Friedrich Gundolf
1880 - 1931
Jahrbuch für die geistige Bewegung
Jahrbuch 1912
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[III] |
Einleitung der Herausgeber
Wir legen nochmals unsre positionen eindeutig fest, begegnen damit den häufigsten vorwürfen und setzen der progressiven schau, die wir für eine bedenkliche allgemeine erkrankung des geistes halten, die heut in vergessen geratene zyklische schau gegenüber.Pessimismus: Die pessimisten sind nicht wir die an ein vollkommenes und unverlierbares glauben, sondern die welche alles gewesene bloss als vorstufe für ein imaginäres kommendes ansehen. Nicht wir die wir eine umkehr, sogar noch in unserm jahrhundert erwarten, sondern jene die den fortschritt in gerader linie wollen: d. h. metaphysisch wie materiell das ende, die vernichtung. Fortschritt berührt sich hier mit Nirvana.Sich nicht abfinden können mit dem heutigen weltzustand: Auch schon dem trüben auge entgeht nicht die allgemeine freudlosigkeit, die trotz aller äussern verbesserungen, erleichterungen und vergnügungen sich ausbreitet und den vergleich mit dem späten Römerreich herausfordert. Vom kaiser bis zum geringsten arbeiter spürt jeder dass es so nicht weitergehen kann und gibt es zu, wenigstens für die bezirke die ihn nicht unmittelbar berühren. Das erhaltende ist nur noch die sorge der einzelnen um amt, hab und gut. Kein mensch glaubt noch ehrlich an die grundlagen des heutigen weltzustands. Diese schwarzseherischen ahnungen und witterungen sind noch das echteste gefühl der zeit und diesem gegenüber nehmen sich alle hoffnungen, die auf dem nichts ein etwas bauen wollen, schon verzweifelt aus.Geringschätzung der wissenschaft: Wissenschaft ist eine wirkung des lebenstriebs der sich der welt bemächtigen will und sie dazu erkennen und ordnen muss, als wissen (wahrheit) und als können (nutzen). Diese beiden ziele sind heute von ihrem schöpferischen ursprung getrennt und dienen dem leben nicht nur nicht mehr, sondern unterjochen es. Die wissenschaft hebt heut nicht nur ihre eignen grundlagen auf, sondern wird sogar schädlich durch die auflösung (Analysis!) aller substanzen [IV] aus denen allein der mensch und sie selbst sich nähren kann. Wenn die naturwissenschaft gerade in ihren rückhaltlosesten vertretern zu konsequenzen gelangt wie die energetik, wenn die geisteswissenschaft, nicht nur durch entgleisung einzelner, sondern kraft ihrer heutigen methode selbst, dahin kommt die grössten werke des geistes totzureden, wenn den Griechenforscher sein umfassendes sachwissen nur dazu führt die Antike zu journalisieren und zu entwerten, wenn der Danteforscher die Vita nuova als »geckenhaft« bezeichnet: so haben wir das recht diese wissenschaft nicht nur zu verachten sondern aufs äusserste zu bekämpfen. Wissenschaft, angewandte wissenschaft war das ideal des vergangenen jahrhunderts, aber das jahrhundert der wissenschaft hat seine grösste entdeckung gemacht, als es schon im sterben lag: nämlich dass alles wissen, alle fortschritte, alle erfindungen nicht zu dem verhelfen was der mensch wirklich braucht und sucht.Ignorierung der grossen männer und der »grosstaten« welche die fortschrittszeit doch immerhin hervorgebracht: Die grossen männer des 19. jahrhunderts sind entweder gerade entschiedene gegner der opfer des fortschritts, Schopenhauer, Burckhardt, Böcklin, Nietzsche (in unseren tagen Rodin). Sie wurden nicht müde davor zu warnen, man solle sein bestes und edelstes nicht gegen ein linsengericht verhandeln. Die grossen autoritäten und spezialitäten aber haben bei allen sachlichen leistungen weder die menschenbildung gehoben noch auch nur den zustand dessen überwindung der fortschritt selber forderte verändert. All ihre peripherischen besserungen waren nur ein kurzes fristen der nöte. Längst ist der punkt überschritten wo solche »grosstaten«, »diese ausbildungen von einzelanlagen auf kosten des heiligen sinnes«, zum bedrückenden ballast geworden sind. Dieser zeit des allwissens wird einmal der vorwurf nicht erspart bleiben dass keine andre, auch nicht die des krassesten aberglaubens, so vollkommen platt, von allem wirklichen wissen so vollkommen entfemt war.Verkennung der humanität: Humanität war das ideal einer epoche welche sich die runde menschliche bildung zu erobern hatte aus kollektivistischen und dogmatischen bindungen. Das ringen gegen diese bindungen war die voraussetzung [V] echter menschlichkeit. Die heutige humanität besteht, nach wegfall jener hindernisse, nicht mehr im ringen um menschlichkeit, sondern in einem allgemeinen gehen- und geltenlassen jeder beliebigen art mensch, was zu einer herrschaft des mittelmaasses, d.h. der zahl ohne rücksicht auf wert, führt. Der staat will die schwachen, die krüppel schützen aber er bewirkt eine verschwächung und verkrüppelung des ganzen menschtums, der staat verbietet die sklaverei, aber er bietet alles auf dass jedermann sklave wird.Verkennung der massen: Die massen sind das produkt hemmungslosen fortschritts, gesetzloser humanität, passiver freiheit. Vor dieser fürchterlichen ausgeburt, die zum erstenmal in der geschichte derart auftritt, haben einige der staats- und wirtschaftslehrer schon lange gewarnt, andre mit trügerischen tabellen und vorgespiegelten neu zu entdeckenden räumen die völker verführt. Heute reden sie nur noch sehr bescheiden von den unermesslichen flächen, den unerschöpflichen kornkammern, und die logik des fortschrittlichen wahnsinns träumt bereits von der auswanderung auf einen andern stern. Heute ist keiner mehr schamlos genug auch nur ein erträgliches bild davon zu entwerfen wie in ein bis zwei, von uns noch erlebbaren jahrzehnten trotz aller gartenanlagen und waldgürtel nach dem plan »der gesunden stetigen fortentwicklung« die deutschen grossstädte sich gestalten: jedem anständigen menschen muss der ekel kommen beim blossen lesen der zahlen die zu erwarten sind, wenn nichts kommt als »die gesunde stetige entwicklung«. Aber das schlimmste ist nicht die drohende materielle not sondern die mit der masse sich stetig steigernde artverschlechterung. Keiner hat den mut zu sagen dass es auch frevel gibt für die gebüsst werden muss, dass man auch diese überfüllung nicht nur ansehen kann als eine neue gegebenheit mit der zu rechnen ist, sondern als eine fressende wucherung die man sich gewissenlos zugezogen hat und die nur durch gift und feuer geheilt werden muss.Verachtung des weibes: Wir halten es für widersinnig den einen teil des menschengeschlechts abzulehnen, für noch widersinniger aber die aufstellung einer »frauenfrage«. (Was hiesse »männerfrage«?) Wir befeinden nicht die frau, sondern [VI] die »moderne frau«, die stückhafte, die fortschrittliche, die gottlos gewordene frau. Gerade am mehr naturhaften teil zeigt sich die moderne verderbnis am abschreckendsten. Die moderne frau hat sich herausgestellt als die treueste vorkämpferin aller fortschrittlich ungeschichtlichen, platt humanitären, flach rationalistischen und flach religiösen ideen, ja sogar einige der schlimmsten wie die theosophie und die friedensbewegung sind gerade von weibern ausgegangen. Nicht von uns, sondern von durchaus objektiver stelle ist auf die gefahr einer femininisierung von ganzen völkern hingewiesen worden, auf das erlöschen aller tüchtigen kräftigen instinkte gegenüber den unkriegerischen, weiblichen, zersetzenden. Dass die Deutschen, wie es die Franzosen eben sind und die Amerikaner werden, sich in ein femininisiertes volk verwandeln, darin liegt eine grössere soziale gefahr als in tausend von den zeitungen beschrienen einzeldingen. Mag die frau in früheren zeiten königin oder sklavin gewesen sein, jedenfalls hat sie alle helden der tat oder des geistes die wir bewundern hervorbringen können: aus diesem entsubstanziierten, losgerissenen, reflektierten geschlecht kann nie wieder ein grosser mann geboren werden. Auch hier genügt nicht zugeständnis einzelner verirrungen, übertreibungen, überspanntheiten, sondern das zugeständnis des primären frevels.Freundschaftskult: Diese Warnungen kommen von der seite des fortschrittlichen menschen dem jede nicht in seinen nutzen umzusetzende menschliche beziehung furcht einflösst. Man hat sich auch nicht gescheut in offener wie versteckter weise auf die ausschreitungen hinzuweisen die ein solches kultivieren der freundschaft früher hervorgebracht haben soll und jezt hervorbringen könne. Wir fragen nicht danach ob des Schillerschen Don Carlos hingabe an Posa, des Goetheschen Ferdinand an Egmont, der leidenschaftliche enthusiasmus des Jean Paulischen Emanuel für Viktor, Roquairols für Albano irgend etwas zu tun hat mit einem hexenhammerischen gesetzesabschnitt oder einer läppischen medizinischen einreihung: vielmehr haben wir immer geglaubt in diesen beziehungen ein wesentlich bildendes der ganzen deutschen kultur zu finden. Ohne diesen Eros halten wir jede erziehüng für blosses geschäft oder geschwätz und damit jeden weg zu höherer kultur [VII] für versperrt. Wir weisen hier auf Friedrich Schlegels endgültige worte über den weiblichen und den männlichen Eros (Griechen und Römer) und können uns mit den möglichen ausschreitungen nicht befassen, wie wir es auch für sinnlos halten würden das geheiligte institut der ehe deshalb anzugreifen weil – wie jeder arzt und richter weiss – auch in deren kreis alle scheusslichen und widernatürlichen formen der unzucht vorkommen können. Es ist auch nicht ein moralisches vorurteil was heute noch die menschen gegen diese freundschaft empört, ihnen ist gleich unverständlich, im tiefsten grund widerlich die liebe des Dante zu Beatrice wie des Shakespeare zu seinem freund: es ist die abneigung des amerikanischen, pathoslos gewordenen menschen gegen jede form der heroisierten liebe. Dass wir nichts zu tun haben mit jenen keineswegs erfreulichen leuten die um die aufhebung gewisser strafbestimmungen wimmern, geht schon daraus hervor dass gerade aus solchen kreisen die widerlichsten angriffe gegen uns erfolgt sind.Katholisierende tendenzen: Unsre ablehnung des Protestantismus hat darin seinen grund dass er die voraussetzung bildet zur liberalen, zur bürgerlichen, zur utilitären entwicklung. Dass ein enger zusammenhang besteht zwischen der protestantischen und der kapitalistischen welt ist keine böswillige unterstellung, sondern durch die klassische schrift Max Webers unwiderleglich begründet worden. Überall wo der katholizismus herrschte war er ein bollwerk gegen diese welt. Dass wir uns dem heutigen katholizismus nicht zuwenden können hat darin seinen grund dass er selbst auf dem weg ist protestantisch zu werden und seine grosse aufgabe, die erhaltung des ewig vitalen, des heidnischen prinzips, nicht mehr erfüllt, obwohl er auch heut noch im sinnlichen kult das bewahrt was für das leben – auch das materielle – wichtiger ist als alle »errungenschaften«. Überall wo die protestantische form des christentums eingang findet kapitalisiert, industrialisiert, modernisiert sie die völker. Kein kannibalismus, kein menschenhandel, keine inquisition, keine despotie hat dem gesamtmenschentum solche wunden geschlagen wie die heute betriebenen »segnungen der zivilisation«, wäre es auch nur deshalb weil heute jede territoriale korruption alsbald weltgültig wird. Bis in die fernsten winkel wird alles urmässige, [VIII] substanzhafte, wertvoll vitale verdrängt, und so kann die alte weissagung (allerdings in neuer auffassung) fast zur mathematischen gewissheit erhoben werden: »dass das ende der tage gekommen sei, wenn der lezte mensch christ geworden sei« (protestantisch-angloamerikanischer Christ).Blindheit für die religiöse sehnsucht der zeit: Diese sehnsucht hat, da sie durchaus individualistisch oder literarisch ist, nichts eigentlich religiöses und bleibt daher unfruchtbar. Ein heutiges aufdämmern eines allergreifenden religiösen war vielleicht die slawische form des Christentums: da sie aber, wie alles östliche, nichts haftendes, aufbauendes hatte, konnte sie weder sich selber bewahren noch sich dem westlichen Europa mitteilen. Wenn der moderne auch nur eine ahnung von religiösem gefühl gewinnen will, so dient ihm nicht einmal mehr der rückblick in frühere gläubige zeiten – er müsste schon zum wilden in die lehre gehen der seinen holzklotz anbetet.Warum nicht warten, bis das morsche gebäude von selbst zerfällt? Wir glauben wohl dass jezt noch reste von alten substanzen erhalten sind die man noch nicht abwirtschaften konnte. Der lezte zeitpunkt für ihr inkrafttreten ist freilich da. Denn schon ist der gemeinste gedanke des menschen, die moderne gesindelhaftigkeit sei eben unsre form der grösse, durch den noch gemeineren unterboten worden: auch alle frühere grösse sei nur verkappte gesindelhaftigkeit. Nach weiteren fünfzig jahren fortgesezten fortschritts werden auch diese lezten reste alter substanzen verschwunden sein, wenn es keine andern mehr als mit dem fortschrittlichen makel zur welt gekommene gibt, wenn durch verkehr, zeitung, schule, fabrik und kaserne die städtisch fortschrittliche verseuchung bis in die fernste weltecke gedrungen und die satanisch verkehrte, die Amerika-welt, die ameisenwelt sich endgültig eingerichtet hat. Wir glauben dass {es} jezt weniger darauf ankommt ob ein geschlecht das andre unterdrückt, eine Masse die andre niederzwingt, ein kulturvolk das andre zusammenschlägt; sondern dass ein ganz andrer kampf hervorgerufen werden muss, der kampf von Ormuzd gegen Ahriman, von Gott gegen Satan, von Welt gegen Welt. |