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Kapitel 8.
Wem nützt der Solidarismus?
Allen Abhängigen.
Direkt abhängig sind alle diejenigen Arbeitenden, welche ihre geistige oder körperliche Arbeit gegen Gehalt, Lohn, Salär leisten, mit einem Worte alle Salärierten.
Es gehören dazu alle Arbeiter, Gehilfen, Dienstboten und Taglöhner der Landwirtschaft, der Industrie und des Gewerbes, des Handels und Verkehrs, aber auch das gesamte Personal dieser Berufe: Aufsichtsbeamte, Werkmeister, Verwaltungs- und Bureaupersonal, technische und Betriebsbeamte. Dieselben umfassen 70% der Bevölkerung. 1)
Diese enorme Majorität unserer Brüder hat geradezu ein Lebensinteresse am Zustandekommen des Solidarismus, weil er dieselben zu unabhängigen Menschen, Teilhabern ihrer eigenen Betriebe und Besitzern des vollen Erlöses aus ihrer Arbeit macht, einen jeden nach seiner Leistung, aber für jeden mit gesicherter Existenz für sich und die Seinen in allen Fällen des Lebens, von der Geburt an bis zum Tode, mit sehr verbilligter und verschönerter Lebenshaltung.
Nicht einer von euch wird daran zweifeln, daß der Solidarismus für ihn ein neues Leben mit ungeahnten Freuden und Genüssen, eine wahre Befreiung bedeutet.
Aber zu diesen 70% direkt Abhängiger“ treten noch mindestens 25% der Bevölkerung indirekt Abhängiger“ hinzu, deren Existenzbedingungen äußerst prekär und notdürftig sind, die, wie die offizielle Statistik sagt, nur mühselig existieren“.
Werdet ihr kleinen und kleinsten Landwirte, Krämer, Wirtschaftsbesitzer und Gewerbetreibende aller Art es nicht auch als eine Erlösung empfinden, der nagenden Sorge für das Morgen enthoben und Mitglied eines wohlgeordneten Bienenstockbetriebes zu sein, mit gesicherten Einnahmen, [55] mit Anteilen für Krankheit und Alter, mit Versorgung eurer Familie nach dem Tod, mit all den wundervollen sozialen Einrichtungen, welche ihr heute kaum dem Namen nach kennt?
Werdet ihr, abhängigen Brüder, die ihr insgesamt 95 bis 97% unserer Bevölkerung ausmacht, nicht danach lechzen, eure jetzige Lage aufzugeben und in solche Betriebe zu kommen, die euch alles bieten, wonach ihr euch seit Generationen vergebens sehnt; werdet ihr euch nicht förmlich dazu drängen, und werdet ihr nicht, da ihr nicht alle sofort Bienen werden könnt, doch mit Freuden euren Brüderbeitrag zur Volkskasse leisten, um wenigstens baldmöglichst deren Vorteile zu genießen! Und selbst wenn ihr schon alt seid und in verdüsterter Stimmung für euch selbst nicht mehr daran zu glauben wagt, werdet ihr es nicht für eure Kinder tun, um dazu beizutragen, daß diesen die Befreiung erstehe!? Und werdet ihr es nicht auch schon deshalb tun, um das erhebende Bewußtsein zu haben, nach euren Kräften mitzuwirken an der größten Aufgabe dieser Zeiten, an eurer wirtschaftlichen Erlösung?
Zieht ihr denn nicht alle ausnahmslos vor, für die Zwecke der Gesamtheit zu arbeiten als für die Zwecke eines einzelnen. Tut ihr denn nicht jetzt oft schon weit mehr? Wenn ihr Wochen oder Monate die Arbeit einstellt, auf euren Lohn verzichtet und hungert zu dem idealen Zwecke, mitzuhelfen an der Verbesserung der Lage eurer Brüder, bringt ihr da nicht ein Opfer, so groß, wie es der Solidarismus in Jahren, vielleicht in eurem ganzen Leben nicht von euch fordert, und bringt ihr es nicht ohne Hoffnung, daß es euch vergolten werde, während der Solidarismus euch eure Opfer schon in kurzer Zeit in Form billiger Lebenshaltung vielfach ersetzt!?
Allen Selbständigen.
Zu den Selbständigen des Volkes gehören alle mittleren und großen Geschäftsleute, Gewerbetreibende, Fabrikanten, Landwirte, deren Einkommensverhältnisse derartige sind, daß eine gewisse oder vollständige Unabhängigkeit daraus entsteht; es werden auch hierher gezählt die mittleren und höheren Staatsbeamten, die Angehörigen des Heeres und der freien Berufe.
Auf diese Kategorie entfallen nur 3% der Gesamtbevölkerung, und selbst von diesen kann mindestens die Hälfte immerhin in nur sehr bescheidenen Grenzen als unabhängig gelten. 2) Es ist mit Gewißheit anzunehmen, daß selbst unter diesen noch eine große Zahl sich befindet, die ohne weiteres ihre jetzige Situation gerne eintauschen würde gegen eine führende Stellung in einem Bienenstock, welche ebenfalls die ruhige, sorgenlose Tätigkeit in Bienenstöcken, die damit verknüpfte vollständige Sicherung für sich und die Ihrigen gegen alle Zwischenfälle des Lebens ebenfalls als eine Erlösung aus ihrem immerhin mühe- und sorgenvollen, unsichern Dasein begrüßen würde. Fragt euch nur selbst aufrichtig und unbefangen, ihr Männer, fragt eure Frauen, was sie darüber denken! [56]
Wäre es denn wirklich ein beklagenswerter Verlust, euer Geschäft aufzugeben und dafür die Leitung eines Tauschlagers oder einer Abteilung in einem Bienenstock oder die Betriebsleitung einer Bienenstocks-Werkstätte zu übernehmen? Wäre da nicht im Gegenteil euer Wirkungskreis ein viel umfassenderer, interessanterer, nützlicherer? Würdet ihr denn an eurem Ansehen einbüßen? Genießt denn heute der Bureauchef oder Betriebsleiter einer Fabrik geringeres Ansehen als der Besitzer eines kaufmännischen Detail- oder Engrosgeschäftes, einer Agentur oder einer mechanischen oder sonstigen Werkstätte? Gilt ein Fabrikdirektor oder der Direktor einer Bank heute als etwas geringeres als ein größerer Gewerbetreibender oder ein selbständiger Bankier? Im Gegenteil! Es ist heute schon Sitte, große Privatgeschäfte in Aktiengesellschaften umzuwandeln, und der Ehrgeiz von deren Besitzern, Direktoren, und ihrer Angestellten, Beamten dieser Gesellschaften zu werden. Um wieviel mehr wird das im Solidarismus der Fall sein, wo die Tätigkeit in Bienenstöcken und in der Volkskasse der Gesamtheit gewidmet ist, einem Gemeinwohl dient: solche Tätigkeit erzeugt immer größeres Ansehen bei den Mitbürgern und das stolze Bewußtsein in der eigenen Brust, daß man nicht nur für sich allein und seine kleinen Interessen lebt, sondern auch für seine Brüder nützliche Werke tut.
Es wäre euch also wirklich kein Schaden, wenn durch das Errichten eines neuen Bienenstocks eine Anzahl eurer Geschäfte aufgesogen würde. Versteht wohl, Brüder, aufgesogen, aufgenommen, nicht beseitigt! Der Solidarismus zerstört nicht, er baut auf! Der große Bienenstock vernichtet nicht die Kleinen, er vereinigt sie zu gemeinsamer und erfolgreicherer Arbeit; er schaltet niemand von euch aus, sondern er reiht euch alle mit gleichen Rechten ein, gleichgültig ob eure Arbeit der Beschaffung, der Herstellung oder der Verteilung der Güter gewidmet ist. Der Solidarismus bildet aus vielen kleinen, sich bekämpfenden oder zerstörenden Betrieben einen großen, kraftvollen, gesunden Organismus, in dem sich alle unterstützend helfen! Gerade ihr seid es also, welche die Bienenstöcke errichten und Nutzen davon haben sollt; aus euren Kreisen soll die Anregung zur Errichtung derselben kommen, sich das höhere Personal rekrutieren; ihr seid dazu bestimmt, im eigenen Interesse die solidaristische Bewegung in die Hand zu nehmen und die Massen mitzureißen.
Der Solidarismus wirkt nicht gegen eure Interessen, sondern für dieselben, er kommt geradezu den Wünschen entgegen, die ihr vielleicht unausgesprochen, vielleicht nicht einmal vollbewußt, in euch tragt.
Und ihr Großen, wirklich Unabhängigen? Ihr könnt selbstverständlich euch stolz zur Seite wenden und sagen: Wir brauchen das nicht!“ Niemand wird euch darum gram sein. Werdet ihr aber nicht gerade deshalb, weil ihr so hoch und unabhängig dasteht, in euren Herzen die Regung fühlen, die Hände eurer Brüder zu ergreifen und an einem Werke reiner, uneigennütziger Menschenliebe mitzuwirken? Ja, selbst wenn ihr diesen idealen Zweck nicht erkennt oder nicht anerkennt, so habt ihr doch Kinder, deren Zukunft immerhin nicht ganz so sicher vor euch steht wie eure eigene; werdet ihr nicht diesen die [57] Möglichkeit verschaffen wollen, an dieser wundervollen Bewegung teilzunehmen und sich deren Vorteile für alle Fälle der Zukunft zu sichern?
Auch euch, den reinen Kapitalisten, nützt der Solidarismus, denn die Bienenstöcke geben für ihre Anleihen höhere Zinsen als üblich und mehr Sicherheit wie jede andere Anlage; denn die Haftung der Volkskassen für Kapital und Zins gilt unter allen Umständen selbst bei Krisen, Kriegen und Revolutionen.
Auch ihr, Beamten des Staates, Angehörige des Heeres, auch ihr habt ein Interesse an der Entwicklung des Solidarismus; gerade weil der Staat so schön für euch sorgt, euch euren Gehalt in allen Lebenslagen sichert, euch und die euren pensioniert, habt ihr Gelegenheit gehabt, diesen Teil des Solidarismus an euch selbst kennen und schätzen zu lernen, und deshalb werdet ihr bemüht sein, diese Vorteile und die noch viel weitergehenden des Solidarismus euren Kindern zu sichern, die nicht alle Beamten und Offiziere sein können; ja, für euch selbst werdet ihr Interesse daran haben, euch durch eure Beiträge zur Volkskasse dieses neue Land auf alle Fälle offen zu halten und vielleicht so manches Mal Gelegenheit haben, freiwillig oder nicht, dasselbe zu betreten und im Solidarismus neue Bahnen zu finden; ihr alle werdet darin willkommen sein!
Dasselbe trifft zu für euch, Vertreter der freien Berufe! Ihr aber habt neben dem rein persönlichen, materiellen Interesse mehr wie alle andern ein ideales Interesse daran, den Solidarismus mit allen Kräften zu fördern; seid ihr doch die geistigen Führer der Nation und müßt als solche das Bestreben haben, euer Volk leistungsfähig zu machen, dasselbe moralisch und sittlich hoch zu heben, materiell gut zu stellen, zufrieden zu machen und so zum Wachsen und Gedeihen des Vaterlandes, zu seiner kulturellen Hebung in erster Linie beizutragen! Welch wunderbare Aufgabe fällt dabei den einzelnen Gruppen eurer freien Berufe zu!
Welche Rolle die Ärzte im Solidarismus zu spielen bestimmt sind, geht schon aus der ihnen in den Bienenstöcken zugewiesenen großen Aufgabe hervor; durch die ständige Überwachung der Bienen am Orte ihrer Tätigkeit sind sie weit mehr als heute in der Lage, den eigentlichen Zweck der Medizin, das Verhüten der Krankheiten, in erster Linie zu pflegen; durch die fortwährende Fühlung mit ihren Bienen und deren Angehörigen, ihren Einfluß auf die Ernährung, die häusliche und Schulhygiene werden sie zu wahren Freunden und Beratern derselben und kommen so in die Lage, nicht nur an der körperlichen sondern auch an der geistigen und moralischen Gesundheit der ihnen anvertrauten Brüder ständig mitzuarbeiten; infolge ihrer festen Anstellung an den Bienenstöcken sind sie den Kranken gegenüber gänzlich unabhängig von materiellen Fragen, ja, infolge ihrer Beteiligung am Einkommen der Bienenstöcke haben sie ein direktes materielles Interesse daran, nur gesunde und leistungsfähige Bienen in ihren Stöcken zu haben.
Auch die Lehrberufe sind im Solidarismus zu einem erweiterten und erhöhten Wirkungskreise berufen; durch die Einrichtungen für die Erziehung und geistige Fortbildung der Bienen, welche an jedem Bienenstock obligatorisch sind, durch all die dort einzurichtenden Schulen und [58] Vortragszyklen entstehen, über das ganze Land ausgebreitet, allen gleichmäßig und unentgeltlich zur Verfügung, ebensoviele Plätze für die Beseitigung der Unwissenheit und des Aberglaubens, für die Verbreitung und Popularisierung der Wissenschaften, für das Wirken ihrer Vertreter, für das Erwecken der unerschöpflichen geistigen Energien in der Gesamtheit des Volkes, für die Ausbreitung des Wissens auf die große Masse der geistig enterbten und damit für eine ungeahnte kulturelle Hebung der Nation; dieser Umstand allein müßte alle Angehörigen der gelehrten und Lehrberufe zu begeisterten Anhängern des Solidarismus machen! Der Lehrer hat in der solidaristischen Gemeinschaft eine ähnlich hohe Aufgabe wie der Arzt; auch er steht in fortwährender Fühlung, in unausgesetztem geistigen Austausch mit seinen Bienen in allen Lebensaltern und wird so zu ihrem Freund und Berater; auch er ist an der Leistungsfähigkeit seines Bienenstocks, welche zu der Summe der geistigen Fähigkeiten seiner Mitglieder in direktem Verhältnis steht, materiell interessiert, da er selbst Biene des Stocks ist. Sein Einfluß ist so groß und wichtig, daß auch sein Ansehen und seine materielle Lage entsprechend hoch stehen müssen.
Auch die Kunst erhält durch den Solidarismus neues Lebensblut; die Kunst lebt von den Idealen der Menschen; jedes große Volksideal, jede Religion hat den weitestgehenden Einfluß auf die Kunstentwicklung der betreffenden Zeit, das ist bewiesen z. B. durch den geradezu überwältigenden Einfluß, welchen die Götterlehre auf die Kunst der antiken Welt, die christliche Lehre auf die Kunstentwicklung der modernen Welt gehabt haben. Die wundervollen kirchlichen Bauten aller Völker und die verschwenderische Anhäufung von Kunstwerken in denselben sind doch alle nur zu Ehren und zur Pflege eines reinen Ideals, des Christentums entstanden, für die Gesamtheit aller und durch die Jahrhunderte lang angehäuften Mittel dieser Gesamtheit, ohne Unterschied des Ranges und des Reichtums.
Warum soll nicht ein anderes, hohes Ideal, das Wirken des einzelnen für die Gesamtheit, das Eintreten der Gesamtheit für den einzelnen, der Solidarismus, eine neue große Periode begeisterter Kunst herbeiführen, wenn es erst von der Menge als solches erkannt und erfaßt ist? Ist denn die Menge nicht durstig nach den idealen Genüssen der Kunst; geht doch hin in die populären Konzerte, in die billigen Vorstellungen unserer Klassiker, in die Gratistage unserer Kunstausstellungen und seht, wie die Menge die Kunst genießt und was aus der Kunst werden kann, wenn erst die Menge die Mittel in die Hand bekommt sich an derselben zu beteiligen!
Darum, ihr Vertreter der freien Berufe, ihr Künstler und Ingenieure, Schriftsteller und Gelehrte, Seelsorger und Ärzte, kommt alle, alle, mitzuwirken, das Ideal des Opferns und Wirkens für die Gesamtheit zu verbreiten, die Begeisterung zu erwecken für das hohe Ziel, die Menschen zu Menschen zu machen, ein Zeitalter der Uneigennützigkeit herbeizuführen, wie es die Geschichte noch nicht sah! [59]
Den Frauen.
Nirgends im Solidarismus ist ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Frauen und Männern gemacht; Frauen und Männer haben im Volksvertrag und im Arbeitsvertrag der Bienenstöcke gleiche Pflichten und Rechte und werden unter gleichen Bedingungen Brüder und Bienen: beiden Geschlechtern sind dieselben Unterrichts- und Bildungsmöglichkeiten eröffnet; nichts ist den Frauen vorenthalten.
Schwestern! Werdet ihr euch deshalb im Bienenstock auf die männlichen Berufe stürzen, wie das so vielfach angenommen wird? Keineswegs! Da der Bienenstock auf Interessengemeinschaft beruht, so wäre es gegen euer eigenes Interesse gehandelt, eine Tätigkeit ergreifen zu wollen, die euren Kräften, eurer Natur nicht entspricht; ihr würdet ja darin weniger leisten und durch das geringere Gesamterträgnis nur euch selbst mitschädigen.
In diesem freien Spiel der Interessengemeinschaft ergibt sich euer Wirkungskreis von selbst; wenn ihr auch nicht zu jedem Beruf geschaffen seid, so darf euch doch keiner verschlossen bleiben, die Natur weist euch selbst die Wege; und wenn euch eure innere Stimme oder heiligste Pflicht an das Haus fesselt, so wird niemand euch veranlassen wollen, einen andern Beruf als den der Mutter und Hausfrau zu ergreifen. Dort aber, wo dies nicht der Fall, oder wo es unmöglich ist, da ergreift Berufe soviel ihr könnt; dadurch, daß euch der Bienenstock einen großen Teil der Haushaltungs- und Erziehungsmühen abnimmt, werdet ihr frei für andere Berufe; die Bienenstöcke, abgesehen von den auch sonst der Frau überlassenen Beschäftigungszweigen, bieten euch in ihren sozialen Anstalten eine ganze Reihe neuer Tätigkeiten, welche so recht dem eigentlichen Wirkungskreise eures Geschlechtes angehören; mit jedem neuen Bienenstock findet eine große Anzahl von Frauen Beschäftigung in den Speisehallen, den Krankenhäusern, Erholungs- und Rekonvaleszentenheimen, den Kinderhorten und Schulen.
Eure Männer arbeiten in Bienenstöcken, ihr Frauen versorgt darin als Bienen die sozialen Einrichtungen, eure Kinder befinden sich in euren eigenen Horten, Schulen und Erziehungsanstalten, eure Kranken unter eurer eigenen Pflege in den Kranken- und Erholungshäusern; auch eure Mahlzeiten könnt ihr hier einnehmen und abends geht ihr mit den Euren nach Hause und pflegt im eigenen Heim das Familienleben, oder ihr geht in die Erholungsräume eures oder eines befreundeten Bienenstocks und pflegt mit Freunden der Geselligkeit oder der Bildung.
Und da ihr selbst Bienen eurer Stöcke seid, so habt auch ihr ein Anrecht auf alle Vorteile des Arbeitsvertrags, gesichertes Einkommen, Krankenzuschüsse, Seniorenanteile, und wie sie alle heißen mögen.
Schwestern, öffnet doch eure Augen und sehet! Wenn eure Männer noch nicht recht verstehen wollen, was der Solidarismus ist, dann macht ihr es ihnen klar, ihr werdet es vielleicht rascher erfassen, weil für euch und eure Kinder die Vorteile noch größer sind als für den Mann allein; werdet selbst sofort Schwestern und baldmöglichst Mitglieder von Bienenstöcken, auch wenn ihr noch nicht verheiratet seid. Eine [60] Jungfrau, welche Biene ist, deren ganze Existenz in allen Lebenslagen gesichert ist, ist wirtschaftlich frei; sie steht so unabhängig da, daß sie beim Heiraten bloß der Stimme ihres Herzens zu folgen braucht und von andern Erwägungen frei bleiben kann; sie muß nicht heiraten um versorgt zu sein. Aber auch der Mann wird freier nach seinem Herzen wählen, da er mit der Heirat nicht zu befürchten hat, Lasten und Sorgen auf sich zu nehmen, die er nicht bewältigen kann; in welch angenehmem, gesichertem Wohlstand wird eine Familie leben, wenn Mann und Frau Bienen sind.
Werdet ihr denn, wie das so viel befürchtet wird, euren Männern durch eure eigenen Berufe schaden und diesen die Arbeit entziehen? Törichter Wahn!
Ihr habt schon gesehen, daß der Bienenstock euch Berufe eröffnet, die der Mann überhaupt nicht versehen kann, und daß für die Berufe, welche von beiden Geschlechtern versehen werden können, die Trennung von selbst sich so vollzieht, daß jedes Geschlecht nur solche ergreift, in welchen es das Höchste leisten kann, dafür bürgt die Organisation, welche auf Interessengemeinschaft beruht und welche ganz von selbst nicht duldet, daß ein Starker nicht voll ausgenutzt oder ein Schwacher an eine Stelle gesetzt wird, die er nicht ausfüllen kann; das Gesetz der höchsten Entlohnung für höchste Leistung ist auch hier der regelnde Faktor.
Da ein Volk nur eine begrenzte Menge von Bedürfnissen hat, so wird dieselbe um so rascher hergestellt sein, je mehr Menschen daran arbeiten; die Mitarbeiterschaft der Frau ist daher in der solidaristischen Gemeinschaft dem Manne keine Konkurrenz, sondern eine Hilfe und hat zur Folge, die gesamte Arbeitszeit der Brüder zu verkürzen; je mehr Frauen mitarbeiten, desto eher wird es möglich sein, das Seniorenalter für alle herabzusetzen und die von jedem einzelnen zu leistende gesamte Lebensarbeit zu vermindern.
Darum Schwestern, ergreift Berufe! Habt Vertrauen auf eure Fähigkeiten, eure Persönlichkeit, eure Kraft! Werdet mündig, werdet die ebenbürtigen Gefährtinnen eurer Männer, die sittliche Leuchte eurer Familie und durch diese der Nation! Nehmet Teil am geistigen Leben unserer Zeit und greifet ein mit weicher Hand und warmem Herzen in das schwierigste Problem der Menschheit, die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit! Veranlaßt eure Männer, eure Brüder, der Volkskasse beizutreten, lehrt eure Kinder, sobald sie es begreifen können, ihre Tagespfennige zur Volkskasse zu tragen, laßt sie Brüder werden, sobald sie das Alter dazu erreicht; legt in eure Söhne und Töchter den großen, herrlichen Gedanken des Wirkens für die Gesamtheit; erzieht sie im Solidarismus, denn ihnen gehört die Zukunft; in eurer Jugend ist noch frisch und unverfälscht der Trieb nach Wahrheit und Gerechtigkeit, die unwiderstehliche Begeisterung für große Ideale, die ungebrochene Hoffnung, dieselben zu erreichen, die Tatkraft, Opferwilligkeit und Kampfesfreudigkeit, der Glaube an sich selbst! Wenn die Früchte des Solidarismus auch für euch selbst noch nicht alle reif werden, so werden sie einst die von euch gelegte Saat aufgehen sehen und ihre Früchte genießen. [61]
Ihr Frauen habt vom Solidarismus nicht nur Großes sondern alles zu gewinnen; wenn ihr ihn wollt, wenn ihr daran glaubt, dann wird er siegen!
Dem Staate.
Kann oder soll der Staat den Solidarismus dekretieren?
Nein! Denn der Staat ist der Hüter und Beschützer aller Formen wirtschaftlicher Produktion, die sich in gesetzlichen Bahnen bewegen, er darf nicht eine Wirtschaftsform auf Kosten einer andern vorschreiben; er kann nicht mit einem Federstrich plötzlich alle wirtschaftlichen Erscheinungen, die sich seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden entwickelten, beseitigen. Der Solidarismus ist eine neue, höhere Form des Wirtschaftslebens, welche sich mit vollem Bewußtsein im Rahmen der bestehenden Gesetze bewegt und sich neben die andern Formen stellt, und zwar gleichberechtigt, denn die Gesetze gelten für alle. Diese Wirtschaftsform trägt ihre Lebenskraft in sich selbst, in ihrem Prinzip, sie kann aber vom Staate ebensowenig vorgeschrieben werden wie etwa die Form der Aktiengesellschaft oder irgend eine andere als einzig richtige vorgeschrieben werden kann, ohne eine Menge anderer Interessen zu verletzen, ohne mit Gewalt in andere wirtschaftliche Verhältnisse einzugreifen, die ebenfalls unter dem Schutze des Staates stehen. Der Staat kann auch deshalb den Solidarismus nicht vorschreiben, weil er es nur durch Gesetze, d. h. durch Zwang, tun könnte, während einer der unantastbaren Grundsätze des Solidarismus die volle Freiheit des einzelnen ist, sich ihm zuzuwenden oder nicht, weil der Solidarismus auf dem freien Vertrag zwischen den Beteiligten beruht, also zwischen den einzelnen Menschen, und nicht auf einem Vertrag zwischen Volk und Staat, der ein Unding wäre. Der Solidarismus entwickelt sich freiheitlich, oder er entwickelt sich nicht; er braucht keine Sondergesetze!
Steht deshalb der Solidarismus im Gegensatz zum Staate?
Nein! Ist doch der Staat selbst schon teilweise solidaristisch organisiert; beruht doch sein Kredit auf den summierten Beiträgen der Gesamtheit, den Steuern, wobei die kleinen und kleinsten Beiträge der großen Masse den ausschlaggebenden Teil der Einnahmen ausmachen. 3) Auf Grund seines Kredits nimmt er Anleihen auf, die er, wie die Bienenstöcke, normal verzinst und in Annuitäten zurückzahlt, und für welche er Kapital und Zins garantiert; mit Teilen dieser Anleihen eröffnet er Selbstbetriebe, die wiederum teilweise solidaristisch organisiert sind.
Der Staat sichert seine Beamten, abgesehen von meist selbstverschuldeten Ausnahmefällen, gegen Entlassung und Verminderung des Gehaltes mit wachsenden Dienstjahren; er zahlt die Gehälter in Krankheitsfällen weiter, gewährt Alters-, Witwen- und Waisenpensionen und sorgt für seine Angehörigen durch eine große Zahl von Wohlfahrtseinrichtungen. [62]
Merkwürdigerweise finden diese solidaristischen Grundsätze nur auf die Beamten Anwendung, nicht aber auf das niedere Personal und die große Masse der Arbeiter. Warum? Hierauf gibt es wohl nur eine zutreffende Antwort: Weil die Entwicklung noch nicht so weit gediehen ist.
Der Staat hat diese Lücke erkannt und sucht durch soziale Gesetze dieselbe auszufüllen, zu deren Lasten er wesentlich beiträgt; aber seine Mittel reichen nicht aus, und deshalb hat er das größte Interesse daran, eine auf Selbsthilfe beruhende Bewegung zu unterstützen, bei welcher jeder einzelne Betrieb (Bienenstock) alle Existenzbedingungen seiner Gruppe selbständig und vollständig aus seinen eigenen Mitteln sichert.
Der Solidarismus entwickelt sich friedlich, ohne Heftigkeit, ohne Haß; keine Biene wird streiken, weil sie gegen sich selbst kämpfen und sich ins eigene Fleisch schneiden würde; kein Bruder wird revolutionieren, weil er weiß, daß der Solidarismus sicherer, einfacher und ohne Opfer zum Ziele führt; der Solidarismus sucht nicht einseitig die Interessen einer Klasse zu fördern; sein innerstes Wesen ist: Wirken aller für die Gesamtheit, für alle Klassen, ohne Ausnahme; die Gesamtheit ist aber die Nation; der Solidarismus fördert also die Wohlfahrt der Nation mehr als die Wirtschaftsformen, bei welchen alle nur persönliche Zwecke verfolgen; der Solidarismus erhöht die materielle und moralische Größe des Staates. Der Solidarismus beseitigt Klassenhaß und Klassenkämpfe; denn die solidaristischen Betriebe sind Selbstbetriebe, sie enthalten keinen Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern nur Beteiligte am gemeinsamen Werk. Dieser Umstand allein würde genügen, um für den Staat den Solidarismus als die begehrenswerteste Einrichtung dieser Zeit erscheinen zu lassen, weil der Staat einen großen, vielleicht den größten Teil seiner Kraft, seiner Mittel, seines Verwaltungsapparats und seiner gesetzgeberischen Tätigkeit auf die Schlichtung dieses einen Gegensatzes verwendet, und weil er für diesen einen Gegensatz eine solche Menge von Bestimmungen, Gesetzen und Zwangsmaßregeln schaffen mußte, daß daraus eine unhaltbare Wirrnis und Zerfahrenheit entstanden ist; trotzdem sind die Beteiligten nicht befriedigt, denn Zwang erzeugt stets Opposition und aller Zwang ist ohnmächtig gegenüber der unermeßlichen Macht, welche dem Grundgesetze der Menschheit, ihrem Streben nach Glück, innewohnt. Der Solidarismus macht daher die Mission des Staates zu einer friedlichen, statt auf Gewalt und Zwang beruhenden.
Aber neben den idealen und volkswirtschaftlichen Vorteilen, die dem Staat aus dem Solidarismus erwachsen, entspringen demselben daraus auch rein materielle, fiskalische Vorteile, deren Anführung von Interesse ist:
Die Volkskasse hat die gewaltigen Kapitalien, welche sich bei ihr im Laufe von Jahrzehnten anhäufen, sicher anzulegen; sie wird sich dazu in erster Linie die Staatsanleihen aussuchen und einst imstande sein, einen großen Teil der Anleihen des Staates allein zu übernehmen 4) und damit die Frage der Staatsanleihen vereinheitlichen und vereinfachen. [63]
Aber auch die Steuerfrage wird durch eine allgemeine Ausdehnung der Bienenstöcke auf die vaterländische Industrie ungemein erleichtert. Es ist ja selbstverständlich, daß die Bienen als freie unabhängige Bürger und Selbstunternehmer nicht steuerfrei sein wollen; sie verlangen nicht bloß gleiche Rechte, sondern auch gleiche Pflichten wie alle Staatsbürger; wie groß oder klein ihr Einkommen sein mag, so müssen sie grundsätzlich gleichmäßige Besteuerung aller wünschen; denn die progressive Besteuerung, die Steuerbefreiung der gering Bemittelten, führt den Staat unbewußt im fiskalischen Interesse zur Unterstützung, Förderung und Begünstigung aller Bemittelten, aller großkapitalistischen Unternehmungen auf Kosten und zu Ungunsten derjenigen, die keine oder geringe Steuern zahlen; sind aber alle Einkommen prozentual gleich besteuert, so hat der Staat am Gedeihen aller das gleiche Interesse, ein Standpunkt, der weit mehr der hohen, moralischen Aufgabe des Staates und der Gerechtigkeit entspricht, abgesehen davon, daß auch der minder Bemittelte erst dadurch das Bewußtsein gleicher Behandlung aller Staatsbürger bekommt.
Selbstverständlich kann dieser höhere Zustand des Steuerwesens nicht heute eingeführt werden; er hat zur Voraussetzung, daß auch der höhere Zustand der Wirtschaftsform, der Solidarismus, schon bestehe; ist das aber der Fall, dann können die Bienenstöcke bei Einführung einer gleichmäßigen Einkommensteuer dieselbe für ihr gesamtes Personal in jährlich einer einzigen Summe direkt an den Staat zahlen, und es könnte der umständliche Apparat der Selbsteinschätzung, Kontrolle, Steuerzahlung und Einziehung mit einem Schlage beseitigt werden.
Dadurch, daß der Bienenstock seine gesamten Erträgnisse als Entlohnung für deren Arbeit an seine Mitglieder ausbezahlt, wird das Einkommen der letzteren in den weitaus meisten Fällen den steuerfreien Mindestbetrag (in Preußen 900 Mark) überschreiten, so daß eine allgemeine Verbreitung des Solidarismus selbst ohne Änderung der Steuergesetze die 65% der Bevölkerung, welche heute steuerfrei sind 5), oder den größten Teil derselben zu Steuerzahlern machen würde, so daß der Staat seine Einnahmen aus Einkommensteuern mühelos verdoppeln könnte, denn auch hier sind die kleinen Beiträge der Massen das Ausschlaggebende gegenüber der Minorität der Bemittelten, trotz deren höheren Zahlungen.
Eine allgemeine Verbreitung des Solidarismus würde also für den Staat zur Folge haben, daß er durch Einführung einer für alle Einnahmen gleichen prozentualen Einkommensteuer alle andern Steuern beseitigen, seinen Steuergesetzgebungs- und Verwaltungsapparat wesentlich vereinfachen, und dabei doch seine Einnahmen befestigen, regeln und erhöhen könnte. Gleichzeitig damit würde die Volkswirtschaft von den lästigen Fesseln befreit, welche heute in einer Unzahl von Steuern und Abgaben ihr anhaften und den freien Flug fast aller nationalen Produktionszweige verhindern. [64]
Die solidaristische Selbsthilfe genügt überhaupt in allen Fällen zur Lösung der wirtschaftlichen Fragen, ohne daß der Staat zur Unterstützung einzelner Gruppen durch besondere Gesetze und Maßregeln einzutreten braucht; als Beweis sei nur ein wichtiger Sonderfall, die Zollfrage, noch hier erwähnt.
Die Bienenstöcke sind nach ihrem Arbeitsvertrag verpflichtet, ihre Waren von den andern Bienenstöcken des Landes zu beziehen, so lange dieselben hierzu ausreichen; wäre nun der größte Teil der vaterländischen Produktion solidaristisch organisiert, so müßten sämtliche Bienenstöcke des Landes, z. B. ihr Getreide, von den landwirtschaftlichen Bienenstöcken für Getreideproduktion beziehen und dürften ausländisches Getreide erst kaufen, wenn kein inländisches Bienenstockgetreide mehr zu haben wäre.
Da nun die Volkskasse den Bienenstöcken ihr Kapital mit Zinsen und ihre Normaleinkommen nebst dem Unterhalt aller sozialen Einrichtungen garantiert, so würde bei ungenügenden Getreidepreisen die Volkskasse gezwungen sein, den Fehlbetrag an die landwirtschaftlichen Bienenstöcke auszuzahlen; das könnte ja geschehen, dann würde einfach die Gesamtheit diesen Fehlbetrag tragen; da aber der Volksrat die Pflicht hat, das Vermögen der Volkskasse intakt zu halten, so wird er dafür sorgen, daß der Getreidepreis derartig erhöht werde, daß die landwirtschaftlichen Bienenstöcke ihren Verpflichtungen aus eigenen Mitteln nachkommen können; da der Bienenpreis obligatorisch ist, so zahlt jeder einzelne in diesem Falle etwas mehr für seinen Getreidebedarf; er wird sich aber darüber nicht beklagen, denn den einzelnen trifft erstaunlich wenig und jeder hat dabei das Gefühl der Gerechtigkeit.
So wird also auch diese Frage sich durch das selbständige Spiel des solidaristischen Prinzips des Eintretens aller für alle auf die einfachste und natürlichste Weise lösen; reicht nun die inländische Getreideproduktion nicht aus, so werden die Bienenstöcke ausländisches Getreide einführen, natürlich zu möglichst billigem Preise; ein Zoll ist also zum Schutze der inländischen Produktion nicht erforderlich; diese schützt sich durch die solidaristische Interessengemeinschaft selbst; ein Zoll wäre dann nur noch eine fiskalische Maßnahme zur Erhöhung der Staatseinnahmen, eine Konsumsteuer wie jede andere, und ebenso unrichtig wie jede Konsumsteuer; denn ein Staat, welcher seine Volkswirtschaft möglichst entwickeln will, und das ist doch sein höchstes Ziel, soll vor allem den Konsum zu erhöhen suchen und nicht ihn durch Konsumsteuern herabdrücken.
Wenn auch diese letzteren Ausblicke theoretischer Natur sind und einen Zukunftszustand betreffen, welcher erst denkbar ist, wenn der Solidarismus allgemein eingeführt sein wird, so zeigen dieselben doch, wie auch die vorhergehenden, daß der Staat zum Solidarismus nicht im Gegensatz steht, daß er vielmehr das größte Interesse daran hat, daß der Solidarismus möglichst rasch sich einführe und möglichst lebenskräftig werde; der Staat ist in seinen eigenen Betrieben schon zum Teil solidaristisch organisiert und kann es deshalb nur begrüßen, wenn auch die Privatbetriebe auf diesen Grundlagen organisiert werden. Der Solidarismus hat außer direkt materiellen und [65] fiskalischen Vorteilen für den Staat und der Möglichkeit enormer Vereinfachung seiner Verwaltung und Gesetzgebung eine Reihe von unschätzbaren idealen Vorteilen. Er gestattet, die Bevölkerung einer friedlichen und zugleich freiheitlichen Entwicklung, einer bedeutend erhöhten Gesamtwohlfahrt zuzuführen, Einheit und Eintracht, höchste und vollendetste Entwicklung des einzelnen zu erreichen und der nationalen Volkswirtschaft eine ungeahnt glanzvolle Zukunft zu bereiten.
Der Solidarismus ermöglicht dem Staate, nur solche Einrichtungen zu treffen, welche der Gesamtheit, d. h. allen einzelnen, nützen, statt solcher, welche nur einzelnen Gruppen nützen, den andern aber schadet; er gestattet dem Staate, seinen höchsten Beruf, die Gerechtigkeit, zu verwirklichen, denn Gerechtigkeit ist auch der Inhalt des Solidarismus. Deshalb ist es Staatsinteresse, den Solidarismus zu fördern; der Staat, welcher das zuerst erkennt, wird seine Kraft vervielfachen, da sie sich dann auf die Liebe aller stützen wird; dieser Staat wird der mächtigste, materiell und moralisch der größte sein!
Den Gemeinden.
Was vom Staate gesagt wurde, gilt auch von der Gemeinde, welche im Grunde ein kleiner Staat im Staate ist; auch die Gemeinden haben in vielen Dingen schon solidaristische Organisation, aber ebenfalls nicht konsequent durchgeführt; auch die Gemeinden haben das größte Interesse an dem Zustandekommen des Solidarismus; sie sollten das Beispiel geben, jede Gemeinde sollte sich als einen Bienenstock betrachten und alle in ihr Tätigen als Bienen; es würden dadurch alle wirtschaftlichen Fragen der Gemeinden befriedigend gelöst. Der früher geschilderte landwirtschaftliche Bienenstock ist im Grunde ein Gemeindebienenstock, jeder Bienenstock mit seinen Produktionswerkstätten einerseits, seinen Tauschlagern andrerseits, mit seinen sozialen Einrichtungen und versorglichen Anstalten, ist eine in sich komplette, abgeschlossene, sich selbst versorgende Gemeinde, deren Mitgliederzahl selbst bei kleinen Bienenstöcken bald größer sein wird als die durchschnittliche Einwohnerzahl gewöhnlicher politischer Gemeinden.
Der Kirche.
Die Gebote des Christentums sind auch die des Solidarismus. Der höchste Beruf der Kirche ist die Verwirklichung dieser Gebote unter den Menschen: der Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, der Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und Liebe; das ist auch der Beruf des Solidarismus, welcher die erhabenen Lehren des reinen Christentums im Geiste seines Begründers auf die praktische Volkswirtschaft, auf die Organisation der Arbeit und Güterverteilung überträgt.
Das Gebot: Deine Rede sei Ja Ja, Nein Nein, was darüber ist, das ist vom Übel“, hat der Solidarismus aufgenommen in der Verpflichtung der Brüder zu unantastbarer Wahrhaftigkeit und Ehrenhaftigkeit.
Das Gebot: Trachtet nach der Gerechtigkeit“ ist ebenfalls im Solidarismus enthalten, denn er fordert eine gerechte Verteilung der Güter [66] und Segnungen der Kultur unter allen Menschen, einem jeden nach seiner Leistung, aber ohne jemals einen auszuschließen.
Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, ihr aber seid alle Brüder“, steht auch im Solidarismus, auch er fordert die Brüderlichkeit; die Beiträge zur Volkskasse, die Arbeit im Bienenstock sind Brüderleistungen, denn alle haben daran teil.
Das Gebot der Friedfertigkeit findet im Solidarismus in der Vorschrift seinen Ausdruck, daß alle Brüder ihre Differenzen nicht den Gerichten vorzulegen haben, sondern den brüderlichen Schiedsgerichten, welche nicht richten, sondern schlichten und versöhnen.
Auch das Gebot der Barmherzigkeit: Richte nicht, damit du nicht gerichtet werdest“, erfüllen dieselben, denn sie verhängen keine Strafe. Kein Bruder hat ein Strafrecht über den andern“, ist eines der höchsten Gebote des Solidarismus.
Auch das andere Gebot der Barmherzigkeit: Laßt uns vergeben unsern Schuldigen“, schreibt der Solidarismus vor; denn der Bruder, welcher durch eigene Schuld seine Rechte verlor, ist nicht ausgestoßen; er wird, wenn er seine Brüderpflicht erfüllt, jederzeit in die Brüdergemeinde mit offenen Armen wieder aufgenommen.
Und das höchste Gebot des Christentums: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“, ist es nicht auch das höchste Gebot des Solidarismus, welcher im Kapitel der Brüderpflichten also beginnt:
Die allgemeinste und vornehmste Pflicht der Brüder
ist das Wirken des einzelnen für die Gesamtheit“;
ist dieses Wirken für die Gesamtheit, dieses fortwährende Abtreten eines Teiles der Arbeit an die Gesamtheit der Brüder nicht eine tägliche, stündliche Betätigung der Nächstenliebe, ein ununterbrochenes Umsetzen des Gebotes in die Tat? Ist es nicht eine unausgesetzte Ausübung des Wortes: Alles nun, das ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen, das ist das Gesetz?“
Alles was die Kirche lehrt, ist durch den Solidarismus in das wirtschaftliche Leben übertragen. Unternimmt es die Kirche, auch die wirtschaftlichen Interessen der Enterbten zu unterstützen und zu heben, für dieselben auf dieser Erde schon ein gewisses Maß von Glück und Befriedigung und Freude am Leben zu schaffen, dann werden die Enterbten auch aufnahmefähiger für ihre ethischen Fragen und ihre rein geistigen Lehren; wenn die Menge erfaßt, daß Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Liebe keine leeren Worte sind, sondern praktische Folgen für ihr irdisches Dasein haben, dann wird sie dieselben erst verstehen lernen, selbst üben und begreifen, daß das Wirken für andere, für die Gesamtheit, daß die Liebe die Grundlage zur Lösung aller materiellen und ethischen Probleme ist, welche die Menschheit bewegen.
Darum, Kirche, unterstütze den Solidarismus; er ist dein mächtigster Verbündeter; durch ihn allein kannst du deine Lehren in Einklang bringen mit den Anforderungen und Bedürfnissen moderner Kultur! [67]
Schlußwort zu diesem Kapitel.
Brüder! So zeigt sich denn das wundervolle Ergebnis, daß nicht etwa bloß die Mühseligen und Beladenen“, die Enterbten“ ein Interesse am Zustandekommen des Solidarismus haben, sondern alle Berufe, alle Stände, alle Parteien, alle Ordnungen der menschlichen Tätigkeit bis hinauf zu Kirche und Staat! Niemand hat daraus Nachteile, alle aber haben Vorteile! Wo der Solidarismus bestehende Einrichtungen ändert, gibt er dafür sofort bessere, vorteilhaftere, höhere. Die Richtigkeit und Kraft des einfachen Gedankens zeigt sich darin, daß er immer richtig bleibt, auf welches Gebiet er auch übertragen werden mag: Was der Gesamtheit nützt, muß auch dem einzelnen nützen, denn der einzelne ist ein Teil der Gesamtheit. Nicht das Wohl des Arbeiterstandes, des Mittelstandes, dieser oder jener Gruppe, dieser oder jener Partei, nein, das Gesamtwohl allein, das Wohl aller ohne Ausnahme ist es, das ihn leitet; nur das führt zu Gerechtigkeit und Liebe, alles andere zu Haß, Zwist, Kampf und Vernichtung. Tut er das aber, so ist er berufen das Volk zufrieden, das Vaterland groß und mächtig zu machen!
Darum wirkt alle mit am Solidarismus! Wie ihr auch im einzelnen darüber denken mögt, wie groß oder klein im einzelnen euer Interesse daran sein mag, eines leuchtet doch euch allen ein: der ideale Zweck der Bewegung: für jeden einzelnen muß es eine Freude, ein inneres Bedürfnis sein, mitzuwirken am größten Fortschritt unserer Zeit!
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1) Siehe Anhang 1, Seite 71.
2) Siehe Anhang 1, Seite 71.
3) Siehe Anhang 6, Seite 78.
4) Vorbilder dazu sind schon vorhanden bei einigen englischen Genossenschaften, welche ganze Stadtanleihen übernommen haben.
5) Siehe Anhang 1, Seite 71, und Anhang 6, Seite 78.
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