BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Max Herrmann-Neiße

1886 - 1941

 

Empörung, Andacht, Ewigkeit

 

1918

 

______________________________________________________________________________

 

 

 

Verse von Ausreise und Wiederkehr

 

Wie eines armen Schächers Nacken

vor dem verfluchten Beil des Henkers friert,

das schrecklich nah und immer näher rückt,

daß er in schlaflos schlimme Nächte stiert

5

und hört im Traum, schrill, seine Knochen knacken,

und geht durch den Gefängnishof verzerrt, gebückt:

so ängstet mich die Stunde, da ich von dir scheiden muß

und ganz allein durch fremde Straßen streifen soll

ins Schreckhaft-Leere nach deinen Händen greifen soll,

10

und recht verlassen Sehnsucht leiden muß – – –

 

Du mußt mir deine Sterne schicken

und deine Gedanken mir zu Gerten geben,

die mein zages, verzärteltes Zögern züchtigen,

du mußt mich mit Träumen von dir zu tüchtigen

15

Taten tauglich machen und mit deinen Blicken,

die mir kommen, wenn meine Augen sich zum Himmel heben,

trösten, daß die Freude auf meine Wiederkehr

und auf das neue Glück mit dir mich nicht verzweifeln läßt,

wenn ich in fremder Kammer tränenübernäßt

20

nachts zum bestirnten Firmamente bete –

(denn ich bin allzu sehr

verschüchtert, wenn ich feindliche Triften betrete.)

 

Dann aber macht mich deine Liebe entschlossen

und hält mein Herz hoch und meinen Mut! – – –

 

25

Und plötzlich ist die bange Zeit verflossen,

und ich bin wieder bei dir,

und du wiegst den heimgekehrten Odysseus auf deinem Blut.