Theodor Herzl
1860 - 1904
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Das Palais Bourbon.Bilder aus dem französischenParlamentsleben
1895
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4.Der Löwe.――――――――
Auf dem Platze der Republik, wo der Verkehr volkreicher Bezirke mit Macht zusammenströmt, steht die hohe Frau. Sie hält einen Zweig in der Hand. Belleville wendet sie den Rücken und betrachtet die Omnibusse, die ruhelos von der Madeleine zur Bastille und wieder zurück fahren. Sie blickt hinüber nach der Rue du Temple, hinein in die Rue de Turbigo, gelassen und ewig. Nur was in der Rue du Château d'Eau, gleich nebenan, vor der Arbeitsbörse vorgeht, kann sie nicht beobachten Denn sie müßte sich umdrehen, und das vermag sie nicht; sie ist aus Bronze.
An dem steinernen Sockel, der die Freiheitsgöttin trägt, steht der übliche Löwe, Sinnbild der Kraft, der Treue, des Mutes. Die Bildhauer sind der Ansicht, daß Mut, Treue und dergleichen nicht anders als durch einen Löwen auszudrücken seien. Das ist nun ein republikanischer Löwe, richtiger ein ralliierter. Die Löwen sind ja, wie man aus der Heraldik weiß, zumeist monarchisch gesinnt. Dieser eherne der Republik bewacht eine Urne mit der Inschrift Allgemeines Stimmrecht“ [souffrage universelle], und er sieht ganz so aus, als ob er mit sich nicht spaßen ließe. Er ist immer schlecht gelaunt, auch wenn ihn die bleichen Kinder anlächeln, die man aus den engen Gassen hierher ins Freiere bringt. Er kümmert sich nur um seine Urne, rollt pathetisch und ernst den Schweif und blickt grimmig aus nach Feinden. Er hat Recht. Man bewacht das allgemeine Stimmrecht oder man bewacht es nicht, ein Drittes giebt es nicht. Er ist ein braves, pflichteifriges Vieh und erinnert in seiner erhabenen Beschränktheit an die großen Revolutionäre vor hundert Jahren. Waren auch Löwen, auch von Erz.Aber das Monumentale wird vom Alltäglichen überrauscht. Bronzelöwen und Göttinnen werden vergessen, noch bevor sie edel verrostet sind. Wer sieht sich nach der Freiheitsgöttin um, wenn er über den Platz der Republik geht? Höchstens Kinder, Fremde oder Dichter. Besonderes muß hinzukommen, damit man das langweilig Große beachte. Das ist jetzt der Fall. Die Wahlschlacht tobt an den Straßenecken, nämlich die papierene Schlacht der Wahlzettel. Kleistertopf und Pinsel sind die Waffen, und wem der Drucker am längsten und am meisten borgt, ist Sieger. In allen Farben des Regenbogens und der Parteien schillern die Mauern der öffentlichen Gebäude. Nur diese dürfen beklebt werden. Eine weitherzige Auslegung duldet jedoch, daß man auch das Straßenpflaster, die Ecksteine, Laternenpfähle, Brückengeländer zur Wahlreklame benütze. Die Zettelflut schwillt an, beleckt die Denkmäler, überschwemmt sie endlich. Erst werden die Stufen beklebt, dann überbieten sich die kämpfenden Anschläger und steigen immer höher, einer auf den andern, über den andern. Anklagen und Verteidigungen, Proteste, Warnungen, Verdächtigungem Beleidigungen, immer gröber, je näher der Wahltag rückt. Heute sind nur noch Worte wie Skandal“, Lüge“, Gemeinheit“, Verrat“, Schurkerei" auf den bunt schimmernden Sockeln der Denkmäler zu lesen. So hat man auch das der Freiheit auf dem Platze der Republik zugerichtet und selbst den treuen Löwen nicht verschont. Schmale Papierstreifen mit den Namen der Kandidaten entstellen seinen tapferen Leib. Nicht einmal Wunden gleichen sie, sondern nur den Banderillas, mit denen man die Stiere in der spanischen Hetze ärgert.Armer Löwe! Und doch war er nie ein so treffliches Sinnbild wie jetzt, wo das veraltete Pathos seiner Wacht unter Papierfetzen verschwindet. So ist die Bronze der republikanischen Prinzipien auch nicht mehr zu sehen, persönlicher Hader verdeckt sie.Sogar die Urne hat man ihm verklebt, dem braven, betrübten Löwen. Aber daß er es sich gefallen ließ, ist zum Staunen. Wäre er ein schläfriger oder feiger Wächter? Nein, gewiß nicht. Entreißen ließe er sich die Urne nicht. Wer das versuchte, den würde er zerfleischen. Wenn man sie nur beschmutzt, sieht er ruhig zu. Geraubt wird sie nicht, das scheint ihm die Hauptsache. Für Feinheiten haben selbst die gescheitesten Löwen kein Verständnis. |