BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Georg Heym

1887 - 1912

 

Versuch einer neuen Religion

 

Fragment

1909

 

Quelle:

di-lemmata-Projekt

 

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Versuch einer neuen Religion

1909. 24./25. Dezember nachts.

 

Eine Vortragsskizze

 

I

 

II

Ruunt dies. Aequales alter et alter!

Quando ausi aetas, quando nobis vertitur.

Discipulus:

Qualem religionem homines subsequcutur?

Qualem doctrinam, prophetae Mohammed an dei Christi?

Gemistos Plethon:

Neutram. Sed a gentilitate non differentem.

Misithrae. A.D. 1450

 

Die herrschende Religion gleicht einem Gefäß ohne Inhalt, einem Totenkopf ohne Hirn, dem übertünchten Grabe der Bibel.

Es wird Zeit, uns mit einer neuen Religion zu umgeben.

Dem Volke die Religion ganz zu nehmen, ist verfehlt. In seinen breiten Schichten kann es sie nicht entbehren, denn es würde für sie keinen Ersatz finden, nicht den, den der Gelehrte in seinem Wissen, der Künstler in seiner Kunst entdeckt.

Diese Zeit ist zu reif, um sich mit den dogmatischen Spekulationen der herrschenden Kirchen herumzuschlagen, mit der Dreieinigkeit, drei gleich eins, mit der Parthenogenesis, mit der Himmelfahrt, mit der Verwandlung von Wein und Brot und was der mittelalterlichen Tollheiten mehr sind, abzugeben.

Aber auch abgesehen von den dogmatischen Dornenhecken, ist die christliche Religion nicht imstande, die Herzen eines Volkes zu befriedigen. Ihre Hauptlehre, die Liebe, kann man herüberretten, ihre Formen muß man zerschlagen. Paarte sich aber diese Liebe mit der Kraft, mit dem Willen zum Diesseits, zu seinen Helden und Menschen, die Menschen waren mit allen Schwächen und Größen. Die man liebt, weil sie aus dem eigenen Holze geschnitzt sind. Die aus den Tiefen zum Licht stiegen, die nicht a priori überirdisch, fern und unwahr erscheinen, wie der Christus Jesus.

Gewiß werden wir auch seine Person nicht entbehren können, - einmal um seine Anhänger nicht zu verstoßen - dann auch um in ihm den großen Menschen nicht zu verlieren - wir werden ihn aber nicht turmhoch über die andern seines Stammes erhöhen.

Wir werden ihn entgöttern und ihm dafür die Krone der Menschheit verleihen. Wir werden ihn gleichsetzen den anderen Großen unseres Geschlechts.

Heroenverehrung sei das eine Ziel, Naturverehrung das andere.

Die herrschende Lehre kann die Schönheit der Natur nicht leugnen, so gern sie es möchte. Läßt man ihr die Wahl: Den Kirchenbesuch oder einen Gang durch einen stillen Wald am Sonntagsmorgen, sie wird fraglos den Kirchgang für das verdienstvollere Werk erklären. Und damit beweist sie, wohin ihr das Herz steht.

Wir wollen uns aber nicht von der Kirche knechten lassen, wir wollen uns eine neue Religion zimmern. Wir wollen anknüpfen an die Antike und die Renaissance, wir wollen dem Menschen und der Natur einen Tempel errichten.

 

Spezieller Plan

Die Priester.

Die Tempel.

Die Gottesdienste.

 

 

I. DIE PRIESTER

 

Sie sind aus reinem Blute. Sie müssen ehelicher Geburt sein.

Ein Jahr nach ihrer Geburt werden sie ihrer Mutter genommen und in die Tempelschulen gebracht. Dort wachsen sie auf, je zehn unter einem Paidagogen. Ihr Unterricht besteht aus einer allgemeinen Morallehre, Geschichte, Literatur und den alten Sprachen. Besonderes Gewicht wird auf die Rhetorik gelegt. Bei den großen Festen der Sonnenwenden halten sie Wettkämpfe in der Redekunst. Sowohl auf die Anmut des Vortrages, als auf den Gehalt und die Form der Rede ist gleicher Wert zu legen.

Der Sieger erhält einen Lorbeerkranz, sein Name wird in den Blättern der Republik genannt. Der Präsident der Republik empfängt an einem Tage die Sieger.

Erkrankt einer der Tempelschüler, zeigt er sich sonst als nicht wert dieses höchsten Berufs, so wird er augenblicklich entfernt. Auch sonst, wenn er sich als von trauriger Gemütsart erweist. Ebenso halte man alles von den Knaben fern, was auf Leiden und Schmerz schließen läßt. Sie sollen keinen Krüppel oder Blinden sehen.

Ihr Herz soll einem Spiegel aus Stahl gleichen, heiter und hart. Nichts vergiftet die Seele der Kinder so, wie das Leiden.

Mit dem achtzehnten Jahre lernen sie dann auch das Leiden kennen. Sie müssen von nun an in den Krankenhäusern und bei den Städten der Verbrecher Dienste tun. Sie müssen in den Häusern der Armut leben, sie müssen in die Tiefen des Lebens schauen. So wird ihr Herz auch das Mitleid erlernen.

Mit dem fünfundzwanzigsten Jahre werden sie auf Reisen gehen. Sie werden den alten Religionen dienen, sie werden mit der Karawane nach Mekka gehen, sie werden im Ganges mit den Fakiren baden, sich mit ihnen in den Schoß der Meditation versenken. Sie werden an allen Orten nach den Sitten der Völker leben, ganz ihr Teil, ganz ihre Brüder.

So wird ihr Geist weit werden. So sei der Priester fest, liebreich und von großer Erkenntnis.

Mit dem dreißigsten Jahre kehrt er zurück und dient weitere fünf Jahre als Paidagoge. Dort erziehe er, wo er selbst erzogen wurde. - Wie man nach weiten Reisen am liebsten an einem vertrauten Ort der Heimat weilt und dort am freudigsten arbeitet.

Mit dem fünfunddreißigsten Jahre endlich empfange er die großen Weihen.

Immer an einem Tage, vielleicht zum Beginn des Frühjahrs - dem Lenz- oder Ostarafeste, werden die Priester in dem Haupttempel der Republik geweiht.

Mit den Weihen empfangen sie das Recht zu predigen.

Ihre Anstellung vollzieht sich derart, daß sie von den Gemeinden in geheimer und direkter Wahl gewählt werden. Die Gelehrten und Künstler des Bezirks haben je zwei Stimmen.

Der Gewählte hat die Wahl, ob er in der Tempelschule oder außerhalb des Tempels wohnen will.

Es steht ihm frei, sich zu verehelichen. Er verliert aber damit sein Amt.

An der Spitze aller Priester steht der Oberpriester. Er muß das vierzigste Jahr vollendet haben und sich durch eine beliebige große Tat einen Namen gemacht haben.

Er verwaltet sein Amt je auf fünf Jahre. Ist aber wieder wählbar. - Die Wahl wird von der Gesamtheit der Priester, Gelehrten, Künstler, und Staatsbeamten vollzogen (gleich, geheim, direkt). Er leitet die großen Feste für die Sonne und den Mond und die Gestirne.

Er trägt einen roten Talar, der Toga ähnlich, einen Reif aus Gold und einen blauen Mantel. Das Ornat vererbt sich von Lustrum zu Lustrum. Stirbt er in seiner Amtsperiode, so findet achttägige strenge Landestrauer statt.

Er wird verbrannt. Seine Asche

Zu einem Viertel der Luft

Zu einem Viertel der Erde

Zu einem Viertel dem Wasser

Zu einem Viertel dem Feuer

gegeben.

 

 

II. DIE TEMPEL

 

Der Tempel liegt in einem großen Waldgürtel. Auf eine Meile im Umkreise wohne kein anderes Leben. Auf je 500000 Menschen komme ein Tempel. An dem Rande des Tempelbezirks liegen die Bahnhöfe, die Gasthäuser.

Betritt ein Mensch den Bezirk, so entledige er sich seiner Kleider. - Schon der Wald um den Tempel ist heilig. - Man gibt ihm eine weiße Toga und einen Epheukranz in das Haar. An dem Walde werde nichts verletzt. Keine Axt berühre ihn. Nur die Wege zu dem Tempel bleiben frei.

Zu dem Plan: Es wird Sache des Staates sein, die Zahl der Priester so einzuschränken, daß keiner zu viel, keiner zu wenig sei.

Man nehme das edelste Blut des Landes.

 

 

 

III. GOTTESDIENSTE

 

Sie zerfallen in die Dienste der Heroen an einem jeden siebenten Wochentag, dem Sonn(en)tag, und den Dienst der Natur in den großen Festzeiten. Solche haben statt:

1) Zur Zeit der Sonnenwenden im Sommer und Winter. - Ein Fest von je acht Tagen. Die Arbeit ruht. Das Volk wird gespeist, es werden Wettkämpfe veranstaltet. Am Tage der Sonnenwende selbst vollzieht der Oberpriester das Opfer, das hier in einem weißen Lamm besteht. Er schleudert das Blut gegen die Sonne. Das Volk stimmt den Hymnus auf die Sonne an.

2) Zur Zeit der Frühjahrs- und Herbstgleichen. Ein Fest von je vier Tagen. Wie oben. Das Opfer besteht hier in den Saatkörnern und den Früchten. Das Volk singt den Hymnus auf die Kraft der Erde.

An diesen Festen veranstalten auch die Dichter ihre Wettkämpfe. Der Sieger tritt vor das Volk und dankt der Sonne.

3) Die Feste des Mondes und der Gestirne.

Gesang, Dunkelheit, Tanz. In diesen Nächten werden die Ehen der neuen Jugend der Republik geschlossen. Der Wald wird den Liebenden freigegeben. Sie finden statt nach der Zahl der zwölf Monate.

Die Feste der Heroen, oder der ordentliche Gottesdienst.

Eingeleitet durch einen Gesang zu Ehren des Genius.

Predigt des Priesters über das Leben des Sonntags-Helden. Sein Leben wird erzählt. Stellen seiner Werke werden verlesen, seine Taten erläutert.

Der Priester vollzieht das Dankopfer für den Genius. Es besteht aus einem Becher Weines, und einer Fackel, die er vor der bekränzten Bildsäule des großen Toten entzündet. - Dieses Opfer diene als Symbol der Begeisterung, die das Leben des Genius erweckt hat.

Ein Gesang des Volkes beschließt den Festakt.

Mag man im einzelnen sich den Verlauf der Gottesdienste anders denken, es ist das nicht meine Sache. Mir liegt daran, zuerst einmal den Gedanken der Heroen- und Naturverehrung in einer etwas diskutablen Form dem Kreis der Freunde vorgelegt zu haben.

Abgesehen von den öffentlichen Tempeln müßte sich auch jeder, der dazu in der Lage ist, einen Haustempel oder Hausaltar anlegen mit seinen liebsten Heiligen.

Ich würde mir in dem meinigen die Bilder aufhängen der

Dichter: Grabbe, Byron, Büchner, Renner, und Hölderlin

Philosophen: Heraklit, Platon, Schopenhauer, Nietzsche.

Der Maler: Lionardo, Michelangelo,

Der Tonkünstler: Offenbach.

In jeder Nische ein Bild mit einer kleinen Flamme. Ein Werk aufgeschlagen auf einem kleinen Betpult.

Welche Aneiferung wird der Strebende daraus erfahren, weiß er, daß er nach seinem Tode von dem Volke einem Gotte gleich geehrt wird.

 

 

 

NOTIZEN

 

Man könnte außerdem noch auf eine Art Ahnenkult zurückgreifen, wie er in China ist. Die Liebe zu dem eigenen Geschlecht, die Mutter großer Dinge.

Ich würde persönlich in dem Tempel

Der Dichtkunst auf die Schwelle ein Bild Geibels,

Der Malerei ein Bild Raffaels,

Der Philosophie ein Bild Hegels

nageln und auf ihm mir jedesmal meinen Fuß abwischen.

Übrigens: Warum nennt man die sogenannten drei großen (italienischen) Maler mit ihrem Vornamen, während man doch sonst nur den Familiennamen gebraucht?

Warum sagt man?: Michelangelo, Leonardo. Raffael.

Und nicht: Buonarroti Vinci Sanzio

Warum nennt man eigentlich den Wüstling und Plagiator Raffael groß?