, daß Dichtung und Erziehung grundverschieden voneinander seien, wie auch Auerbach selbst es einmal klar und deutlich ausspricht: 1) „Mir wird jetzt auf einmal klar, wie das Didaktische etwas ganz anderes ist als das Poetische. Ich bin doch eigentlich nur zu diesem befähigt und befugt.“ Und ein anderes Mal: 2) „Ich werde mich doch nicht ausschließlich didaktisch halten können, und wollte ich das, so bin ich da immer wie ein Kavallerist zu Fuß, ich muß meinen Hippogryphen, und wenn er auch ein Pony ist, reiten.“ So hat uns Auerbach selbst gezeigt, wie Dichtung und Didaktik trotz grundsätzlicher Verschiedenheit Hand in Hand gehen können. Das eigentliche Wesen des Pädagogen, sein Werden und Wachsen, seine Tugenden und seine Fehler, seine Gegenwarts- und seine Zukunftsaufgaben werden mit Dichteraugen geschaut und mit Dichterworten geschildert, und anderseits werden auch die wichtigsten Probleme der Gegenwartspädagogik, vor allem aber das Objekt der Erziehung, das Kind selbst, von berufener Feder geschildert. Wenn uns die deutsche Dichtung auf diesem Gebiete Wertvolles und Zukunftsweisendes zu verkünden hat, dann ist sie mehr als blosse Geschichte, mehr als blosse Tatsachenbeschreibung, dann arbeitet sie selbstschöpferisch mit an dem inneren Ausbau des Erziehungswesens. Und zu den Männern, die als Bahnbrecher auf diesem Gebiete zu bezeichnen sind, gehört auch Berthold Auerbach.

 

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1) Briefe. I. 258. 

2) Ebd. I. 238.