BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Theodor Herzl

1860 - 1904

 

 

Philosophische Erzählungen

 

1900

 

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Solon in Lydien.

1900.

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Solon war in der Kraft seiner Jahre und seines Geistes, als er sich entschloß, Athen zu verlassen. Auf den Kyrben standen seine Gesetze, aber den Bürgern waren sie noch allzu neu. Täglich kamen Männer aus allen Kreisen und betrachteten mit Staunen oder Unwillen die Axones des Solon. Sein Freund Hipponikos redete ihn darauf an:

„Du siehst, wie Deine Gesetze allen Steuerklassen mißfallen.“

„Weil sie neu sind, Hipponikos. Meine Gesetze sind noch nicht gut, aber auch noch nicht schlecht. Junge Gesetze gleichen in Manchem dem Weine. Sie müssen reifen, nachdem sie fertig geworden sind.“

„Mein Solon, Du hast es Keinem recht gemacht. Ich wundere mich nicht, daß die Pentakostomedimnen, die Ritter und auch die Zeugiten wider Dich sind, denn Du bist ein Freund der vierten Klasse, zu der Du selbst nicht gehörst. Aber auch die Theten murren in ihrem Innern, und wenn sie Dich nicht so blind verehrten, weil ihnen Deine Seisachtheia das Schuldenzahlen erleichtert hat, sie würden wohl gegen Dich aufstehen.“

„Gesetze, Hipponikos, können nicht allen Leuten behagen. Der ist ein Thor, ein Träumer, wenn nicht ein Schurke, der durch Gesetze irgendwen zufriedenstellen will. Das Gesetz kann nur auf der Unzufriedenheit Aller beruhen.“

„Ein Tyrann könnte nicht anders denken.“

„Nur würde er es nicht sagen, mein guter Hipponikos. Der geheime Sinn meiner Gesetze war es, eine erträgliche Unzufriedenheit Aller herzustellen. Dieser Zustand ist nun erreicht. Ich habe noch die eine Sorge, wie ich ihn auf die Dauer erhalte. Denn das vermag nur ich allein.“

„Du willst also König werden, Solon?“

„Nicht doch! Wie wenig verstehst Du mich, und bist mein Freund! Ich wäre zwar fähig, Attika auch dieses Opfer zu bringen und in der Akropolis den Sitz meines hohen Ahnherrn Kodros einzunehmen. Welcher von den Eupatriden wollte mir es wehren? Doch wozu sollte ich das Abenteuer Kylons wiederholen? Denn bald wäre ich ein Kylon, meine Ordnung sähe aus, als hätte ich sie zu meinem Vortheil ersonnen, und es würden Demagogen die Unzufriedenheit ausbeuten, die der geheime Reichthum meiner Gesetze ist. Schon ängstigt mich meine eigene Macht, weil sie eine Gefahr für mein Gesetz bedeutet. Sieh', es kommen alle Tage Männer von der Küste oder aus den Bergen zu mir und fragen mich, ob sich meine Verfügungen nicht irgendwie erleichtern ließen. Ich als der erste Archon, der Allgewaltige, könne doch thun und lassen, was ich wollte. Aber soll ich, wie Penelopeia, Nachts auftrennen, was ich bei Tage gewoben? Dann gibt es wieder Andere, namentlich unter den kleinen Handwerkern, die möchten den Grund einzelner Bestimmungen erfahren. Aber es wäre vergebene Mühe, dürfte wohl auch Schaden, wollte ich den Einzelnen erklären, was nur vom Staate aus gesehen verständlich wird. Es gibt Härten in meinem Gesetze, und manchmal jammern mich die Menschen, denen ich weh thun muß. Könnte ich mein Archonten-Amt niederlegen, mir wäre besser zu Muthe. Aber sie würden mich in jeder Noth wieder rufen, weil ich in Attika der Einzige bin, dem Alle vertrauen. Dann käme ein Tag, an dem ich aus Mitleid oder um mir die Volksgunst zu erhalten, ein Loch in meine Tafeln schlüge. Ich bin ein Mensch, Hipponikos, und mißtraue meiner Schwäche.“

„Das ist freilich eine böse Lage“, sagte Hipponikos nachdenklich. „Und was gedenkst Du nun zu thun? Ich sehe einen Entschluß in Deinen Augen.“

„Ich dachte ans Sterben. Es wäre groß, wie Kodros Opfer, wenn ich den Giftbecher leerte. Niemand hätte dann die Kraft, meine Tafeln zu ändern. Aber Athen wird mich noch brauchen. Lykurgos und Miltiades, des Kypselos Sohn, und Megakles und mein Verwandter Peisistratos würden das Land nach meinem Tode muthmaßlich in Fetzen reißen. Den Peisistratos, der sich auf die mißgestimmten Diakrier stützt, halte ich für den gefährlichsten, weil er der Liebenswertheste ist. Darum will ich es so einrichten, daß ich dem Volke nicht völlig verloren gehe, wenn ich mich ihm auch entziehe. Ich will eine lange Reise unternehmen. Ich lasse mir von den Bürgern Urlaub geben. Bis ich wieder komme, werden meine Gesetze ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sein. In meiner Abwesenheit wird Niemand mein Werk zu ändern wagen aus Furcht vor meiner rächenden Heimkehr. Der ferne Solon ist schrecklicher, als der, den sie täglich sehen können. So schütze ich meine Tafeln vor Parteien und Tyrannen, und vor mir selbst.“

So that Solon. Es war sein Gedanke, zehn Jahre dem Vaterlande fern zu bleiben. Den Bürgern machte er begreiflich, daß er nach erfüllter Archontenpflicht nun auch seiner eigenen Geschäfte eingedenk sein müsse. Denn er mochte keinen Vortheil für sich vom Staate haben. Er war ein Kaufmann und wollte nichts Anderes sein.

Solons Abschied betrübte die Athener sehr, und die allgemeine Unzufriedenheit wandelte sich in Dankbarkeit und Rührung, da der Gesetzgeber von dannen zog. Solon segelte wohl über das weinfarbene Meer. Mit liebendem Blick sah er zurück nach der Küste Attikas, die in einem Sonnenstaube verblaßte, verdämmerte und entschwand. Seine Brust hob sich in Seufzern, und die Augen waren ihm ganz voll von Thränen. Da ward ihm die Dichtung zu einem guten Trost, und dieweil das Schiff an den rosig überhauchten Kykladen vorüberglitt, vorbei an Andros, Tenos, Naxos, vorbei auch später an Rhodos, hinaus ins karpathische Meer – sang sich Solon in glücklichen Hexameterndie Schmerzen von der Seele weg. Wie in den Tagen seiner Jugend war er nur noch ein Kaufmann und Poet.

In Aegypten nahm er zuerst längeren Aufenthalt. Hier waren Psenophis von Heliopolis und Sonchis von Sais die Gesellen seiner nachdenklichen Stunden. Diesen klugen und gelehrten Priestern verdankte er die erste Kunde von der Insel Atlantis, die in wundervollen Tagen jenseits der Säulen des Herakles schimmerte und von der Oberfläche des Meeres verschwunden ist, weil sie so herrlich war. Nachdem er sich mit der Weisheit der Aegypter vollgesogen hatte, wie ein Schwamm, fuhr Solon weiter. Auf Cypern war er der willkommene Gast eines Herrschers, dem er die königliche Gastfreundschaft solonisch vergalt. Er rieth und half dem Könige, dessen Stadt Aepeia auf einer ungünstigen Anhöhe lag, die ganze Stadt hinunter in eine prächtige Ebene zu legen. Denn der Blick Solons war immer ins Große und auf das Wohl der Menschen gerichtet. Der König gab der neuen Stadt zu Ehren des edlen Atheners den Namen Soli.

Von da reiste Solon nach Sardes, zu Kroisos,dem überreichen Könige der Lyder. Kroisos wollte anfänglich nach Art unvornehmer Leute durch die Vorzeigung seiner Schätze auf Solon Eindruck machen. Der Grieche betrachtete diesen aufdringlichen Prunk höflich und gelassen. Er brach nicht in die von Kroisos erwartete Bewunderung aus, was den eitlen Herrn von Lydien ein wenig schmerzte. Dennoch blieb er seinem Gaste wohlgesinnt und ertrug sogar dessen allzu philosophische Bemerkungen – über das wahre Glück – mit Geduld. Wenn Solon in seiner freiwilligen Verbannung meinte, daß Niemand vor dem Tode glücklich zu preisen sei, so wußte das Kroisos besser. Er war glücklich. Lydien, das reiche, gehörte und gehorchte ihm. Von Persern oder Griechen gab es nichts zu fürchten. Im Innern war eine Ruhe, die das Herrschen zur lauteren Wonne machte. Dazu kam das Behagen der Familie. Dem Kroisos blühte eine Tochter, Omphale genannt nach jener sagenhaften Königin von Lydien, und lieblich anzuschauen in ihrer Jungfrauschaft. Kroisos verstand es aber auch, sich das Leben auf erlesene Art zu zieren. Er schuf sich Genüsse des Geistes, ohne die Reichthum und Macht nur den rohen Gemüthern Freude bereiten. Künstler und Philosophen bewirthete er mit Anmuth, und die besten Männer von Hellas waren ihm Freunde. So war um diese Zeit auch der Fabeldichter Aesopsein Gast in Sardes. Diesem aufgeklärten Poeten verrieth Kroisos in traulicher Stunde sein Erstaunen über Solons Kälte.

„Wundere Dich nicht, o König“, rief Aesop; „so sind die Weisen. Das Vorübergehende berührt sie nicht. Sie spielen immerfort mit dem Gedanken der Ewigkeit, wie Kätzchen mit einem Knäuel Wolle.“

Solon hielt sich zu Sardes lange auf, und Kroisos empfand von Tag zu Tage mehr Achtung für den Athener, der so unbeugsamen und dabei milden Sinnes war. Er gewöhnte sich, Solon allen wichtigeren Sachen des Staates um Rath zu fragen. So lagen sie einst beim Symposion, der König, der attische Politiker und der Fabeldichter, die Häupter mit Rosen bekränzt. Kroisos hatte schweigsamer als sonst seine Trinkschale geleert. Tanz und Flötenspiel vermochten nicht, seine Stirne zu entwölken, indessen die beiden Anderen in halkyonische Träume versanken. Des Königs Laune fiel endlich dem Aesop auf.

„Ich will euch den Grund sagen, meine Freunde“, sprach der König, und er winkte den Sklaven, daß sie sich entfernten. Dann fuhr er fort: „Heute ist die schwerste Aufgabe meiner Regierung an mich herangekommen, plötzlich wie das Schicksal. Nie habe ich in meinem Gemüthe die Götter so heiß angefleht, sie mögen mir den Weg zeigen.“

„Was ist es, Kroisos?“ sagte Solon ruhig.

„Ein Jüngling von ionischer Herkunft aus Bolissos auf Chios ist vor mir erschienen und hat meine Tochter Omphale zum Eheweibe verlangt.“

„Ist er aus königlichem Blute?“ fragte Aesop.

„Er ist vielleicht mehr als alle Könige“, antwortete Kroisos; „aber sein Vater schafft nur als armer Handwerker zu Bolissos.“

„Ich verstehe Dich nicht“, meinte Solon.

Und Kroisos sprach: „Der Jüngling behauptet, er habe etwas gefunden, das die Noth der Menschen für immer von der Erde verbannen wird. Er will es mir, nein, den Lydern, oder vielmehr allen Menschen zum Geschenke machen. Als einzigen Lohn fordert er dafür meine Omphale, die er unendlich liebe?“

„Der Bursche hat keinen schlechten Geschmack“, schmunzelte Aesop.

Solon aber forschte: „Was ist das für ein Mittel das er gefunden haben will?“

„Er soll es euch selbst erklären“, rief Kroisos und befahl, den Jüngling zu holen.

Eukosmos von Bolissos trat ein. Er war von edler Gestalt. Den ionischen Chiton trug er mit Anstand. Sein Gesicht war wie Milch und Blut, und seine Wangen leuchteten aus dem hellbraunen jungen Bart heraus. Besonders stolz und lachend herrschten seine blauen Augen.

„Eukosmos!“ sagte der König sanft, „dies sind meine Freunde. Du magst frei vor ihnen reden, wie Du zu mir gesprochen hast. Gib uns dein Wundermittel an.“

„Hier ist es“, sprach Eukosmos mit einer warmen Stimme, die den Männern zu Herzen ging, und er hob ein Säckchen hoch.

„Was hast Du da? Gold?“ erkundigte sich Aesop.

„Mehr!“ lächelte Eukosmos. „Viel mehr als Gold! … Mehl!“

Der Fabeldichter wendete sich ergötzt an Solon: „Unser fürstlicher Wirth gibt uns noch ein Scherzspiel zum Besten.“

„Nein“, schrie Kroisos etwas ungeduldig; „es ist Ernst. Wenigstens behauptet es dieser. Sprich, Eukosmos!“

„Es ist Mehl“, wiederholte der Jüngling von Bolissos. „Mehl, das ich selbst erzeugt habe!“

Aesop hielt sich den Bauch vor Lachen: „Nun ja, Du hast einen Acker bestellt, hast Korn geerntet und hast es dann zwischen Steinen zu Mehl zerrieben. Dergleichen habe ich schon manchesmal vernommen.“

Eukosmos blickte still über den Lachenden hinweg: „Ich habe keinen Acker bestellt, ich habe auch kein Korn geerntet, und darum konnte ich es auch nicht zwischen Steinen zerreiben. Dieses Mehl habe ich auf andere Art gewonnen.“

„Auf andere Art?“ murmelte Solon.

„Und es gleicht dem allerbesten Weizenmehl“, fügte Kroisos hinzu. „Die Brote, die wir heute beim Mahle hatten, waren aus diesem Stoffe.“

„Es war ein köstlicher Geschmack“, staunte Aesop.

Solon fuhr den Jüngling rauh an: „Treibe mit uns keine Possen, Knabe! Wenn sich der König auch von dir belustigen läßt, so müßte Dich die Ehrfurcht vor gereiften Männern abhalten, ihnen solchen Unsinn vorzumachen.“

Eukosmos entgegnete ruhig: „Ich weiß, Du bist Solon, und ich ehre Dich. Beim ewigen Zeus schwöre ich Dir, daß es ist, wie ich sagte. Ich habe das Mittel gefunden, ohne Feldfrucht Mehl zu erzeugen. Ich mache es aus einem Stoffe, der in der Natur in unerschöpflicher Menge vorkommt. Ich kann davon so viel herstellen, als mir beliebt, und mit kaum nennenswerther Mühe. Die Jahresarbeit vieler hundert Ackersleute kann auf meine Weise ein einziger Mann in einem Tage verrichten.“

„Nenne Dein Mittel“, sagte Solon, „oder ich verachte Dich als einen Lügner.“

Eukosmos erwiderte: „Ich besitze nichts als mein Geheimniß. Der König weiß, wofür ich es preisgeben will. Aber nur dafür, und für nichts Anderes in der Welt. Eher lasse ich mich in Stücke reißen. Ich könnte es allmählich in Gold umsetzen, wenn ich nach niederem Gewinne lüstern wäre. Doch wem von den Göttern solche Gnade ward, wie mir, der darf das Köstliche nur gegen das Köstlichste hingeben. Am Tag, an dem mein Wunsch erfüllt wird, schenke ich der Menschheit für alle Zeit das Brot. Brot ohne Schweiß, von keinem Mißwachse bedroht, im Ueberfluß, auf ewig. …“

Kroisos sagte erschüttert: „Wir haben Dich gehört. Geh' und erwarte meine Entscheidung!“

„Wenn dem so ist“, meinte Aesop, „könnte er doch immerhin anfangen, Mehl für die Armen zu machen. Warum sollen die auch nur eine Stunde unnütz hungern? Du magst Dein Geheimniß vorläufig für Dich behalten, lieber Eukosmos; wenn Du ein Herz im Leibe hast, und gewissen Leuten gefallen willst, die auch ein Herz im Leibe haben sollen, dann beginne mit Großmuth.“

„Gern!“ sagte Eukosmos. „Der König möge mir nur bürgen, daß kein Versuch sein wird, mich zu belauschen, oder mir es abzulisten.“

„Eukosmos, mein Königswort!“

Der Jüngling verneigte sich und ging.

„Nun, was sagen meine Freunde?“ sprach Kroisos, als sie wieder allein waren.

„Gib ihm Deine Tochter, König von Lydien!“ schrie Aesop begeistert.

„Und was ist Dein Rath, Solon?“

„Tödte ihn!“

Kroisos und Aesop sahen den Athener bestürzt an. Es war eine eigene Flamme in seinem Blicke.

Der König faßte sich zuerst: „Du meinst, Solon, wenn er mich belogen hat?“

„Nein, König der Lyder! Du sollst ihn tödten, wenn er die Wahrheit gesprochen hat!“

„Solon, ich verstehe Dich nicht!“ stöhnte Aesop. „Du willst den größten Wohlthäter des menschlichen Geschlechtes hinrichten lassen?“

„Ich würde es mir keinen Augenblick überlegen“, erklärte Solon.

„Aber ich!“ rief Kroisos. „Ich bin zwar empört über den Burschen, der es wagt, die Hand nach meiner Tochter auszustrecken – aber ihn tödten? Ich denke nicht daran.“

Solon erwiderte hierauf mit kaltem Zorn: „Dann bist Du nicht werth, ein König zu sein!“

Aesop erschrak und wollte sich begütigend einmischen, aber Kroisos lächelte:

„Ich bin König genug, um die harten Worte eines Mannes zu ertragen. Führe Deinen Gedanken aus, mein theurer Solon!“

„Mein Gedanke, Kroisos, ist einfach wie immer, einfach wie der Eure. Der Unterschied ist nur im Zeitmaß. Darum hatten meine Athener, glaube ich, Recht, als sie mir die Gesetze zu machen gaben. Ihr meßt den Vortheil einer Sache an Stunden, Wochen oder an Jahren, wo ich mir Aeonen durch die Finger gleiten lasse. … Dieser junge Mensch ist eine der größten Gefahren, die jemals auf die Erde gekommen sind. Ich will nicht in der Sprache der Kinder und Frommen zu Euch reden, sonst würde ich über den Verwegenen klagen, der in das Schicksal der unsterblichen Götter eingreift und Persephone nicht mehr in die Unterwelt entsteigen läßt. Wir sind Männer, die hinter die Schleier geblickt haben. Wir wissen, was hinter dem Hierophantenthumvon Eleusis steckt. Das Feld bringt Früchte, nicht weil Demeter will, sondern weil es mit dem Schweiße des Arbeiters getränkt wird. Und dieser Bursche will das ändern. Sorglos will er die Menschen machen, dieser Verruchte. Das Beste, was sie haben, den Hunger, will er ihnen rauben. Was dann? Sollen die rohen Zeiten der Pelasger wiederkehren, soll mit dem Ackerbau die Seßhaftigkeit, der bürgerliche Sinn, die Gesittung abermals entschwinden? … König der Lyder, tödte ihn, wenn Du ein König bist!“

„Solon, Du zermalmst mich!“ ächzte Kroisos.

„Ein König muß tödten können“, fuhr Solon erbarmungslos fort. „Aber nicht nur die Schlechten, die Missethäter, denn das wäre gar leicht und angenehm. Auch die Guten muß er vertilgen, wenn es die Wohlfahrt des Volkes heischt. Darum ist kein Irdischer über Dir, damit Du auch Solches vollbringen könnest. Das ist die verschwiegene Rechtfertigung Deiner Macht. Dieser Fabeldichter da findet mich wahrscheinlich herzlos. Sei es drum. Du kannst mich auch in Deinen Gedichten als ein reißendes Thier schildern, Aesop! Du verdienst es, volksthümlich zu sein. Ich aber sage Euch, daß es keine größere That in unserer Zeit zu begehen gibt, als die Vernichtung dieses sonnigen Jünglings, den ich vom ersten Augenblick an in mein Herz geschlossen habe. Ich werde um ihn weinen, wenn er stirbt; aber ich müßte stärker weinen, wenn er am Leben bliebe. Wenn wir ihn ermorden, haben wir uns um Hellas und die Welt verdient gemacht und werden den Lohn in unserem Bewußtsein tragen. Es wird eine stumme Großthat sein, eine jener hohen, dem Verständnisse des gemeinen Mannes entrückten, die kein Geschichtsschreiber meldet und kein Homer besingt.“

„Gemach!“ sagte der König, bewegt. „Noch ist es nicht beschlossen.“

„Allen Himmlischen sei Dank!“ stieß Aesop erleichtert hervor. „Und ich will auch dem Musagetes ein besonderes Opfer dafür bringen, daß er mich keinen Politiker werden ließ. … Höre mich an, guter Solon! Wenn schon Alles wäre, wie Du sagst – woher weißt Du, ob nicht morgen ein Anderer dasselbe finden wird, was Eukosmos fand? Es ist ein Zufall, daß er gerade hierher kam, die Omphale lieben mußte, und daß wir diese Dinge erfuhren. Den Anderen werden wir nicht kennen und er wird den Hunger auch abschaffen, was ich, nebenbei gesagt, nicht beklagen könnte. Denn ich, Solon, ich weiß, wie der Hunger schmeckt. Vielleicht bin ich darum ein volksthümlicher Poet.“

Solon entgegnete: „Ich würdige Deine Gründe, Aesop. Es ist möglich, daß Eukosmos einen Nachfolger bekommt. Die Frage ist nur: wann? Es können darüber Jahrtausende vergehen. Diese sind dem menschlichen Geschlecht nicht verloren, wie Du in Deiner dichterischen Gutmüthigkeit meinst, sondern gewonnen. Wie hoch ist heute das Land der Griechen in der Gesittung, wenn wir es mit der alten Zeit vergleichen. Wir danken es dem Hunger, der uns die Arbeit lehrte. Die Arbeit veredelt sich in ihrer feinsten Blüthe zur Kunst, gleichwie das Nachsinnen über den eigenen Vortheil sich bis zur erhabenen Philosophie steigern kann. Wer weiß, welche Atlantis noch auf unbekannten Meeren der Entdecker harrt. Ich kann mir denken, daß die Menschen einer späteren Zeit auf schnelleren Wagen von Athen nach Korinth reisen werden als wir. Ich kann mir sogar noch tüchtigere Schiffe denken als unsere gewaltigsten Triëren. Lähmet mir den Erfindungsgeist nicht! Vielleicht kommen auch noch wolkenlose Tage der Menschheit, in denen sie den Hunger nicht mehr braucht. In solche Ferne reicht freilich mein Blick nicht. … Kroisos, tödte mir den Eukosmos! … Du schwankst noch! Wohl, ich will Dir einen Vorschlag machen. Es lebt ein Mann, welcher von allen Griechen der Weiseste ist. Dieser möge unseren Streit entscheiden!“

„Thales von Miletos?“sagte Aesop.

„Thales!“ bestätigte Solon. „Gib ihm die ganze Sache bekannt. Unser Freund Aesop wird es mit seiner schönen Klarheit aufschreiben. Erzähle ihm nichts von mir. Er soll sein freies Urtheil aussprechen. Was er sagt, das will auch ich als das Richtige anerkennen.“

„Gut!“ rief Kroisos aus, der froh war, einem unmittelbaren Entschlusse ausweichen zu können. „Thales möge uns künden, was in diesem unerhörten Falle die Pflicht ist.“

Am andern Morgen eilte die königliche Botschaft nach Miletos. Bald kam die Antwort des Weisen. Sie lautete: „König! Du mußt mir eine Zeit des Bedenkens gewähren. Ich kann Dir in einer so schweren Gewissensfrage nicht allsogleich mein letztes Wort angeben.“

Monde kamen und gingen. Von Thales erschien aber keinerlei Nachricht. Kroisos schickte einen andern Boten hinüber nach Milet. Der Bote kehrte mit einer wunderlichen Meldung zurück. Thales sei verreist, und man wisse nicht, wohin. Kroisos schüttelte unmuthig das Haupt. Doch Solon sagte:

„Lass' nur! Thales weiß immer, was er thut. Du wirst sein Urtheil hören. Wohlschmeckend wird es sein, gleichwie eine reife Frucht.“

In Sardes aber entwickelten sich die Dinge. Eukosmos war ein lieber Genosse des Königs und seiner Freunde geworden. Immer von neuem erfreute sie die Anmuth seines Geistes, die Kühnheit und männliche Heiterkeit seines Wesens. Und wer ihn am stärksten liebte, das war Solon. Oft sprach er zu dem Jüngling: „Ich wollte, mein Sohn gliche Dir, wenn ich aus meiner Verbannung heimkehre und ihn wiedersehe!“

Da pflegte wohl Kroisos den Gast vertraulich beiseite zu nehmen und ihn zu fragen: „Nun, bist Du immer noch Deiner Ansicht?“

„Immer noch!“ war Solons unbeugsame Antwort.

Auch der holden Omphale durfte Eukosmos ungehindert sich nähern. Er gestand ihr seine Liebe, und es war Frühling.

Es war Frühling, als Omphale ihm erwiderte: „Eukosmos, auch ich liebe Dich und will Dein Weib sein, wenn Deine Probezeit vorüber ist.“

Denn sie wußte nur von einer unbestimmten Probezeit, die ihr Vater dem Freier auferlegt hatte.

Es war aber ein sonderbarer Frühling in Lydien, der die Leute froh und schwer machte. Ein unerklärter Reichthum hatte sich über das Land ergossen. Wenigstens gab es keine Darbenden und Bettler mehr. Das hatte mit den unentgeltlichen Mehlvertheilungen vor einigen Monaten begonnen. Diese erfolgten im Namen des Königs zu Sardes und in allen übrigen Städten und Gemeinden des Landes. Anfänglich nahmen nur die Aermsten die Gabe. Doch da der Vorrath unerschöpflich schien, wie die Gnade des guten Herrschers, und da sich Jeder so viel Mehl holen konnte, als er für sein Haus brauchte, kamen nach und nach auch die Anderen. Es war ein Leben wie am öffentlichen Brunnen. Man zog mit vollen Eimern ab. Einige suchten die Erklärung des wundersamen Vorganges, und da fanden sie scharfsinnig heraus, daß es dem Kroisos durch eine glückliche auswärtige Politik gelungen sei, den Brotbedarf des Landes in solchen Massen einzuführen. Die Meisten nahmen es ohne Kopfzerbrechen hin und freuten sich der Gottesgabe bis sie durch die Alltäglichkeit des Wunders dagegen abgestumpft wurden.

Allerdings gab es auch Leute, denen die Sache unangenehm vorkam: die Ackerbauer, Grundbesitzer und Händler. Das Korn war entwerthet, und da ließen sie verdrießlich sogar die angefangenen Arbeiten im Stiche. Die üppigen Getreidefelder Lydiens verwilderten. Niemand kümmerte sich mehr um ihre Pflege oder um die sorgliche Abwehr von Schäden. Mochten Vögel oder Ungeziefer die Aecker verheeren, was lag daran? Vor der äußersten Noth war dennoch Jeder geborgen, so lange des Königs Mehlkammer nicht leer wurde, und diese wurde nicht leer. Je mehr man brauchte, um so mehr Vorrath war da. So ergaben sich die Landleute, wenn auch mit einigem Zähneknirschen, in das harte Schicksal des Ueberflusses.

Auf die Lyder, die nicht vom Ackerbau, sondern von sonstigen Beschäftigungen lebten, wirkte der neue Zustand eigenthümlich entnervend, wie ein schwüler Wind. Alle Regsamkeit erschlaffte. Die Männer wurden faul und dabei unruhig. Sie hatten weniger Sorgen, als ihnen frommte, und gaben sich daher allerlei müßigem und gefährlichem Zeitvertreibe hin. Sie wurden händelsüchtig und liederlich, weil ihre von der Arbeit nicht erschöpfte Kraft nach Ausflüssen drängte. Sie wendeten sich auch der Politik zu, in einer ungebärdigen, aufrührerischen Art. Sie fingen an, wider Kroisos zu murren, und es bildete sich eine förmliche Umsturzpartei, deren Rädelsführer dem Kreise der verarmenden kleinen Gutsbesitzer angehörten.

„Das sind Deine Diakrier, Kroisos“, sagte Solon, als diese Ereignisse bei Hofe gemeldet wurden. „Ich kenne sie vom Pentelikon her. Die Menschen sind hier wie dort dieselben.“

Ein grimmiger Heerführer des Königs aber meinte: „Was unsere Lyder brauchen, ist ein kleiner Krieg. Sie müssen Siege oder Schläge bekommen, damit sie sich beruhigen. Wir könnten beispielsweise mit Kyros von Persien anbinden.“

Eine Kriegspartei gab es natürlich auch am Hofe zu Sardes, und dieser war das aus der Seele gesprochen. Kroisos lehnte den Gedanken noch ab.

Um diese Zeit kam Jemand aus Miletos und erzählte beiläufig, daß er den Thales gesehen habe.

„Wie?“ sprach Kroisos; „er ist heimgekehrt und sendet mir keine Nachricht? Kannst Du Dir es erklären, Solon? Wir harren seiner Entscheidung, und er schweigt!“

„Brauchst Du sein Urtheil noch, König der Lyder?“ entgegnete Solon, indem er mit ausgestrecktem Arme nach der Stadt hinunterdeutete.

„Ja!“ rief Kroisos hastig. „Jetzt erst recht! Weil eine Unruhe in meine Seele gekommen ist. Ich wußte vordem, wohin ich mich neigen sollte. Zu Dir Aesop! Ich weiß es nicht mehr. Es ist Deine Schuld, Solon!“

„Schicke einen Boten nach Miletos“, sagte Solon gelassen. „Der Weiseste der Hellenen wird Dich von Deinen Zweifeln frei machen. Wir wollen mittlerweile eine Schale duftenden Weines mit einem schnell wirkenden Gifte vorbereiten.“

„Aber auch den Quittenapfel, den die Brautleute miteinander verzehren“, drängte Aesop.

„So sei es“, erklärte Kroisos; „beides stehe bereit: Quitte und Giftschale. Wir wollen hören, was uns Thales sagt.“

Wieder eilte ein Bote nach Miletos. Als er wiederkam, konnte er nur mit Mühe durch die Straßen von Sardes dringen, denn sie waren vom Aufruhr erfüllt. Die Krieger des Kroisos kämpften wider das verstörte Volk. Man hörte den Waffenlärm bis in die Gemächer des Königs, wo bei Kroisos dessen Freunde Solon und Aesop und die jungen Brautleute weilten. Eine goldene Trinkschale und einen schönen Quittenapfel hatte Kroisos vor sich.

„Omphale!“ flüsterte Eukosmos, „ängstige Dich nicht. Ich vertheidige Dich mit meinem Leben, wenn dieser Pöbel herankommen wollte.“

„Mir ist nicht bange, Eukosmos, wenn ich Dich nur habe. Mögen sie uns verjagen. Ich folge Dir nach Bolissos und wohin Du willst. Ich will Dein Weib sein. Dein, Dein, Dein! In Armuth oder Wohlergehen – nur Dein! Ich liebe Dich.“

Kroisos hatte die Antwort des Thales gelesen. Er seufzte tief und reichte sie den Freunden. Aesop las murmelnd und bebend: „König! Ich reiste fort, um Dir zu gehorchen. Denn in mir fand ich die Weisheit nicht, welche Du von mir verlangst. Es gibt nur einen Mann unter den Griechen, der den Staat tief genug erfaßt, um eine solche Frage lösen zu können. Diesen Mann suchte ich und ging nach Athen. Er hatte seine Vaterstadt verlassen. Ich zog seiner Spur nach und kam in das Land der Aegypter. Er war schon fort. Erst auf Cypern erfuhr ich, wo er weile. Er weilt bei Dir. Darum schwieg ich. Was soll ich Dir seine Weisheit im Eimer bringen, da Du selber aus dem Brunnen schöpfen kannst. … Thue, König, was Dir Solon räth!“

Zitternd langte Kroisos nach der goldenen Trinkschale. Zitternd gab er sie dem Solon und bedeckte sich hierauf die thränenüberströmten Augen mit der Hand.

Solon trat zu den Liebenden: „Omphale, ich muß mit Deinem Bräutigam Ernstes reden. Dein Vater wünscht, daß wir Männer allein seien. Du darfst ihm den Brautkuß geben … Und nun geh'!“

Selig lag die Braut an des Eukosmos Brust. Kein höherer Augenblick ist im Leben, das fühlte sie. Und mit einem letzten Lächeln aus zärtlichen Augen entwand sie sich ihm und schritt gefügig hinaus, weil die Männer zu Ernstem allein sein wollten.

„Nun, Eukosmos“, sagte Solon, „bist Du noch der Meinung, daß die Menschen sich beglücken lassen? Du hörst den Aufruhr da unten. Den hat Dein Göttergeschenk hervorgebracht. Willst Du ihnen noch immer das ewige Brot ohne Sorge, ohne Arbeit bescheren? Willst Du nicht lieber Dein Geheimniß für Dich behalten? Vernichte es, vergiß es! Omphale ist Dein, weil Du ihrer würdig bist, Kroisos wird sie Dir geben, auch wenn Du Dein Wundermittel nicht verräthst. Folge mir, lass' die Leute wie ehemals auf dem Acker schwitzen und sich lahm und krumm arbeiten. Es thut Ihnen gut. Sie bringen es zu etwas.“

Eukosmos richtete sich auf: „Ich kann nur glauben, daß Du mich auf eine Probe stellst, Solon! Du möchtest sehen, ob ich so niedrigen Sinnes sei, daß ich mein Wort nicht hielte. Omphale ist meine Braut, und morgen werde ich mein Geheimniß kund machen. Das Mittel ist nicht mein, es gehört vielmehr allen Menschen, für die ich es nur in Treue aufbewahrte. Daß die da unten rasen, ändert an ihrem Rechte nichts. Auch rasen sie nur, weil sie nicht wissen. Ich werde Ihnen die Augen öffnen.“

Da sagte Solon mit weicher Stimme: „Du hattest es errathen, es war eine Probe. Eukosmos, ich liebe Dich, wie Du bist. Ich habe nie einen Menschen so geliebt, wie Dich. O Du theurer Träumer, Du Volksbeglücker! Du verdienst es auch, Deinen eigenen Traum zu haben, den Traum von Omphale. Ich denke mir, Deine Seele ist jetzt völlig durchduftet von ihr, der Lieblichen. Nie warst Du glücklicher, Eukosmos, und wenn Dein Leben in das Greisenalter ginge, nie wirst Du glücklicher sein! … Siehe, Kroisos, wir sprachen einstens vom wahren Glücke. Hier ist es vor Deinen Augen: Eukosmos! Er liebt die Menschen und Omphale. Alle, die ihn kennen, lieben ihn. … Eukosmos! Leere diese Trinkschale, die Dir Kroisos durch mich reichen läßt. Leere sie auf das Wohl der Menschheit, und denk' an Deine Geliebte!“

Und Eukosmos trank.