BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rudolf Diesel

1858 - 1913

 

Solidarismus:

Natürliche wirtschaftliche

Erlösung des Menschen

 

Erstes Buch.

Wesen, Organisation und Wirkungen

des Solidarismus.

 

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Anhang 6.

Ausschlaggebende Bedeutung der großen Masse

auf allen Gebieten der Volkswirtschaft.

 

In Anhang 1 wurde statistisch nachgewiesen, daß für ca. 65% der Bevölkerung die Jahreseinnahme der Familienhäupter unter 900 Mark und für weitere 32% zwischen 900 und 3000 Mark beträgt; das sind zusammen 97% der Bevölkerung, also tatsächlich die große Masse derselben.

Es ist leicht zu beweisen, daß es diese große Masse ist, welche, als Ganzes betrachtet, in allen Dingen der Volkswirtschaft den ausschlaggebenden Faktor bildet, sowohl als Produzent wie als Konsument, sowohl als Kapitalist wie als Steuerzahler.

 

 

Als Produzent.

 

Für die Produktion bedarf diese Behauptung eigentlich keines Beweises; da es Tatsache ist, daß für die große Masse die Familienhäupter unter 3000 Mark Jahreseinkommen haben, so folgt daraus, daß diese 97% der Bevölkerung arbeiten müssen, um zu leben, und daß sie somit mindestens 97% der Gesamtarbeit des Landes wirklich leisten.

 

 

Als Konsument.

 

Nicht ebenso selbstverständlich ist das Verhältnis für den Konsum. Hier herrschte sogar bis in die neuere Zeit hinein die Ansicht, daß der Verbrauch der bemittelten Minorität weit größer sei als derjenige der unbemittelten Massen. Dieser gründliche volkswirtschaftliche Irrtum ist heute widerlegt.

R. E. May hat in seinem 1900 erschienenen Werk: „Das Verhältnis des Verbrauchs der Massen zu demjenigen der Wohlhabenden und Reichen“ nachgewiesen, daß der Verbrauch der großen Masse (als welche er alle Einkommen unter 3000 Mark ansieht) sechsmal so groß ist als derjenige der Wohlhabenden und Reichen (über 3000 Mark Einkommen). Würde der Konsum der letzteren plötzlich verschwinden, so [79] würde die Volkswirtschaft das selbstverständlich spüren, aber ein durchgreifender Schaden, ja eine Krisis würde damit kaum verbunden sein. Maßgebend für das Gedeihen einer Volkswirtschaft ist danach der Konsum der großen Masse der Abhängigen.

Daraus erhellt die eminente Wichtigkeit der Kaufkraft der untern Einkommensschichten und die ungeheure Macht der vereinten Kaufkraft dieser Schichten; eine verhältnismäßig kleine Verringerung dieser Kaufkraft führt sofort eine schwere Krisis herbei, und eine geringe Erhöhung derselben ist für das Gedeihen der Volkswirtschaft, also für die Gesamtwohlfahrt, unvergleichlich wichtiger als das Ansammeln noch so großer Einzelvermögen oder als das Erschließen noch so großer ausländischer Absatzgebiete; denn auch der Konsum des Außenhandels ist im Verhältnis zum inländischen Verbrauch der großen Masse viel geringer, als man gemeinhin annimmt; so beträgt in Deutschland die Gesamtausfuhr pro Kopf jährlich 70 Mark, der inländische Verbrauch pro Kopf mindestens 200 Mark 1), d. h. mindestens 3/4 des ganzen Verbrauchs. (Siehe G. Maier, Soziale Bewegungen, 1902.) Diese Zahlen beweisen, daß die große Masse der Produzenten eines Landes der Hauptsache nach ihr eigener Konsument ist.

Möchte doch das Bewußtsein unseren maßgebenden Faktoren in Fleisch und Blut übergehen, daß die Blüte einer Volkswirtschaft direkt proportional ist der Kaufkraft der großen Masse, und daß die Ankündigung des Anwachsens des Durchschnittseinkommens der großen Masse um 5 oder 10% für die Beurteilung der industriellen und landwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes ungleich mehr bedeutet als die Aufzählung noch so vieler erstaunlich hoher Steuerzahler.

 

 

Als Kapitalist.

 

Im Anhang 4 wurde bewiesen, daß die Gesamtsumme der Spareinlagen der kleinen Sparer in Deutschland wenigstens 12 bis 14 Milliarden Mark beträgt. Vergleicht man diese Summe mit den Kapitalien der größten amerikanischen Trusts (Anhang 7), so zeigt sich das überraschende Ergebnis, daß die deutschen Kleinsparer dreimal so viel Kapital besitzen als der gewaltigste Trust der Welt, der amerikanische Stahltrust, und siebenmal so viel Kapital wie der allmächtige Petroleumtrust, welcher allen Kulturländern seine Bedingungen diktiert.

Es folgt daraus, daß die Kleinsparer eines einzigen Landes als Gesamtheit der größte Kapitalist sind, größer und mächtiger als selbst die gewaltigsten Kapitalvereinigungen, vor denen die ganze Welt das Knie beugt, und denen die Industrien aller Länder tributpflichtig sind.

 

 

Als Steuerzahler.

 

Wie man früher irrtümlich annahm, daß die Wohlhabenden und Reichen die größten Verbraucher seien, so nimmt man heute noch an, daß [80] sie den größten Teil der Steuern eines Landes aufbringen. Die Ansicht, daß die Steuern der Hauptsache nach von den sogenannten „leistungsfähigen Schultern“ getragen werden, daß ein großer Teil der Bevölkerung überhaupt steuerfrei sei, ist allgemein verbreitet, und doch ist sie ein schwerer Irrtum.

Diese Ansicht trifft einigermaßen zu nur für die direkten Steuern, unter welchen die wichtigste die Einkommensteuer ist.

So betrug im Jahre 1901 2) die Gesamteinkommensteuer der physischen Zensiten in Preußen 168,13 Millionen Mark. Hiervon entfielen auf Zensiten mit über 3000 Mark Jahreseinkommen 114,01 Millionen Mark. Demnach beträgt die Leistung der Zensiten unter 3000 Mark Einkommen 54,12 Millionen Mark.

Es bezahlt also von dieser Steuer die große Masse (97% der Bevölkerung) nur rund 1/3, und die übrigen 3% der Bevölkerung 2/3.

Ganz anders aber gestaltet sich das Bild, wenn man die zweite wichtigste Steuergruppe, die indirekten Steuern in Betracht zieht; diese sind der Hauptsache nach Verbrauchssteuern, Zölle, in süddeutschen Staaten Weinsteuer, Fleisch- und besonders Biersteuer u. dgl., dieselben hängen nicht vom Einkommen, sondern vom Verbrauch pro Kopf an alltäglichen Lebensmitteln ab, sind also im wesentlichen pro Kopf für alle gleich; allenfalls könnte man annehmen, daß die große Masse hiervon 6/7 und der Rest der Bevölkerung 1/7 leistet, weil sich der Konsum dieser beiden Gruppen, wie vorhin gezeigt wurde, so verhält.

Nach einer Abhandlung des badischen Finanzministers Dr. Buchenberger entfallen nun auf den Kopf der Bevölkerung in den letzten Jahren aus den zwei wichtigsten Steuerarten:

 

 

 

in Preußen

 

in Bayern

   1. an direkten Steuern

 

6,07 M.

 

5,90 M.

   2. an Zöllen und Verbrauchssteuern

 

15,28 M.

 

21,06 M.

                                                            zusammen

 

21,35 M.

 

26,96 M.

 

Nimmt man für Preußen heute eine Einwohnerzahl von rund 341/2 Millionen und für Bayern von 6 Millionen an, so bringen diese beiden Steuerarten ungefähr folgende Summen:

 

 

 

in Preußen

 

in Bayern

   1. direkte Steuern

 

210 Mill. M.

 

36 Mill. M.

   2. Zölle und Verbrauchssteuern

 

530 M.

 

126 M.

                                                            zusammen

 

740 Mill. M.

 

162 Mill. M.

 

Nun entfallen auf die große Masse (unter 3000 Mark Einkommen) wie wir sahen, von der Steuer 1 1/3, von Steuer 2 6/7. [81]

Demnach gestaltet sich die Steuerverteilung wie folgt:

 

 

 

in Preußen

 

in Bayern

auf die große Masse

(unter 3000 M. Einkommen)

 

70 + 455 = 525 Mill.

 

12 + 108 = 120 Mill.

auf die Wohlhabenden und Reichen

(über 3000 M. Einkommen)

 

140 + 75 = 215 Mill.

 

24 + 18 = 42 Mill.

                         zusammen

 

740 Mill.

 

162 Mill.

 

Die große Masse trägt demnach in Preußen 5/6, in Bayern 3/4 der beiden wichtigsten Steuern, trotz der Einkommensteuerfreiheit von 65% der Bevölkerung und trotz der zum Teil bedeutenden Leistungen einzelner sehr bemittelter Steuerzahler.

Die Besteuerung der großen Massen ist demnach die wesentlichste, ja die ausschlaggebende Einnahmequelle der Staaten. Diese große Masse als Gesamtheit ist der größte Steuerzahler.

Daß dies auch für die schwerste aller Steuern, den Militärdienst, zutrifft, ist selbstverständlich, da die große Masse, entsprechend ihrer Zahl, auch hierzu 97% der Gesamtlast liefert. Von der großen Masse hängt die militärische Macht des Staates ab.

Die große Masse ist also in allen wichtigen Dingen der ausschlaggebende Faktor im Staate und in der Volkswirtschaft. Daß aber der Einfluß dieses größten Teils der Bevölkerung, seine Vertretung im Parlament, seine rechtliche Stellung und sein Anteil an den Segnungen der Kultur nicht dieser maßgebenden Stellung und überwiegenden Leistung entspricht, muß jeder rechtlich Denkende zugeben. Wenn aber diese Masse trotzdem heute eine so durchaus überwiegende Leistung aufweist, wieviel mehr müßte das der Fall sein, wenn man dieselbe durch mehr Anteil an den Segnungen der Kultur geistig und körperlich leistungsfähiger machte. Je höher das Niveau ist, auf welchem die Masse steht, desto höher ist die Leistung, die Macht und das Ansehen des Landes. Das ist der logische Schluß aus diesem nackten Zahlenmaterial.

 

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1) Diese Summe von 200 Mark als Gesamt-Jahresausgabe pro Kopf im Mittel dürfte wohl wesentlich zu niedrig gegriffen sein. 

2) Nach der Zeitschrift des Kgl. Preußischen Statistischen Bureaus 1902.