Hermann Broch
1886 - 1951
Der Tod des Vergil
1945
|
|
______________________________________________________________________________
|
|
Wasser – Die Ankunft
Stahlblau und leicht, bewegt von einem leisen, kaum merklichen Gegenwind, waren die Wellen des Adriatischen Meeres dem kaiserlichen Geschwader entgegengeströmt, als dieses, die mählich anrückenden Flachhügel der kalabrischen Küste zur Linken, dem Hafen Brundisium zusteuerte, und jetzt, da die sonnige, dennoch so todesahnende Einsamkeit der See sich ins friedvoll Freudige menschlicher Tätigkeit wandelte, da die Fluten, sanft überglänzt von der Nähe menschlichen Seins und Hausens, sich mit vielerlei Schiffen bevölkerten, mit solchen, die gleicherweise dem Hafen zustrebten, mit solchen, die aus ihm ausgelaufen waren, jetzt, da die braunsegeligen Fischerboote bereits überall die kleinen Schutzmolen all der vielen Dörfer und Ansiedlungen längs der weißbespülten Ufer verließen, um zum abendlichen Fang auszuziehen, da war das Wasser beinahe spiegelglatt geworden; perlmuttern war darüber die Muschel des Himmels geöffnet, es wurde Abend, und man roch das Holzfeuer der Herdstätten, sooft die Töne des Lebens, ein Hämmern oder ein Ruf von dort hergeweht und herangetragen wurden.Von den sieben hochbordigen Fahrzeugen, die in entwickelter Kiellinie einander folgten, gehörten bloß das erste und das letzte, beides schlanke, rammspornige Penteren, der Kriegsflotte an; die übrigen fünf, schwerfälliger und imposanter, zehnruderreihig, zwölfruderreihig, waren von der prunkvollen Bauart, die der augusteischen Hofhaltung ziemte, und das mittlere, prächtigste, goldglänzend sein bronzebeschlagener Bug, goldglänzend die ringtragenden Löwenköpfe unter der Reling, buntbewimpelt die Wanten, trug unter Purpursegeln feierlich und groß das Zelt des Cäsars. Doch auf dem unmittelbar hinterdrein folgenden Schiffe befand sich der Dichter der Äneis, und das Zeichen des Todes stand auf seine Stirne geschrieben.Der Seekrankheit ausgeliefert, von ihrem ständig drohenden Ausbruch in Spannung gehalten, hatte er den ganzen Tag hindurch nicht gewagt sich zu rühren, indes, wenn auch gefesselt an sein Lager, das mittschiffs für ihn aufgeschlagen war, er fühlte nunmehr sich, oder richtiger seinen Körper und sein körperliches Leben, das er schon seit vielen Jahren kaum mehr als sein eigenes anzuerkennen vermochte, wie ein einziges nachtastendes, nachkostendes Erinnern an die Entspannung, von der er mit einem Male durchflutet gewesen, als die stillere Küstenzone erreicht worden war, und diese flutende, beruhigt beruhigende Müdigkeit wäre vielleicht eine geradezu vollkommene Beglückung geworden, hätte sich nicht, ungeachtet der heilsam kräftigen Meeresluft, neuerdings der plagende Husten eingestellt, die Erschlaffung durch das allabendliche Fieber, die allabendliche Beängstigung. So lag er da, er, der Dichter der Äneis, er, Publius Vergilius Maro, er lag da mit herabgemindertem Bewußtsein, beinahe beschämt ob seiner Hilflosigkeit, beinahe erbost ob solchen Schicksals, und er starrte in das perlmutterne Rund der Himmelsschale: warum nur hatte er dem Drängen des Augustus nachgegeben? Warum nur hatte er Athen verlassen? hingeschwunden war nun die Hoffnung, es werde der heilig heitere Himmel Homers hold die Fertigstellung der Äneis begünstigen, hingeschwunden jegliche Hoffnung auf das unermeßlich Neue, das hernach hätte anheben sollen, die Hoffnung auf ein kunstabgewandtes, dichtungsfreies Leben der Philosophie und der Wissenschaft in der Stadt Platons, hingeschwunden die Hoffnung, das ionische Land je noch betreten zu dürfen, oh, hingeschwunden war die Hoffnung auf das Wunder der Erkenntnis und auf die Heilung in der Erkenntnis. Warum hatte er darauf verzichtet? Freiwillig? Nein! es war wie ein Befehl der unabweislichen Lebensgewalten gewesen, jener unabweislichen Schicksalsgewalten, die niemals völlig verschwinden, mögen sie auch zeitweise ins Unterirdische, Unsichtbare, Unerlauschbare tauchen, dennoch ungebrochen gegenwärtig als unerforschliche Drohung der Mächte, denen man sich niemals entziehen kann, denen man sich stets zu unterwerfen hat; es war das Schicksal. Er hatte sich vom Schicksal treiben lassen, und das Schicksal trieb ihn dem Ende zu. War dies nicht stets die Form seines Lebens gewesen? hatte er jemals anders gelebt? hatte ihm die perlmutterne Schale des Himmels, hatte ihm das lenzlicheMeer, hatte ihm das Singen der Berge und das, was schmerzend in der Brust ihm sang, hatte der Flötenton des Gottes ihm je etwas anderes bedeutet als ein Geschehnis, das wie ein Gefäß der Sphären ihn bald aufnehmen sollte, um ihn ins Unendliche zu tragen? Ein Landmann war er von Geburt, einer, der den Frieden des irdischen Seins liebt, einer, dem ein schlichtes und gefestigtes Leben in der ländlichen Gemeinschaft getaugt hätte, einer, dem. es seiner Abstammung nach beschieden gewesen wäre, bleiben zu dürfen, bleiben zu müssen, und den es, einem höheren Schicksal gemäß, von der Heimat nicht losgelassen, dennoch nicht in ihr belassen hatte; es hatte ihn hinausgetrieben, hinaus aus. der Gemeinschaft, hinein in die nackteste, böseste, wildeste Einsamkeit des Menschengewühles, es hatte ihn weggejagt von der Einfachheit seines Ursprunges, gejagt ins Weite zu immer größer werdender Vielfalt, und wenn hierdurch irgend etwas größer oder weiter geworden war, so war es lediglich der Abstand vom eigentlichen Leben, denn wahrlich, der allein war gewachsen: bloß am Rande seiner Felder war er geschritten, bloß am Rande seines Lebens hatte er gelebt; er war zu einem Ruhelosen geworden, den Tod fliehend, den Tod suchend, das Werk suchend, das Werk fliehend, ein Liebender und dabei doch ein Gehetzter, ein Irrender durch die Leidenschaften des Innen und Außen, ein Gast seines Lebens. Und heute, fast am Ende seiner Kräfte, am Ende seiner Flucht, am Ende seiner Suche, da er sich durchgerungen hatte und abschiedsbereit geworden war, durchgerungen zur Bereitschaft und bereit, die letzte Einsamkeit auf sich zu nehmen, den innern Rückweg zu ihr anzutreten, da hatte das Schicksal mit seinen Gewalten sich nochmals seiner bemächtigt, hatte ihm nochmals die Einfachheit und den Ursprung und das Innen verwehrt, hatte den Rückweg ihm wieder abgebogen, verbogen zum Weg in die Vielfalt des Außen, hatte ihn rückgezwungen zu dem Übel, das sein ganzes Leben überschattet hatte, ja es war als hätte das Schicksal nur noch eine einzige Schlichtheit für ihn übrig – die Schlichtheit des Sterbens. Über ihm knarrten die Rahen in den Tauen, dazwischen dröhnte es weich in der Segelleinwand, er hörte das gleitende Schäumen des Kielwassers und den silbernen Guß, der mit jedem Herausheben der Ruder zu sprühen begann, er hörte deren schweres Kreischen in den Dollen und den klatschenden Wasserschnitt ihres Wiedereintauchens, er spürte den weich-gleichmäßigen Vorstoß des Schiffes im Takte der vielhundertfachen Rudermasse, er sah die weißbesäumte Strandlinie vorbeigleiten, und er gedachte der angeketteten stummen Knechtsleiber im stickig-zugigen, stinkenden, donnernden Schiffsrumpf. Der nämliche dumpfdonnernde, silberumsprühte Rucktakt tönte von den beiden Nachbarschiffen herüber, von dem nächsten und übernächsten, einem Echo gleichend, das sich über alle Meere hin fortsetzte und von allen Meeren her beantwortet wurde, denn überall fuhren sie so, beladen mit Menschen, beladen mit Waffen, beladen mit Korn und Weizen, beladen mit Marmor, mit Öl, mit Wein, mit Spezereien, mit Seide, beladen mit Sklaven, allüberall die Schiffahrt, die tauscht und handelt, unter den vielen Verderbtheiten der Welt eine der ärgsten. Hier freilich wurden nicht Waren, sondern Freßbäuche befördert, die Leute des Hofstaates: das gesamte Hinterschiff bis zum Heck hin war für ihre Ernährung in Anspruch genommen, seit dem frühen Morgen erscholl es dort von Eßgeräuschen, und immer noch umstanden Scharen von Eßlustigen den Gastraum, lauernd, daß daselbst ein Triklinenplatz frei werde, gewärtig, sich im Kampfe mit Nebenbuhlern darauf zu stürzen, gierig, sich endlich selber hinzulegen, um ihrerseits mit dem Tafeln beginnen oder Wiederbeginnen zu dürfen; die Aufwärter, leichtfüßige, elegant herausgeputzte Burschen, nicht wenig Hübschlinge unter ihnen, jetzt jedoch verschwitzt und zerhetzt, kamen nicht zu Atem, und ihr ewig lächelnder Vorsteher, mit dem kalten Blick in den Augenwinkeln und den höflich trinkgeldgeöffneten Händen, trieb sie dahin und dorthin, eilte selber deckauf und deckab, weil neben dem Betriebe des Gelages nicht minder für jene gesorgt werden mußte, welche – wundersam genug – bereits gesättigt schienen und sich nun auf andere Weise vergnügten, manche umherwandelnd, die Hände vor dem Bauch oder hinter dem Gesäße gefaltet, manche hingegen mit weitausholenden Gesten diskutierend, manche auf ihren Ruhebetten schlummernd oder schnarchend, das Gesicht von der Toga bedeckt, manche beim Brettspiel sitzend, sie mußten unaufhörlich umsorgt und umhegt werden, mit kleinen Imbissen, welche die Decks entlang auf großen Silberplatten herumgereicht und ihnen angeboten wurden, bedacht auf einen Hunger, der sich jeden Augenblick frisch anmelden konnte, bedacht auf eine Freßgier, deren Ausdruck ihnen allen, den Wohlgenährten ebensosehr wie den Hageren, den Langsamen wie den Behenden, den Wandelnden wie den Sitzenden, den Wachenden wie den Schlafenden unverlöschbar und unverkennbar ins Gesicht eingezeichnet war, mitunter eingemeißelt, mitunter eingeknetet, scharf oder weich, bösartiger oder gutmütiger, wölfisch, füchsig, katzig, papageiig, pferdig, haiig, immer aber einem gräßlichen, irgendwie in sich beschlossenen Genüsse zugekehrt, süchtig nach einem unstillbaren Haben, süchtig nach einem Schachern um Waren, Geld, Stellen und Ehren, süchtig nach der geschäftigen Untätigkeit des Besitzes. Überall gab es einen, der etwas in den Mund steckte, überall schwelte Begehrlichkeit, schwelte Habsucht, wurzellos, schlingbereit, allesverschlingend, ihr Brodem flackerte über das Deck hin, wurde im Rucktakte der Ruder mitbefördert, unentrinnbar, unabstellbar: das ganze Schiff war von Gier umflackert. Oh, sie verdienten es, einmal richtig dargestellt zu werden! Ein Gesang der Gier müßte ihnen gewidmet werden! Doch was sollte dies schon nützen?! nichts vermag der Dichter, keinem Übel vermag er abzuhelfen; er wird nur dann gehört, wenn er die Welt verherrlicht, nicht jedoch, wenn er sie darstellt, wie sie ist. Bloß die Lüge ist Ruhm, nicht die Erkenntnis! Und wäre es da denkbar, daß der Äneis eine andere, eine bessere Wirkung vergönnt sein sollte? Ach, man wird sie preisen, weil noch alles, was er geschrieben hatte, gepriesen worden war, weil auch aus ihr lediglich das Genehme heraus gelesen werden wird, und weil weder die Gefahr noch die Aussicht bestand, daß Mahnungen gehört werden könnten; ach, es war ihm verwehrt, sich etwas vorzutäuschen oder Vortäuschen zu lassen, nur allzugut kannte er dieses Publikum, dem die schwere, die erkenntniserleidende und eigentliche Arbeit des Dichters genau so wenig Beachtung abringt wie die bitterniserfüllte, bitterschwere der Ruderknechte, dem die eine wie die andere genau das nämliche gilt: ein gebührender Tribut für den Nutznießer, als Tributgenuß empfangen und hingenommen! Dabei waren es keineswegs nur Schmarotzer, die da um ihn herumfaulenzten und schmatzten, mochte auch der Augustus so manche dieser Art in seiner Umgebung dulden müssen, nein, viele von ihnen hatten schon allerlei Verdienstliches und Ersprießliches geleistet, aber von dem, was sie sonst waren, hatten sie mit einer geradezu genießerischen Selbstentblößung während der Reiseuntätigkeit das meiste abgestreift, und ungebrochen war ihnen bloß ihr blinder Hochmut in dämmerhafter Gier, in giererfülltem Dahindämmern geblieben. Unten, in der Dämmerhaftigkeit des Unten, da arbeitete Schub um Schub, großartig, wild, viehisch, untermenschlich, die gebändigte Rudermasse. Die dort unten verstanden ihn nicht und kümmerten sich nicht um ihn, die hier oben behaupteten, daß sie ihn verehrten, ja, sie glaubten es sogar, indes, wie immer dem auch war, gleichgültig ob sie aus geschmäcklicher Verlogenheit seine Werke zu lieben vermeinten, oder ob sie, nicht minder verlogen, ihm als Freund des Cäsars ihre Ergebenheit bekundeten, er, Publius Vergilius Maro, er hatte nichts mit ihnen gemein, obschon das Schicksal ihn in ihren Kreis getrieben hatte, sie ekelten ihn an, und hätte nicht, den Sonnenuntergang vorbegrüßend, die Küstenbrise zu wehen begonnen, hätte sie nicht den Stank des Gelages und der Küche vom Schiffe weggeblasen, es hätte die Seekrankheit ihn neuerlich angefallen. Er vergewisserte sich, daß der Koffer mit dem Manuskript der Äneis unberührt neben ihm stand, und in das tiefsinkende westliche Gestirn blinzelnd, zog er den Mantel bis unters Kinn; er fror.Von Zeit zu Zeit lüstete es ihn, sich doch nach der lärmenden Menschenhorde da hinten umzuwenden, beinah neugierig, was sie noch alles treiben würden; allein, er tat es nicht, und es war besser, es nicht zu tun, ja es deuchte ihm mehr und mehr, daß solche Umwendung geradezu verboten wäre.So lag er ruhig. Die erste Vordämmerung überspannte klar den Himmel, überspannte zart die Welt, als man bei Brundisiums schmaler, flußartiger Einfahrt anlangte; kühler, doch auch milder war es geworden, der Salzhauch mischte sich mit der satteren Luft des Landes, in dessen Kanal die Schiffe, eines nach dem andern die Fahrgeschwindigkeit verlangsamend, nun eindrangen. Eisengrau, bleifarben wurde das poseidonische Element, von keiner Welle mehr gekräuselt. Auf den Zinnen der Kastelle links und rechts des Kanales waren dem Cäsar zu Ehren Truppen der Besatzung aufgestellt, vielleicht auch als erster Geburtstagsgruß, denn zum Wiegenfeste kehrte der Octavianus Augustus heim; in zwei Tagen, ja wahrhaftig, schon am übernächsten Tage sollte es in Rom gefeiert werden, und dreiundvierzig Jahre wurde nun der Octavian, der dort vorne fuhr. Rauhkehlig flogen die Heilrufe der Mannschaften von den Ufern auf, die Fahnenträger an den Flügeln der Manipeln stießen zu den Rufen knapp und gedrillt das rote Vexillum hoch, um es hernach vor dem Herrscher zu senken, schräg die Stange gegen den Boden gehalten, kurzum, was hier stattfand, war die kräftig nüchterne Begrüßungsveranstaltung, wie sie das Militärreglement vorschrieb, reglement-richtig in ihrer soldatischen Rauhheit, und sie war trotz alledem merkwürdig sanft, merkwürdig abendhaft; fast hätte man es als verträumt bezeichnen können, so sehr und so überaus klein verflatterten die Rufe in der Größe des Lichtes, so sehr und so überaus herbstlich verwelkte das Fahnenrot, überschattet von dem zum Grau abglühenden Firmamente. Größer als die Erde ist das Licht, größer als der Mensch ist die Erde, und nimmermehr vermag der Mensch zu bestehen, insolange er nicht heimatwärts atmet, heimkehrend zur Erde, irdisch heimkehrend zum Lichte, auf der Erde irdisch das Licht empfangend, nur durch sie vom Lichte empfangen, Erde, die zum Lichte wird. Und niemals ist die Erde von innigerer Lichtnähe, das Licht von vertrauterer Erdnähe als in der anhebenden Dämmerung der beiden Nachtgrenzen. Noch schlummerte die Nacht in den Tiefen der Gewässer, aber mit winzig lautlosen Wellen begann sie emporzusickern, überall im Spiegel des Meeres, ununterscheidbar das Oben und Unten, tauchten die sammetstummen Wellen des Nachthintergrundes auf, die Wellen der zweiten Unendlichkeit, der gebärend sprießenden Überunendlichkeit, und sachte begannen sie das Glitzernde mit Stille zu überhauchen. Das Licht kam nicht mehr von oben, es hing in sich selber, und in sich selber hängend leuchtete es zwar noch, aber es beleuchtete nichts mehr, so daß auch die Landschaft, über der es hing, auf ein seltsames Eigenlicht beschränkt schien. Grillengezirpe, myriadenhaft, dennoch in einem einzigen anhaltenden Ton, durchdringend, dennoch still vor Gleichmäßigkeit, weder anschwellend noch abschwellend, erfüllte mit seinem Schwirren das dämmernde Land; endlos. Unterhalb der Befestigungen, herab bis zum steinigen Ufer, waren die Hänge mit spärlichem Gras bewachsen, und so karg dieses auch war, das Sprießende war Frieden, war Nacht stille, war Wurzeldunkelheit, war Dunkel der Erde, aus gebreitet unter dem scheidenden Licht. Dann wurde der Bestand zusammenhängender und pflanzenreicher, voller in der Farbe, und sehr bald war auch Buschwerk darein eingesprengt, während auf den Hügelkuppen, droben zwischen bäuerlichen Steinwallgevierten, sich die ersten Ölbäume zeigten, grau wie das hauchdünne Nebelgestrahle der dichter werdenden Dämmerung. Oh, unbändig wurde da der Wunsch, die Hand nach diesen, ach so sehr entfernten Ufern auszustrecken, in die Dunkelheit der Gebüsche zu greifen, das erdentsprossene Laub zwischen den Fingern zu spüren, es festzuhalten für immerdar –, der Wunsch zuckte in seinen Händen, zuckte in den Fingern vor unzügelbarem Begehren nach dem grünen Blattwerk, nach den geschmeidigen Blattstengeln, nach den scharf-milden Blattränderri, nach dem harten lebendigen Blattfleisch, er spürte es sehnend, wenn er die Augen schloß, und es war eine geradezu sinnliche Sehnsucht, sinnlich einfältig und zupackend wie die männliche Grobknochigkeit seiner Bauernfaust, sinnlich auskostend und empfindungsreich wie deren schmalfesselige, beinahe weibliche Feinnervigkeit; oh, Gras, oh, Laub, oh, Rindenglätte und Rindenrauheit, Lebendigkeit des Sprießens, vielfältige, in sich verzweigte und körperlich gewordene Erddunkelheit! oh, Hand, fühlende, tastende, aufnehmende, einschließende Hand, oh, Finger und Fingerspitze, rauh und zart und weich, lebendige Haut, oberste Oberfläche der Seelendunkelheit, aufgeschlossen in den erhobenen Händen! Stets hatte er dieses seltsame, beinahe vulkanische Pulsieren in seinen Händen gespürt, stets hatte ihn Ahnung um ein seltsames Eigenleben seiner Hände begleitet, eine Ahnung, der es ein für allemal verboten war, die Schwelle des Wissens zu überschreiten, gleichsam als lauerte trübe Gefahr in solchem Wissen, und wenn er seiner Gewohnheit gemäß, wie er es auch jetzt tat, an dem Siegelring drehte, der feingearbeitet und fast ein wenig unmännlich ob solcher Feinarbeit auf dem Finger seiner Rechten saß, so war es als könnte er damit jene trübe Gefahr bannen, als könnte er damit die Sehnsucht der Hände beschwichtigen, als könnte er sie damit zu einer Art Selbstzügelung bringen, abdämpfend ihre Angst, die sehnsüchtige Angst von Bauemhänden, die nie mehr den Pflug, nie mehr das Saatgut fassen durften und daher das Unfaßbare zu fassen gelernt hatten, die ahnende Angst von Händen, deren Formwillen, beraubt der Erde, nichts geblieben war als ihr Eigenleben, im unerfaßlichen All, gefährdet und gefährdend, so tief ins Nichts greifend und von seiner Gefährlichkeit ergriffen, daß die Angstahnung, gewissermaßen über sich selber gehoben, zu einem übermächtigen Bemühen wurde, zum Bemühen, die Einheit des menschlichen Lebens festzuhalten, die Einheit menschlicher Sehnsucht zu bewahren, um solcherweise ihren Zerfall in eine Vielfalt einzelhaft sehnsuchtskleiner und kleinsehnsüchtiger Teilleben zu verhüten, denn unzureichend ist die Sehnsucht der Hände, unzureichend ist die Sehnsucht des Auges, unzureichend ist die Sehnsucht des Hörens, denn zureichend allein ist die Sehnsucht des Herzens und des Denkens in ihrer Gemeinsamkeit, die sehnsüchtige Ganzheit des unendlichen Innen und Außen, schauend, lauschend, erfassend, atmend in doppelveratmeter Einheit, denn ihr allein ist es vergönnt, die trüb hoffnungslose Blindheit angstvoller Vereinzelung zu überwinden, allein in ihr begibt sich die zweifache Entfaltung aus den Erkenntniswurzeln des Seins, und dies ahnte er, dies hatte er stets geahnt – oh, Sehnsucht desjenigen, der immer nur Gast ist, immer nur Gast sein darf, oh, Sehnsucht des Menschen –, dies war sein ahnendes Lauschen, sein ahnendes Atmen, sein ahnendes Denken stets gewesen, einverlauscht, einveratmet, eingedacht in das flutende Licht des Alls, in das unerreichbare Wissen um das All, in die niemals vollendbare Annäherung an des Alls Unendlichkeit, unerreichbar sogar ihr äußerster Saum, so daß die sehnsüchtig begehrende Hand nicht einmal an diesen zu rühren wagt. Doch Annäherung war es trotzdem, Annäherung blieb es, und atmendes, wartendes Lauschen blieb sein Denken, lauschend in den zwiefachen Abgrund der poseidonischen und vulkanischen Sphären, vereinigt sie beide, weil sie gemeinsam von Jupiters Himmel überwölbt sind. Aufgetan und gleitend war das Dämmerlicht, war das Atembare, so gleitend wie das Flutende, in das die Kiele tauchten, flüssiges Bad des Innen und Außen, flüssiges Bad der Seele, das Atembare fließend aus dem Diesseitigen ins Jenseitige, aus dem Jenseitigen ins Diesseitige, enthüllte Pforte des Wissens, nimmermehr dieses selber, dennoch schon Wissensahnung, Ahnung um den Eingang, Ahnung um den Weg, dämmernde Ahnung dämmerhafter Fahrt. Vorne am Bug sang ein Musikantensklave; vermutlich hatte die dort versammelte Gesellschaft, deren Lärm von der Stille des Abends aufgesogen war, den Knaben zu sich beschieden, heimkehrahnend selbst sie, und nach einer kurzen Pause für das Stimmen der Leier sowie nach einem kurzen, kunstgerechten Zuwarten war es aufgeklungen, wurde es herbeigeweht, das namenlose Lied des namenlosen Knaben, mild strahlend das Lied, hauchschwebend wie die Farben eines Regenbogens im Nachthimmel, mild strahlend das Saitenspiel, elfenbeinzart, Menschenwerk das Lied, Menschenwerk das Saitenspiel, aber über den menschlichen Ursprung hinaus menschenentfernt, menschenentlöst, leidenentlöst, Sphärenluft, die sich selber singt. Es wurde dunkler, die Gesichter wurden undeutlicher, die Ufer verblaßten, das Schiff wurde undeutlicher, lediglich die Stimme blieb, sie wurde klarer und beherrschender, als wollte sie das Schiff und den Takt seiner Ruder lenken, vergessen der Ursprung der Stimme und trotzdem lenkende Stimme eines Sklavenknaben ; wegweisend war das Lied, ruhend in sich selbst und eben darum wegweisend, eben darum ewigkeitsgeöffnet, denn nur das Ruhende ist zur Wegweisung imstande, nur das Einmalige, das aus dem Fluß der Dinge herausgegriffen, nein, herausgerettet ist, öffnet sich zur Unendlichkeit, nur das Festgehaltene – ach, war ihm selber jemals solch wahrhaft wegweisende Festhaltung gelungen?- nur das wahrhaft Festgehaltene, und sei es nur ein einziger Augenblick aus dem Meere der Jahrmillionen, wird zur zeitlosen Dauer, wird zum richtunggebenden Gesang, wird Führerschaft; oh, ein einziger Lebensaugenblick, geweitet zur Ganzheit, geweitet zum Kreise des Ganzheiterkennens, unendlichkeitsgeöffnet; hoch über dem strahlenden Liede, hoch über der strahlenden Dämmerung atmete der Himmel, dessen klarherbe Herbstessüße seit Jahrhunderttausenden sich unverändert wiederholt hatte und noch Jahrhunderttausende unverändert sich wiederholen wird, einmalig trotzdem in seinem Hier und Jetzt, und seiner Kuppel heller Seidenglanz war von der Stille der anbrechenden Nacht überhaucht.Das Lied führte, allerdings nicht mehr sehr lange; die Fahrt zwischen den Ufern des Eingangskanals war bald zu Ende, und das Lied erlosch in der allgemeinen Unruhe, die sich an Bord entwickelte, als sich die innere Hafenbucht auftat, schwarzglänzend schon ihr bleierner Spiegel, und die im Fächerhalbkreis um das Becken gelagerte Stadt mit ihrer Lichtermenge, im Dämmernebel sternhimmelgleich schimmernd, sichtbar wurde. Jäh war es warm geworden. Das Geschwader hielt an, um das Schiff des Cäsars an die Spitze zu lassen, und nun – auch dieses Geschehen unter der weichen Unabänderlichkeit des Herbsthimmels hätte als unendliche Einmaligkeit festgehalten werden müssen – begann ein vorsichtiges Manövrieren, um ohne Fährlichkeit zwischen den allseits verankerten Booten, Seglern, Fischkuttern, Tartanen und Transportschiffen sich hindurchzulotsen; je weiter man kam, desto schmäler wurde die freie Fahrrinne, desto gedrängter die Masse der Schiffsleiber ringsum, desto dichter das Gewirr der Maste und der Taue und der gerefften Segel, tot in ihrer Starrheit, lebendig in ihrer Ruhe, ein sonderbar finsteres, verkreuztes und verworrenes Wurzel werk, das düster aus der glänzenden ölig-dunklen Wasserfläche emporwuchs zu des Himmels unbewegter Abendhelle, ein schwarzes Spinnengewebe aus Holz und Hanf, gespenstisch sich in den Wassern unten spiegelnd, gespenstisch oben durchzuckt von dem wilden Geflacker der zum Willkomm allerwärts auf den Verdecken johlend geschwungenen Fackeln, gespenstisch durchleuchtet von dem Lichterprunk auf dem Hafenplatze: in der Reihe der Hafenhäuser war Fenster um Fenster erleuchtet, bis hinauf zu den Dachgeschossen, erleuchtet war eine Osteria neben der andern unter den Kolonnaden, quer über den Platz zog sich ein fackeltragendes Doppelspalier von Soldaten, funkelnd die Helme, Mann an Mann, welche offenbar den Weg von der Landungsstelle in die Stadt freizuhalten hatten, fackelbeleuchtet waren die Zollschuppen und Zollämter an den Molen, es war ein funkelnder Riesenraum, vollgestopft mit Menschenleibern, ein funkelnder Riesenbehälter für ein ebenso gewaltiges wie gewalttätiges Warten, erfüllt von einem Rauschen, das Hunderttausende von Füßen schleifend, schlurfend, tretend, scharrend auf dem Steinpflaster erzeugten, eine brodelnde Riesenarena, erfüllt von einem auf- und abschwellenden schwarzen Summen, von einem Tosen der Ungeduld, das aber plötzlich verstummte und in Spannung erstarrte, als das Kaiserschiff, nur noch von einem Dutzend Ruder getrieben, mit sanfter Wendung den Kai erreichte und an der vorbestimmten Stelle – dort erwartet von den Stadtwürdenträgern in der Mitte des militärischen Fackelkarrees – beinahe lautlos anlegte; da freilich war der Augenblick gekommen, den das dumpf brütende Massentier erwartet hatte, um sein Jubelgeheul ausstoßen zu können, und da brach es los, ohne Pause und ohne Ende, sieghaft, erschütternd, ungezügelt, furchteinflößend, großartig, geduckt, sich selbst anbetend in der Person des Einen.Dies also war die Masse, für die der Cäsar lebte, fiir die das Imperium geschaffen worden war, für die Gallien hatte erobert werden müssen, für die das Partherreich besiegt, Germanien bekämpft wurde, dies war die Masse, für die des Augustus großer Frieden geschaffen wurde und die für solches Friedens werk wieder zu staatlicher Zucht und Ordnung gebracht werden sollte, zum Glauben an die Götter und zur göttlich-menschlichen Sittlichkeit. Und dies war die Masse, ohne die keine Politik betrieben werden konnte und auf die auch der Augustus sich stützen mußte, soferne er sich zu behaupten wünschte; und natürlich hatte der Augustus keinen andern Wunsch. Ja, und dies war das Volk, das römische Volk, dessen Geist und dessen Ehre er, Publius Vergilius Maro, er, ein echter Bauernsohn aus Andes bei Mantua, zwar nicht geschildert, wohl aber zu verherrlichen versucht hatte! Verherrlicht und nicht geschildert, das war der Fehler gewesen, oh, und dies hier waren die Italer der Äneis! Unheil, ein Schwall von Unheil, ein ungeheurer Schwall unsäglichen, unaussprechbaren, unerfaßlichen Unheils brodelte in dem Behälter des Platzes, fünfzigtausend, hunderttausend Münder brüllten das Unheil aus sich heraus, brüllten es einander zu, ohne es zu hören, ohne um das Unheil zu wissen, dennoch gewillt, es in höllischem Gebrüll, in Lärm und Geschrei zu ersticken und zu übertäuben; welch ein Geburtstagsgruß! wußte bloß er allein darum? Steinschwer die Erde, bleischwer die Flut, und hier war der Dämonenkrater des Unheils, aufgerissen von Vulcanus selber, ein Lärmkrater am Rande des poseidonischen Bereiches. Wußte der Augustus nicht, daß dies keine Geburtstagsbegrüßung war, sondern etwas ganz anderes? Ein Gefühl gequältesten Mitleides stieg in ihm auf, eines Mitleides, das ebensowohl dem Octavianus Augustus wie den Menschenmassen hier galt, ebensowohl dem Herrscher wie den Beherrschten, und es war von dem Gefühl einer nicht minder gequälten und eigentlich unerträglichen Verantwortung begleitet, über die er sich kaum Rechenschaft geben konnte, nur noch gerade wissend, daß sie mit einer Last, wie sie der Cäsar auf sich genommen hatte, wenig Ähnlichkeit aufwies, vielmehr eine Verantwortung ganz anderer Art war, denn unerreichbar jeder staatlichen Maßnahme, unerreichbar jeder noch so großen irdischen Gewalt, vielleicht sogar den Göttern unerreichbar. war dieses dämmerig brodelnde, unbekannt geheimnisvolle Unheil, und keinerlei Massengeschrei vermochte es zu übertäuben, eher noch die schwache Seelenstimme, welche Gesang heißt und mit des Unheils Ahnung doch auch schon das erweckende Heil verkündet, erkenntnisahnend, erkenntnisträchtig, erkenntnisweisend jedes wahre Lied. Die Verantwortung des Sängers, seine Erkenntnis Verantwortung, die zu tragen, und zu erfüllen er trotzdem für ewig unfähig bleibt –, oh, warum war es ihm nicht erlaubt gewesen, über die Ahnung hinaus vorzudringen hin zum echten Wissen, von dem allein das Heil zu erwarten sein wird?! Warum hatte ihn das Schicksal gezwungen, hierher zurückzukehren?! Hier war nichts als Tod, nichts als Tod und Abertod! Mit entsetzensvoll geöffneten Augen hatte er sich halb aufgerichtet, jetzt fiel er auf das Lager zurück, übermannt von Grauen, von Mitleid, von Jammer, von Verantwortungswillen, von Hilflosigkeit, von Schwäche; nicht Haß war es, was er gegen die Masse empfand, nicht einmal Verachtung, nicht einmal Abneigung, sowenig wie eh und je wollte er sich vom Volke absondern oder gar sich über das Volk erheben, aber es war etwas Neues in Erscheinung getreten, etwas, das er bei all seiner Berührung mit dem Volke niemals hatte zur Kenntnis nehmen wollen, obwohl überall, wo er gewesen, gleichgültig ob in Neapel oder in Rom oder in Athen, mehr als genug Gelegenheit hierzu gegeben war, und das sich nun hier in Brundisium überraschend aufdrängte, nämlich des Volkes Unheilsabgrün-digkeit in ihrem ganzen Umfang, des Menschen Absinken zum Großstadtpöbel und damit die Verkehrung des Menschen ins Gegenmenschliche, bewirkt durch die Aushöhlung des Seins, durch des Seins Verwandlung zum bloßen Gierleben der Oberfläche, verlustig seines Wurzelursprunges und von diesem abgeschnitten, so daß nichts anderes mehr als das gefährlich abgelöste Eigenleben eines trüben schieren Außen vorhanden bleibt, unheilschwanger, todesschwanger, oh, schwanger eines geheimnisvoll höllischen Endes. War es dies, was das Schicksal ihn hatte lehren wollen, da er zurückgezwungen worden war in die Vielfalt, zurück in den Kessel grausam aufgewühlter Diesseitigkeit? war dies die Rache für seine frühere Blindheit? niemals hatte er das Massenunheil in solcher Unmittelbarkeit erfahren; jetzt war er gezwungen, es zu sehen, es zu hören, bis in die letzten Wurzelgründe seines eigenen Seins zu erfahren, denn die Blindheit ist selber ein Teil des Unheils. Wieder und immer wieder erscholl das unfrohe Jubel gebrüll der Selbstbetäubung; Fackeln wurden geschwungen, Befehle durchhallten das Schiff, dumpf flog ein vom Lande her geschleudertes Tau auf die Deckplanken, und das Unheil lärmte, und die Qual lärmte, und der Tod lärmte, es lärmte das unheilsträchtige Geheimnis, unentdeckbar, dennoch unverhüllt überall gegenwärtig. Inmitten des Getrappels vieler eiliger Füße lag er still, seine Hand hielt den einen Henkel des ledernen Manuskriptkoffers fest umklammert, damit ihm dieser nicht etwa entrissen werde, doch müde des Lärmes, müde des Fiebers wie des Hustens, müde der Reise, müde des Kommenden, stellte er sich vor, daß diese Ankunftsstunde leichtlich auch zu seiner Sterbestunde werden könnte, und fast war es ein Wunsch, obwohl oder weil er genau spürte, daß die Zeit hierfür noch nicht gekommen war, ja, fast war es Wunsch, obwohl oder weil es ein verwunderlich verwildertes, verwunderlich lärmendes Sterben gewesen wäre, es erschien ihm nicht unannehmbar und eben fast wünschenswert, denn gezwungen in die Feuerhölle zu schauen, gezwungen sie zu hören, wurde sein Herz zum Wissen um das unterweltlich Schwelende des Untermenschlichen gezwungen.Nun, so verlockend es gewesen wäre, sich schwindenden Sinnes davontragen zu lassen, um sich so dem Gelärm zu entziehen, sich dem Gejohle der Menge zu verschließen, dem vulkanischen und unterirdischen, das ohne Unterlaß, als wollte es nimmer enden, trägwellig über den Platz herflutete, es war solche Flucht verboten, geschweige denn daß sie bis ins Sterben führen durfte, denn überstark war das Geheiß, jedes kleinste Teilchen der Zeit, jedes kleinste Teilchen des Geschehens festzuhalten und der Erinnerung einzuverleiben, als könnte es mit dieser durch alle Tode hindurch für alle Zeiten auf bewahrt werden; er klammerte sich an das Bewußtsein, er klammerte sich daran mit der Kraft desjenigen, der das Bedeutsamste seines irdischen Lebens nahen fühlt und voller Angst ist, daß er es versäumen könnte, und das Bewußtsein, wachgehalten von der wachen Angst, gehorchte seinem Willen: nichts entging ihm, weder die vorsorglichen Gesten und der leere Zuspruch des glattgesichtig-jungen, überaus geschniegelten Hilfsarztes, der auf Befehl des Augustus nun an seiner Seite war, noch die stur befremdeten Gesichter der Träger, die eine Sänfte an Bord gebracht hatten, um ihn, den Kranken und Kraftlosen, wie eine gebrechliche und vornehme Ware abzuholen; er vermerkte alles, er mußte alles festhalten, er vermerkte den eingekerkerten Blick ihrer Augen, er vermerkte die mürrischen Knurrtöne, mit denen die vier Männer sich verständigten, als sie die Last auf die Schultern hoben, er vermerkte den angriffswilden, bösartigen Schweißgeruch ihrer Körper, aber es entging ihm auch nicht, daß sein Mantel liegengeblieben war und von einem recht kindlich aussehenden, dunkellockigen Knaben, der raschen Zusprunges das Kleidungsstück aufgerafft hatte, ihm nun nachgetragen wurde. Freilich war der Mantel weniger wichtig als der Manuskriptkoffer, dessen beide Träger er knapp neben die Sänfte beordert hatte, indes, ein kleines Stück der Wachsamkeit, zu der er sich, gegen alle eindämmerungssüchtigen Müdigkeitsanwandlungen, verpflichtet fühlte und selbst verpflichtete, konnte auch dem Mantel zugute kommen, und er fragte sich, woher der Knabe, der ihm verwunderlich vertraut und bekannt dünkte, wohl aufgetaucht sein mochte, da er ihm während der ganzen Reise nicht aufgefallen war: es war ein etwas unhübscher, bäuerisch tapsiger Bursche, sicherlich kein Sklave, sicherlich keiner der Aufwärter, und wie er dort, sehr jungenhaft, die hellen Augen in dem bräunlichen Gesicht, an der Reling stand, wartend, weil es überall Stauungen gab, warf er von Zeit zu Zeit verstohlen einen Blick zur Sänfte herauf, sanft und belustigt und schüchtern wegschauend, sobald er sich hierbei beobachtet fühlte. Augenspiel? Liebesspiel? sollte er, ein Kranker, da nochmals in das schmerzliche Spiel töricht lieblichen Lebens hineingezogen werden, er, ein Hingestreckter, nochmals hineingezogen in das Spiel der Aufgerichteten? oh, in ihrer Aufgerichtetheit wissen sie nicht, wie sehr der Tod ihren Augen und ihren Gesichtern einverwoben ist, sie lehnen es ab, dies zu wissen, sie wollen nur das Spiel ihrer Anlockungen und ihres Ineinanderverstrickens weiter spielen, das Spiel ihres Vor-Kusses, töricht-lieblich Auge ins Auge gesenkt, und sie wissen nicht, daß alles Hinliegen zur Liebe stets auch ein Hinliegen zum Tode ist; aber der unabänderlich Hingestreckte weiß darum, und fast schämt er sich, einstmals selber aufgerichtet einhergeschritten zu sein, einstmals selber – wann war es? war es vör unvordenklichen Zeiten, war es erst vor Monaten? – an dem lieblich dämmerigen, lieblich blinden Lebensspiele teilgenommen zu haben, ja, und fast ist ihm die Verachtung, mit der ihn die Spiel verstrickten bedenken, weil er nunmehr ausgeschlossen ist und hilflos daliegt, fast ist sie ihm wie ein Lob. Denn nicht süße Verlockung ist die Wahrheit des Auges, nein, erst mit seinen Tränen wird es sehend, erst im Leide wird es zum sehenden Auge, erst mit seinen eigenen Tränen wird es von denen der Welt erfüllt, wahrheitserfüllt vom Vergessenheits-Naß allen Seins! Oh, erst im Erwachen unter Tränen wird das Diesseits-Sterben, in dem die Spielverstrickten sich befinden und an dem sie hängen, zum todeserschauenden, alles-erschauenden Leben. Und eben darum sollte auch der Knabe – wessen Züge trug er doch? waren es die einer unvordenklichen oder einer jüngsten Vergangenheit? –, ebendarum sollte er lieber den Blick abwenden und nicht ein Spiel fortsetzen wollen, das als Zeitvertreib nicht mehr an der Zeit war; allzu unstimmig war es, daß dieser Blick über die eigene Todesverwobenheit hinwegzulächeln vermochte, allzu unstimmig war es, daß er zu einem Hin gestreckten heraufgesandt wurde, dessen Auge nicht mehr Antwort geben konnte, ach, nicht mehr geben wollte, allzu unstimmig war das Törichte, das Liebliche, das Schmerzliche inmitten einer Lärm- und Feuerhölle, die von blindem Getriebe starrte, menschdurchhetzt, menschheitserschlafft. Drei Brücken waren vom Schiff zum Kai hinüber gelegt worden, die heckseitige den Fahrgästen Vorbehalten, freilich das plötzlich ungeduldig gewordene Gedränge bei weitem nicht aufnehmend, hingegen die zwei anderen für die Waren“ und Gepäckentladung bestimmt, und während die hiezu befohlenen Sklaven in langer Schlangenreihe, oftmals wie Hunde paarweise mit Halsringen und Verbindungsketten aneinandergekoppelt, vielfarbenes Volk entwürdigten Blickes, menschlich noch und doch nicht mehr menschlich, nur noch bewegte und gehetzte Kreatürlichkeit, Gestalten in Hemdfetzen oder halbnackt, schweißglänzend im rohen Fackelscheine, oh, entsetzlich, oh, gräßlich, während sie so auf dem mittleren Stege an Bord liefen, um auf dem bugseitigen das Schiff wieder zu verlassen, den Leib unter der Last der Kisten, Säcke und Koffer nahezu rechtwinklig abgebogen, während all das geschah, schwangen die beaufsichtigenden Schiffsmeister, von denen je einer an den Kopfenden der beiden Planken stand, auf gut Glück die kurze Geißel über die vorbeiziehenden Leiber, ohne Wahl und einfach drauflos, hinschlagend mit der sinnlosen, kaum mehr grausamen Grausamkeit uneingeschränkter Macht, bar jedes eigentlichen Zweckes, da die Leute ohnehin hasteten, was ihre Lungen hergaben, kaum mehr wissend, wie ihnen geschah, ja sich nicht einmal mehr duckten, wenn der Riemen aufklatschte, sondern eher noch dazu grinsten; ein kleiner schwarzer Syrer, den es beim Erreichen des Decks gerade getroffen, stopfte gleichmütig und des Striemens auf seinem Rücken nicht achtend, die Lappen zurecht, die er dem Halsring unterlegt hatte, damit es ihm die Schlüsselbeine möglichst wenig aufscheuere, und er feixte bloß, feixte auf zu der emporgehobenen Sänfte: Komm mal runter, großer König, komm runter, kannst auch mal versuchen, wie's unsereinem schmeckt!“ –, ein nochmaliges Ausholen der Geißel war die Antwort, indes da hatte der Kleine, derselben schon gewärtig, einen flinken Satz getan, die Verbindungskette straffte sich jäh, und der Schlag sauste auf die Achsel des durch den Ruck vorwärts gerissenen Kettengenossen, eines stämmigen, rothaarig filzbärtigen Parthers, der gleichsam erstaunt den Kopf drehte und auf der zugewandten Gesichtshälfte inmitten mißfarbenen Narbengewirres, er war wohl ein Kriegsgefangener, rot und blutig und starrend ein ausgeschossenes, ausgerissenes, ausgestochenes Auge zeigte, starrend und bei aller Blindheit richtig überrascht, denn bevor er noch von der vorwärtsdrängenden, kettenklirrenden Reihe weitergestoßen worden war, hatte es ihm, offenbar weil es schon in einem abging, nochmals um den Kopf gepfiffen und ihm das Ohr mit einem blutigen Schnitt gespalten. Dies alles hatte nur einen kurzen Herzschlag lang gedauert, nichtsdestoweniger lang genug, um den Herzschlag aussetzen zu lassen: schmachvoll war es, hinzublicken und nicht den leisesten Versuch eines Eingreifens zu unternehmen, unfähig und vielleicht sogar unwillig zu solchem Eingreifen, schmachvoll war es selbst noch dieses Geschehen festhalten zu wollen, schmachvoll eine Erinnerung, in die selbst dieses noch für ewig eingeschrieben werden sollte! Erinnerungslos hatte der kleine Syrer gefeixt, erinnerungslos, als gäbe es nichts als eine verwüstete, vergewaltigte Gegenwart, ohne Zukunft und daher auch ohne Vergangenheit, ohne Nachher und darum auch ohne Vorher, als wären die beiden Verketteten niemals Knaben gewesen, spielend in den Gefilden der Jugend, als gäbe es in ihrer Heimat keine Berge, keine Matten, keine Blumen und nicht einmal einen Bach, der des Abends im fernen Tal lauscht und rauscht –, oh, schmachvoll war es, der eigenen Erinnerung nachzuhängen, sich um sie zu bemühen und sie zu pflegen! Oh, Erinnerung, unverlierbare, Erinnerung voll des Weizengewoges, voll der Felder, voll des knisternd rauschenden, kühlwandigen Waldes, voll der Jugendhaine, augentrunken am Morgen, herzenstrunken am Abend, aufzitterndes Grün und verzitterndes Grau, oh, Wissen um die Herkunft und um die Rückkehr, Gepränge der Erinnerung! Doch gegeißelt der Besiegte, jubelbrüllend der Sieger, steinern der Raum, in dem es geschieht, brennend das Auge, brennend die Blindheit-für welch unauffindbares Sein galt es da noch sich wach zu erhalten? für welche Zukunft galt da noch das unsägliche Bemühen um Erinnerung? in welche Zukunft sollte Erinnerung da noch eingehen? gab es da überhaupt noch Zukunft?Die Brückenplanken wippten steif, als die Sänfte im gemessenen Gleichschritt der Träger darüber hin befördert wurde; unten schwappte bedächtig das schwarze Wasser, eingeengt zwischen dem schwarzen schweren Schiffskörper und der schwarzen schweren Kaimauer, das schwerflüssige glatte Element, sich selbst ausatmend, Unrat ausatmend, Abfälle und Gemüseblätter und verfaulte Melonen, alles was da unten herumsuppte, schlaffe Wellen eines schweren süßlichen Todeshauches, Wellen eines verfaulenden Lebens, des einzigen, das zwischen den Steinen bestehen kann, lebend nur noch in der Hoffnung auf die Wiedergeburt aus seiner Verwesung. So sah es dort unten aus; hier oben hingegen lagen die makellos gearbeiteten, vergoldeten und verzierten Tragstangen der Sänfte auf den Schultern von Lasttieren in Menschengestalt, menschlich gefütterten, menschlich redenden, menschlich schlafenden, menschlich denkenden Lasttieren, und in dem makellos gearbeiteten, geschnitzten Sänftensessel, dessen Lehne und Seitenteile mit goldblechernen Sternen geschmückt waren, ruhte ein makelbehafteter Kranker, in dem die Verwesung bereits lauernd hauste. Dies alles war von äußerster Unstimmigkeit, in all dem barg sich das versteckte Unheil, die Starrheit eines Geschehens, das vollkommener ist als der Mensch, obwohl er selber es ist, der die Mauern baut, der schnitzt und hämmert, den Geißelstrang flicht und Ketten schmiedet. Unmöglich, sich davor zu verschließen, unmöglich war es, zu vergessen. Und was immer man vergessen wollte, in stets erneuter Wirklichkeitsgestalt war es wieder da, kam es wieder zurück, als neue Augen, als neuer Lärm, als neue Geißelhiebe, als neue Starrheit, als neues Unheil, jedes für sich seinen Eigenraum fordernd, eines das andere in furchtbarer Berührung einengend und bezwingend, und doch höchst seltsam und unstimmig alles miteinander verwoben. Unstimmig wie die Berührung der Dinge untereinander war auch der Zeitablauf geworden ; die einzelnen Zeitabschnitte wollten nicht mehr zueinander passen: niemals noch war das Jetzt so eindeutig vom Vorher geschieden gewesen; eine tiefeinschneidende Kluft, durch keinen Steg überbrückbar, hatte dieses Jetzt zu etwas Selbständigem gemacht, hatte es von dem Vorher, von der Seereise und allem, was vorangegangen war, unweigerlich abgetrennt, hatte ihn von dem ganzen voran gegangenen Leben abgeschieden, und doch hätte er, im leisen Schaukeln der Sänfte, kaum anzugeben gewußt, ob die Fahrt noch währte, oder ob man sich wirklich schon am Land befand. Über ein Meer von Köpfen schaute er, über einem Meere von Köpfen schwebte er, umgeben von Menschenbrandung, freilich bisher nur an ihrem Rande, da die ersten Versuche zur Überwindung solch wogenden Widerstandes bisher allesamt gescheitert waren. Hier beim Anlegeplatz der Begleitschiffe war die polizeiliche Ordnung eben weit weniger straff als drüben beim Augustusempfang, und mochte es auch einigen Fahrgästen geglückt sein sich mit eiligem Anlauf dorthin durchzuschlagen, so daß sie sich dem feierlichen Zuge, welcher sich innerhalb der Absperrung bildete und den Cäsar in die Stadt und zum Palast hinaufbringen sollte, noch anschließen konnten, so wäre derlei für den Sänftentransport schlechterdings unmöglich gewesen; der kaiserliche Diener, den man der kleinen Eskorte zur Begleitung, zur Führung und sozusagen zur Bewachung beigegeben hatte, war zu bejahrt, zu beleibt, zu weichlich und wohl auch zu gutmütig, um sich zu einem gewaltsamen Durchbruch aufzuraffen, er war machtlos, und weil er machtlos war, mußte er sich auf Klagen gegen die Polizei beschränken, die diese Pöbelansammlungen zuließ und ihm doch wenigstens eine anständige Bedeckung hätte beistellen müssen, und so wurde man schließlich recht ziellos über den Platz hingepufft und fortgetrieben, zeitweise auch bewegungslos eingekeilt, im stockenden Zickzack, einmal dahin, einmal dorthin geschoben und herumgestoßen. Daß der Knabe mitgekommen war, erwies sich da als unverhoffte Erleichterung; als wäre ihm, und dies war äußerst seltsam, von irgendwoher Kenntnis um die Wichtigkeit des Manuskriptkoffers geworden, achtete er darauf, daß dessen Träger sich stets knapp neben der Sänfte hielten, und während er, immerzu selber daneben und den Mantel über die Schulter geworfen, keinerlei Abdrängung zuließ, blinzelte er manchmal mit helldurchsichtigen Augen belustigt und verehrungsvoll herauf. Von den Häuserfronten und aus den Gassen strömte brütende Schwüle entgegen, sie kam in breiten queren Wogen angeflutet, immer wieder von dem nicht endenwollenden Geschrei und Gerufe, vom Summen und Brausen des atmenden Massentieres zerspellt, dennoch unbewegt; Wasseratem, Pflanzenatem, Stadtatem: ein einziger schwerer Brodem des in Steinquadern eingezwängten Lebens und seiner verfaulenden Scheinlebendigkeit, Humus des Seins, verwesungsnah und unermeßlich aufsteigend aus den überhitzten Steinschächten, aufsteigend zu den kühlsteinernen Sternen, mit denen die innerste, zu tiefmilder Schwärze abdunkelnde Himmelsschale sich zu bedecken begann. Aus unerschließbaren Tiefen sprießt das Leben empor, durch das Gestein sich zwängend, sterbend schon auf diesem Wege, sterbend und verwesend und erkaltend schon in seinem Aufsteigen, im Aufsteigen auch schon ein Sich-Verflüchtigen, aber aus unerschließbaren Höhen sinkt das Unabänderliche steinkühl herab, ein sinkender, dunkelleuchtender Hauch, bezwingend mit seiner Berührung, erstarrend zum Gestein der Tiefe, oben wie unten das Steinerne, als wäre es die letzte Wirklichkeit der diesseitigen Welt –, und zwischen solchem Strom und Gegenstrom, zwischen Nacht und Gegennacht, rotglühend unten, klarflimmernd oben, in dieser verdoppelten Nächtlichkeit schwebte er auf seiner Sänfte, als wäre sie eine Barke, eintauchend in die Wellenkämme des Pflanzlich-Tierischen, empor gehoben in den Hauch des Unabänderlich-Kühlen, vorwärtsgetragen zu Meeren von so großer Rätselhaftigkeit und Unbekanntheit, daß es wie Rückkehr war; denn Welle um Welle, die großen Flächen, die sein Kiel bereits durchfurcht hatte, Wellenflächen der Erinnerung, Wellenflächen der Meere, sie waren nicht durchsichtig geworden, nichts in ihnen hatte sich zur Bekanntheit enthüllt, bloß das Rätsel war geblieben, und rätselerfüllt reichte die Vergangenheit über ihre Ufer hin bis in die Gegenwart herein, so daß er inmitten des harzigen Fackelqualmes, inmitten des brütenden Stadtdunstes, inmitten des wildtierhaften, dunkelatmigen Körperbrodems, inmitten des Platzes und seiner Unbekanntheit, unverwischbar unverkennbar des Meeres Geruch und das groß-unvergängliche Sein des Meeres spürte: hinter ihm lagen die Schiffe, die seltsamen Vögel der Unbekanntheit, noch klingen Kommandoworte von dorther herüber, dann das ruckweise Knarrknirschen einer Holzwinde, dann ein tieftönend singender Beckenschlag, der wie ein letzter Nachhall des ins Meer gesunkenen Tagesgestirnes weitertönt, und dahinter ist der großflächige Wind der See, ist ihre billionenhaft weißgekrönte Unruhe, das Lächeln Poseidons, stets bereit in brüllendes Gelächter umzuschlagen, wenn der Gott seine Pferde antreibt, und hinter der See, aber zugleich sie umschließend, sind die meeresbespülten Länder, sie alle, die er durchschritten hatte, über deren Gestein, über deren Humus er gegangen war, teilnehmend am Pflanzlichen und Menschlichen und Tierischen, verwoben dem allen, ohnmächtig vor so viel Unbekanntheit, unfähig sie zu bewältigen, einverwoben und einverirrt in das Geschehen und in die Dinge, einverwoben-einverirrt in die Länder und in deren Städte, wie sehr ist dies alles versunken und trotzdem nahe, Dinge, Länder, Städte, wie liegen sie alle hinter ihm, um ihn, in ihm, wie sehr sind sie sein eigen, besonnt und schattentief, rauschend und nächtlich, bekannt und rätselhaft, Athen und Mantua und Neapel und Cremona und Mailand und Brundisium, ach, und Andes, alles wurde herbeigetragen, es war hier, umbrandet vom Lichterwust des Hafenplatzes, umatmet vom Unatembaren, umgrölt vom Unverständlichen, vereinigt zu einer einzigen Einheit, in der die Ferne mühelos zur Nähe wurde, die Nähe zur Ferne, und ihn, den Darüberhinschwebenden, umgeben von Wildheit zu mühelos schwebender Wachheit werden ließ; das unterweltlich Schwelende vor seinen Augen und in seinem Wissen, wußte er zugleich sein Leben, wußte es vom Strom und Gegenstrom der Nacht getragen, in der sich Vergangenheit und Zukunft kreuzen, er wußte es hier an diesem Verkreuzungspunkt in der feuergetauchten, feuerumflossenen Gegenwart des Uferplatzes, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Meer und Land, er selber in der Mitte des Platzes, als hätte man ihn zum Mittelpunkt seines eigenen Seins, zum Kreuzungspunkt seiner Welten, zu seinem Weltmittelpunkt bringen wollen, schicksalsbestimmt. Doch es war nur Brundisiums Hafenplatz.Und selbst, wenn es der Weltmittelpunkt gewesen wäre, es wäre erst recht hier kein Bleiben gewesen; immer mehr Volk strömte aus den Gassen, deren Mündungen mit freudig-feurigen Transparenten überwölbt waren, auf den Platz heraus, und immer mehr wurden die Träger nun von der Platzmitte wieder abgedrängt, so daß es überhaupt keine Möglichkeit mehr gab, das Soldatenspalier und den Augustuszug, der sich unter Fanfaren bereits in Bewegung gesetzt hatte, von hier aus zu erreichen. Nicht wenig war da auch noch der Lärm an geschwollen, da ja nun auch die Musik überschrieen, überjohlt, überpfiflen werden mußte, und mit dem steigenden Lärm stieg desgleichen die Gewaltsamkeit und Rücksichtslosigkeit des Schiebens und Drängens, das schier zum Selbstzweck und zur Eigenbelustigung wurde, allein, bei all dieser Gewaltsamkeit, es schien sich die Mühelosigkeit und Leichtigkeit der schwebenden Wachheit, die ihn selber umfangen hielt, dem ganzen Platze mitgeteilt zu haben, gleichsam wie eine zweite Beleuchtung, welche sich zu der ersten, augensichtbaren dazugesellt hat und, ohne an ihrer harten, schattenverflackernden Grellheit etwas zu ändern, sie eher sogar noch vertieft, trotzdem aber einen zweiten Seinszusammenhang in der sichtbaren Dinggegenwart aufdeckt, den traumwachen Seinszusammenhang der Ferne, der jedweder Nähe, selbst der handgreiflichsten und unmittelbarsten, noch innewohnt. Und als sollte diese fernleichte Selbstverständlichkeit eines zweiten Zusammenhanges auch noch bewiesen werden, befand sich der Knabe nun plötzlich an der Spitze der Eskorte, ohne daß man recht gewahr geworden, wann dies geschehen war, und, gleichsam wie im Spiele, leicht eine Fackel schwingend, die er offenbar dem Nächstbesten abgenommen hatte, benützte er sie als Waffe, um damit einen Weg durch die Menge zu bahnen: Platz für den Vergil!“, schrie er dazu den Leuten fröhlich ins Gesicht, Platz für eueren Dichter!“, und wenn die Leute vielleicht auch nur auswichen, weil da einer getragen wurde, der zum Cäsar gehörte, oder weil ihnen die fieberglänzenden Augen in dem gelbdunklen Gesicht des Kranken unheimlich waren, so hatte man es doch dem kleinen Führer zu verdanken, daß ihre Aufmerksamkeit überhaupt erregt und hierdurch ein Vorwärtskommen schlecht und recht ermöglicht wurde. Freilich, es gab Verknäulungen, gegen die weder mit der spitzbübischen Gelassenheit des jungen Mantelträgers, noch mit seinen Fackelbränden etwas auszurichten war, und bei diesen Stockungen nützte auch nichts das unheimliche Aussehen des kranken Mannes, im Gegenteil, jedesmal steigerte sich dann das anfänglich bloß abwehrend gleichgültige Wegschauen zu einem offenen Widerwillen gegen den unheimlichen Anblick, zu einem halb scheuen, halb angriffslustigen Geraune, es wurde zu einer nahezu bedrohlichen Stimmung, für die ein Spaßvogel, ebenso wohlgelaunt wie übelwollend, in dem Rufe: Ein Zauberer, der Zauberer vom Cäsar!“, den richtigen Ausdruck fand. Versteht sich, du Tölpel“, schrie der Junge zurück, so einen Zauberer hast du überhaupt noch nicht in deinem dummen Leben gesehen; unser größter, unser allergrößter Zauberer ist er!“ Ein paar Hände mit aus gestreckten Fingern, die vor dem bösen Blick schützen sollten, flogen auf, und eine weißgeschminkte Hure, blonde Perücke schiefsitzend auf ihrem Schädel, kreischte zur Sänfte hin: Gib mir einen Liebeszauber!“ – Ja, zwischen die Beine, und kräftig“, ergänzte mit nachahmender Fistelstimme ein gänserichähnlicher, sonnverbrannter Bursche, offenbar ein Matrose, und erwischte mit seinen blautätowierten Armen die vergnügt-zärtlich Aufquietschende beidhändig von hinten, so 'nen Zauber kriegst auch von mir gut und gerne geliefert; den kannst bekommen!“ – Platz für den Zauberer, Platz da!“, kommandierte der Junge, puffte mit dem Ellbogen resolut den Gänserich zur Seite und schwenkte, schnell-entschlossen und einigermaßen überraschend, nach rechts gegen den Platzrand hin ab; willig folgten die Träger mit dem Manuskriptkoffer, etwas weniger willig der WächterDiener, es folgte die Sänfte und die übrigen Sklaven, gleichsam sie alle von unsichtbarer Kette hinter dem Knaben hergezogen. Wohin führte da der Knabe? aus welcher Ferne, aus welcher Erinnerungstiefe war er aufgetaucht? von welcher Vergangenheit, von welcher Zukunft wurde er bestimmt? von welch geheimnisvoller Notwendigkeit? und aus welch vergangenem, zu welch künftigem Geheimnis wurde er selber da getragen? war es nicht weit eher ein ständiges Schweben in unermeßlicher Gegenwart? Um ihn herum waren die Freßmäuler, die Brüllmäuler, die Gesangmäuler, die Staunmäuler, die geöffneten Mäuler in den verschlossenen Gesichtern, sie alle waren geöffnet, waren aufgerissen, zahnbesetzt hinter roten und braunen und blassen Lippen, mit Zunge bewehrt, er sah hinab auf die moosig-wolligen Rundköpfe der Tragsklaven, sah von seitwärts ihre Kiefer und die finnige Wangenhaut, er wußte von dem Blute, das in ihnen schlug, von dem Speichel, den sie zu schlucken hatten, und er wußte manches von den Gedanken, die in diesen unge fügen, ungelenken, ungezügelten Freß- und Muskelmaschinen zwar verloren, dennoch ewiglich unverlierbar, zart und dumpf, durchsichtig und dunkel, sickernd Tropfen um Tropfen, fallen und vergehen, die Tropfen der Seele; er wußte um die Sehnsucht, die selbst in der schmerzlich wüstesten Brunst und Fleischlichkeit nicht zur Ruhe kommt, ihnen allen eingeboren, dem Gänserich ebensosehr wie seiner Hure, unaustilgbare Sehnsucht des Menschen, die sich niemals vernichten, höchstens ins Bösartige und Feindliche abbiegen läßt, dennoch Sehnsucht bleibend. Entrückt, dennoch unaussprechlich nahe, schwebend vor Wachheit, dennoch allem Dumpfen vermengt, sah er die Stumpfheit der samenspritzenden und samentrinkenden, gesichtslosen Leiber, ihre Schwellungen und ihre Gliedhärten, er sah und hörte die Verborgenheiten in dem Auf und Ab ihrer Zufallsbrunst, den wilden, stumpf-kriegerischen Jubel ihrer Vereinigungen und das blöd-weise Verwelken ihres Alterns, und fast war es, als würde ihm dies alles, dieses ganze Wissen durch die Nase zugemittelt werden, eingeatmet mit dem betäubenden Dunst, in dem das Sichtbare und Hörbare eingebettet war, eingeatmet mit dem vielfältigen Dunst der Menschentiere und ihres täglich zusammengesuchten, täglich durch sie hindurchgekauten Futters, indes jetzt, da man sich endlich einen Weg zwischen den Leibern erkämpft hatte, und die Menge, gleich den zum Platzrande hin spärlicher werdenden Lichtern, endlich schütterer wurde, um dunkelheitsversickernd sich schließlich ganz zu verlaufen, wurde ihr Geruch, mochte er auch noch immer nachschwelen, von dem glatten glitzerigfauligen Gestank der Fischmarktstände abgelöst, die hier den Hafenplatz begrenzten, stillverlassen zu dieser Abendstunde. Süßlich, nicht minder faulig, schlug sich auch noch der Geruch des Obstmarktes hinzu, voll von Gärungshauch, ununterscheidbar geworden der Duft der rötlichen Trauben, der wachsgelben Pflaumen, der goldenen Äpfel, der unterirdisch schwarzen Feigen, vermengt und ununterscheidbar geworden vor gemeinsamer Verwesung, und die Steinplatten des Pflasters glänzten schlüpfrig von feucht Zertretenem und Verschmiertem. Sehr fern war nun der Mittelpunkt des Platzes dahinten, sehr fern die Schiffe am Kai, sehr fern das Meer, sehr fern, wenn auch nicht endgültig verloren; das Menschengeheul dort war nur noch ein fernes Brummen, und von der Fanfarenmusik war nichts mehr zu hören.Mit großer Sicherheit, als. wie von genauester Ortskenntnis gelenkt, hatte der Knabe seine Gefolgschaft durch das Budenwerk hindurchgesteuert, um nun in das Gebiet der Warenspeicher und Werftanlagen einzudringen, das mit düster unbeleuchteten Gebäuden sich unmittelbar an das Marktgelände anschloß und, in der Dunkelheit kaum erkennbar, höchstens erfühlbar sich von hierab weithin ausdehnte. Und da wechselte nochmals der Geruch: man roch das ganze Schaffen des Landes, man roch die ungeheuren Lebensmittelmengen, die hier vorbereitet waren, vorbereitet zum Austausch innerhalb des Reichsgebietes, immer aber dazu bestimmt, ob da oder dort, sich nach Kauf und Verkauf zuletzt durch die Menschenkörper und deren Eingeweideschlangen hindurchzuschlacken, und man roch die trockene Süße des Getreides, dessen Feimen vor den schwarzen Silos sich häuften, wartend, daß sie hineingeschaufelt würden, man roch die staubige Trockenheit der Kornsäcke, der Weizensäcke, der Hafersäcke, der Dinkelsäcke, man roch die säuerliche Milde der Öltonnen und Ölkufen, und ebenso die beizende Herbheit der Weinlager, die sich die Kais entlang hinerstreckten, man roch die Zimmermanns Werkstätten, die Massen der irgendwo im Dunkeln aufgestapelten Eichenstämme, deren Holz niemals stirbt, man roch ihre Rinde, aber nicht minder den geschmeidigen Widerstand ihres Stammkernes, man roch die zubehauenen Blöcke, in denen noch die Axt steckt, wie sie der Werkmann nach Arbeitsschluß zurückgelassen hat, und neben dem Geruch der schöngehobelten neuen Schiffsplanken, neben dem der Hobelscharten und der Sägespäne, roch man den müden des ausgebrochenen, weißlichgrünen, glitschig-modrigen, muschelbesäten alten SchifFsholzes, das in großen Haufen hier des Verbrennens harrte. Der Kreislauf des Schaffens. Ein unendlicher Friede atmete aus der duftgeschwängerten Arbeitsnächtlichkeit, der Friede eines werkenden Landes, der Friede von Äckern, von Weinbergen, von Wäldern, von Ölhainen, der bäuerliche Friede, aus dem er selber, der Bauernsohn, hervorgegangen war, der Friede seines steten Heimwehs und seiner erdgebundenen, erdzugekehrten, irdisch-steten Sehnsucht, der Friede, dem seit jeher sein Gesang gegolten hatte, oh, sein Sehnsuchtsfrieden, unerreichbar. Und als sollte diese Unerreichbarkeit sich auch hier widerspiegeln, als müßte allüberall alles zum Bild seines Selbst werden, war auch dieser Friede hier zwischen den Steinen eingezwängt, war gebändigt und mißbraucht zum Ehrgeiz, zum Nutzen, zur Verkäuflichkeit, zur Hetzjagd, zur Außenweltlichkeit, zur Verknechtung, zum Unfrieden. Innen und Außen sind das nämliche, sind Bild und Gegenbild, und doch noch nicht die Einheit, die das Wissen ist. Überall fand er sich selber, und wenn er alles festhalten mußte, aber auch festhalten konnte, wenn es ihm gelang, die Welten Vielfalt zu erhaschen, zu der es ihn verpflichtet hatte, zu der es ihn drängte, traumwach an sie hingegeben, mühelos ihr angehörend, mühelos sie besitzend, so war dem so, weil sie von Anbeginn an, ja, noch vor allem Erspähen, Erlauschen, Erfühlen, sein Eigen gewesen war, weil Erinnern und Festhalten niemals etwas anderes als selbst-erinnertes Eigen-Ich ist, erinnertes Eigen-Einst, ein Einst, in dem er den Wein getrunken, das Holz betastet, das Öl geschmeckt haben mußte, ehe es noch Öl, Wein und Holz gegeben hatte, das ungekannte Wiedererkannte, weil die Fülle der Gesichter und Ungesichter, samt ihrer Brunst, samt ihrer Gier, samt ihrer Fleischlichkeit, samt ihrer habsüchtigen Kälte, samt ihrem tierhaft körperlichen Sein, aber auch samt ihrer großen nächtlichen Sehnsucht, weil sie allesamt, mochte er sie je gesehen haben oder nicht, mochten sie je gelebt haben oder nicht, ihm einverleibt waren von seinem Urbeginn an, als der chaotische Ur-Humus seines eigenen Seins, als seine eigene Fleischlichkeit, als seine eigene Brunst, als seine eigene Gier, als sein eigenes Ungesicht, aber auch als seine eigene Sehnsucht: und hatte sich seine Sehnsucht im Verlaufe seiner irdischen Wanderung auch sehr gewandelt und sich dem Erkennen zugekehrt, so sehr, daß sie zuletzt, schmerzlicher und schmerzlicher geworden, kaum mehr Sehnsucht, ja, kaum mehr Sehnsucht nach der Sehnsucht zu nennen war, und war dies auch vom Schicksal vorbestimmt gewesen, von Anbeginn an, als ein Hinausgetriebensein und als eine Abgeschiedenheit, unheilsträchtig jenes, heilsbeglückend dieses, beides jedoch fast untragbar für ein menschliches Wesen, es war trotzdem geblieben, unverlierbar das Eingeborene, unverliebar des Seins Ur-Humus, der Boden des Erkennens und Wiedererkennens, aus dem die Erinnerung gespeist wird und zu dem sie zurückkehrt, Schutz vor Glück wie Unglück, Schutz vor dem Untragbaren, eine letzte Sehnsucht, so sehr Sehnsucht, daß sie schier körperlich in jedem Streben nach Erinnerungstiefe, und sei es die erkenntnisreifste, ein für allemal und für ewig mitschwingt. Wahrlich, es war eine körperliche Sehnsucht und unauslöschbar. Er hielt die Finger ineinanderverkrampft, er spürte den Ring, der sich hart in Haut und Fleischflachsen drückte, er spürte steinhart die Knochen seiner Hand, er spürte sein Blut, er spürte die Erinnerungstiefe seines Körpers, die Schattentiefe der Fernvergangenheit einsgeworden mit ihrem gegenwartsnahen, gegenwartserhellenden Leuchten, und er erinnerte sich der Knabenzeit in Andes, er erinnerte sich des Hauses, der Stallungen, der Speicher, der Bäume, er erinnerte sich der hellen Augen in dem immer lachbereiten, stets ein wenig sonnverbrannten Gesicht der Mutter, die dunkellockig im Hause schaffte – oh, sie hieß Maja, und kein Name hätte sommerlicher klingen können, keinen gab es, der besser zu ihr gepaßt hätte –, und er erinnerte sich, wie sie mit ihrem fröhlichen Gewerk alles um sie herum erwärmte, unerschütterlich in ihrer heiteren Unermüdlichkeit, auch wenn sie dem Großvater, der in der Stube saß, ständig zu Diensten sein mußte, ständig von ihm zu irgendeiner Handreichung gerufen wurde, oder wenn sie, nicht weniger häufig, den Alten und sein wütendes, markerschütterndes, kindererschreckendes Geschrei zu beschwichtigen hatte, dieses beschwichtigungssüchtige Geschrei, das anzustimmen er bei keiner Gelegenheit unterließ, besonders wenn Vieh- und Getreidepreise zur Frage standen und er, der halb freigebige, halb knauserige, weißhaarige Magus Polla unfehlbar, ob Kauf oder Verkauf, sich von den Händlern übertölpelt glaubte; ach, wie erinnerungsstark war dieser Lärm, wie erinnerungsmild die Ruhe, die dann immer wieder von der Mutter mit einer beinahe belustigten Fröhlichkeit dem Hause zurückgegeben worden war, und er erinnerte sich des Vaters, der erst mit der Heirat zum richtigen Bauern hatte werden können und dessen einstmaliger Töpferberuf dem Sohn gering gedeucht hatte, obwohl es sehr schön gewesen war den abendlichen Erzählungen von der Arbeit an den bauchigen Weinfässern und edelgeschwungenen Ölkrügen, die der Vater verfertigt hatte, zu lauschen, den Erzählungen von dem lehm-formenden Daumen, von den Spachteln und von der surrenden Drehscheibe, und von der Kunst des Brennens, schönen Erzählungen, unterbrochen von manchem alten Töpferlied. Oh, Gesichter der Zeit, verharrend in der Zeit, oh, Gesicht der Mutter, erinnert als Jugendgesicht und dann immer verflüchtigt und vertieft, so daß es im Tode schon jenseits alles Gesichtlichen, ja fast wie ewige Landschaft gewesen war, oh, Gesicht des Vaters, unerinnert am Anfang und dann immer weiter gewachsen ins Lebensmenschliche, ins Ebenbildhafte, bis es im Tode zum unverlierbaren. Menschenantlitz geworden war, gebildet aus hartem, braunsteifem Lehm, gütig stark im letzten Lächeln, unvergeßbar. Oh, nichts vermag zur Wirklichkeit zu reifen, das nicht in der Erinnerung verwurzelt ist, oh, nichts ist dem Menschen erfaßbar, das ihm nicht von Anfang an beigegeben wäre, überschattet von den Gesichtern seiner Jugend. Denn immer steht die Seele an ihrem Anfang, sie steht zur Erwachensgröße ihres Anfanges, selbst das Ende hat für sie die Würde des Beginns; kein Lied geht verloren, das je die Saiten ihrer Leier berührt, und zu ewig erneuter Bereitschaft aufgetan, bewahrt sie in sich jegliches Tönen, mit dem sie je aufgeklungen. Unvergänglich ist es, stets kommt es wieder, auch hier war es wieder vorhanden, und er sog die Luft ein, um den kühlen Geruch der irdenen Krüge und der aufgestapelten Tonnen, der leicht und schwarz manchmal aus den geöffneten Schuppentüren herausquoll, zu erhaschen und in seine wehen Lungen einzuatmen. Hernach mußte er freilich husten, als hätte er etwas Unzuträgliches oder Verbotenes getan. Die Nagelschuhe der Träger trabten indessen weiter, sie klappten auf Steinboden, knirschten auf Kiesboden, die Fackel des jungen Führers, der mitunter sich umwandte, um zu der Sänfte heraufzulächeln, glimmte und leuchtete voran, man kam jetzt recht tüchtig ins Marschieren und recht rasch vorwärts, zu rasch für den im bequemeren Hofdienst ergrauten und beleibt gewordenen, bejahrten Diener, der nun hintendrein nach watschelte und vernehmlichst seufzte; es ragte das Gewirr der Magazins- und Silodächer mit vielerlei Formen teils spitz, teils flach, teils schwachschräg zum sterndichten, wenn auch noch nicht vollnächtlichen Himmel empor, Krane und Gestänge warfen drohende Schatjten unter dem vorüberziehenden Lichte, man kam an leeren und beladenen Karren vorbei, ein paar Ratten kreuzten den Weg, ein Nachtfalter verirrte sich auf die Sänftenlehne und blieb daran haften; sachte wollte sich neuerlich Müdigkeit und Schlaf melden, sechs Beine hatte der Falter und sehr viele, wenn nicht gar unbestimmbar viele das Trägergespann, dem die Sänfte , dem er selber mitsamt dem Falter als vornehm-gebrechliche Warenlast anvertraut war, schon wollte er sich um wenden, um vielleicht doch noch die Anzahl der hinter ihm befindlichen Tragsklaven sowie die ihrer Beine feststellen zu können, allein, ehe er noch dies bewerkstelligen konnte, war man in einen engen Durchlaß zwischen zwei Schuppen gelangt, und gleich danach stand man höchst überraschenderweise wieder vor den Stadthäusern, stand vor dem Eingang einer ziemlich steil ansteigenden, sehr schmalen, sehr verwitterten, sehr wäschebehangenen Mietskasernengasse: tatsächlich, man stand, denn der Knabe hatte die Träger, die ja sonst wahrscheinlich weitergetrottet wären – und tatsächlich, nun waren es ihrer wieder nur vier wie ehedem – kurzerhand in ihrem Marsche aufgehalten, und gerade diese plötzliche Unterbrechung, vereint mit dem unerwarteten Anblick, wirkte wie Wiedersehensfreude, wirkte derart überraschend und verblüffend, daß sie allesamt, Herr und Diener und Sklave, laut herauslachten, um so mehr, als der Knabe, angefeuert von ihrem Lachen, sich leicht verbeugte und mit einer stolzen Weisegeste zum Einzug in die Gasse einlud.Es gab aber eigentlich wenig Anlaß zur Heiterkeit; am allerwenigsten wurde ein solcher von diesem Gassenschlunde geboten. Dunkel lag der flachstufige Stiegenweg da, bevölkert mit allerhand Schattenhaftem, vor allem mit Rudeln von Kindern, welche trotz der vorgerückten Stunde treppauf und treppab tollten, schattenhaft zweifüßig, und zu denen sich, bei näherer Sicht, dann auch noch Vierfüßiges gesellte, da überall längs der Mauern, mehr oder minder kurz angeseilt, Ziegen angepflockt waren; schwarz blickten die glaslosen und zumeist auch lädenlosen Fenster in den Schlund, schwarz die kellerigen, dunkelhöhligen Verkaufsgewölbe, aus denen allerhand billiges Gefeilsche herausschnatterte, das Gefeilsche der Armut, das Gefeilsche für die Bedürfnisse der nächsten Stunden, kaum des nächsten Tages, während daneben die klopfende, schnarrende, klempernde, kleinkümmerliche Handwerkerarbeit, von Schatten bedient, für Schatten bestimmt, dünn lärmend vonstatten ging und augenscheinlich zu ihrer Ausführung überhaupt keines Lichtes mehr benötigte, denn selbst wo der Schein einer Ölfunzel oder eines Kerzenstumpens sich hervorwagte, blieben die Menschen im Schatten verkrochen. Alltagsleben im elendsten Elendsgange, unabhängig von jedem äußeren Ereignis, vollzog sich hier, vollzog sich schier zeitlos, als wäre das Kaiserfest meilenweit von dieser Gasse entfernt, als wüßten ihre Bewohner nichts von dem, was in anderen Stadtteilen sich zutrug, und so bedeutete der auftauchende Sänftenzug nichts Staunenerregendes, wohl aber unliebsamste oder richtiger feindseligste Störung. Es begann koboldhaft, nämlich mit den Kindern, ja, sogar mit den Ziegen, da sowohl die einen wie die anderen den Trägern zwischen die Beine gerieten und nicht auswichen, meckernd die Vierfüßler, kreischend die kleinen Zweifüßler, die aus allen Schattenwinkeln hervorbrachen, um sich dann wieder darein zu verstecken; es begann damit, daß sie dem jungen Führer, freilich erfolglos vor seiner wilden Wehrhaftigkeit, die Fackel entreißen wollten, indes, dies wäre nicht das Ärgste gewesen, und wenn auch langsam, man kam trotzdem vorwärts – Stufe um Stufe ging es die Elendsgasse hinan –, nein, nicht diese Behelligungen waren arg, sondern die Weiber waren es, sie waren das Ärgste, sie, diese aus den Fenstern heraus gelehnten Weiber, brustzerquetscht auf den Brüstungen, herabbaumelnd schlangengleich ihre nackten Arme mit den züngelnden Händen daran, und waren es auch nur irr keifende Schimpfworte, in die ihr Geschwätz umkippte, sowie sie des Zuges ansichtig wurden, es war zugleich ein keifendes Irresein, groß wie jedes Irresein, übersteigert zur Anklage, übersteigert zur Wahrheit, da es Schimpf war. Und hier nun, wo Haus um Haus bestialischen Fäkaliengestank aus dem geöffneten Tormaul entließ, hier in diesem verwitterten Wohnkanal, durch den er auf hocherhobener Sänfte getragen wurde, so daß er in die ärmlichen Stuben blicken konnte, blicken mußte, getroffen von den wütend und sinnlos ihm ins Gesicht geschleuderten Verwünschungen der Weiber, getroffen vom Gegreine der auf Fetzen und Lumpen gebetteten, nirgends fehlenden kränklichen Säuglinge, getroffen vom Qualm der an den rissigen Wänden befestigten Kienspäne, getroffen von der dunstigen Abgestandenheit der Kochstellen und ihrer verschmorten, altverschmierten Eisenpfannen, getroffen von dem Grauensbild der da in den schwarzen Lochbehausungen allenthalben herumhockenden, nahezu unbekleideten, mummelnden Greise, hier begann Verzweiflung ihn zu überkommen, und hier zwischen den Höhlen des Ungeziefers, hier vor dieser äußersten Verkommenheit und elendigsten Verwesung, hier vor dieser tiefst irdischen Verkerkerung, vor dieser Stelle bösartig kreißender Geburt und bösartig krepierenden Todes, des Lebens Ein- und Ausgang verwoben zu engster Verschwisterung, finstere Ahnung das eine wie das andere, namenlos das eine wie das andere im Schattentraum zeitlosen Übels, hier in dieser namenlosesten Nächtlichkeit und Unzucht, hier mußte er zum erstenmal das Gesicht verhüllen, mußte es tun unter dem keifenden Jubelgelächter der Weiber, mußte es zur gewollten Blindheit tun, während er hinangetragen wurde, Stufe um Stufe, über die Treppe der Elendsgasse – Lümmel, du Sänftenlümmel!“, Glaubt, er ist was Besseres als unsereins!“, Geldsack auf dem Thron“, Hätt'st kein Geld, möcht'st laufen!“, Läßt sich zur Arbeit tragen!“, gellten die Weiber – sinnlos war der Hagel der Schimpfworte, der auf ihn niederprasselte, sinnlos, sinnlos, sinnlos, dennoch berechtigt, dennoch Mahnung, dennoch Wahrheit, dennoch zur Wahrheit übersteigerter Irrsinn, und jede Schmähung riß ein Stück Überheblichkeit von seiner Seele, so daß sie nackt wurde, so nackt wie die Säuglinge, so nackt wie die Greise auf ihren Lumpen, nackt vor Finsternis, nackt vor Erinnerungslosigkeit, nackt vor Schuld, eingegangen in die flutende Nacktheit des Ununterscheidbaren – Stufe um Stufe ging es durch die Elendsgasse, auf jedem Treppenabsatz stockend – Flut der nackten Geschöpflichkeit, die über die atmende Erde hin ausgebreitet ist, hingebreitet unter dem atmenden Himmel der Tag- und Nachtwandlung, umschlossen von den unveränderlichen Ufern der Jahrmillionen, der breit sich hinwälzende, nackte Herdenstrom des Lebens, aufsickernd aus dem Humus des Seins, immer wieder darin einsickernd, die unentrinnbare Verbundenheit alles Kreatürlichen – Wenn du verreckt bist, stinkst du wie jeder andere!“, Leichenträger, schmeißt ihn runter, laßt ihn fallen den Leichnam!“ – Zeitberge und Zeittäler, oh, Myriaden Geschöpfe, die von den Äonen darüber hinweggetragen worden waren, die immerfort aufs neue darüber hinweggetragen werden im Dämmerstrom, im unendlichen Strom ihrer Gesamtheit, und keines von ihnen, das nicht gemeint hätte, das nicht meinen würde, für ewig zu schweben als ewige Seele im Zeitlosen, in zeitloser Freiheit freischwebend, abgesondert von dem Strome, abgelöst aus dem Gewühl, unabstürzbar, kein Geschöpf mehr, nur noch eine einsam bis zu den Sternen emporgewachsene, emporgerankte durchsichtige Blume, abgelöst und abgesondert, das Herz zitternd wie eine durchsichtige Blüte auf unsichtbar gewordenem Geranke – hingetragen durch die Schmähungen der Elendsgasse, Stufe um Stufe – oh, um dieses Wahngebilde der Zeitlosigkeit geht es, und auch sein Leben, emporgeschossen aus dem chaotischen Humus des nächtlich Unbenannten, emporgewachsen aus dem Gestrüpp des Kreatürlichen, emporgerankt in unzähligen Windungen, da und dort anhaftend, an Unreinem und an Reinem, an Vergänglichem und Unvergänglichem, an Dingen, an Besitz, an Menschen und abermals Menschen, an Worten und an Landschaften, dieses immer wieder verachtete und immer wieder gelebte Leben, er hatte Mißbrauch damit getrieben, er hatte es mißbraucht, um sich selbst zu übersteigen, um sich über sich selbst hinauszuheben, über jede Grenze hinaus, über alle Zeitlichkeit hinaus, als gäbe es für ihn keinen Absturz, als hätte er nicht zurückzukehren in die Zeit, in die irdische Verkerkerung, zurück ins Kreatürliche, als gähnte für ihn nicht der Abgrund – Säugling!“, Windelnässer!“, Kacker!“, Bist schlimm gewesen, mußt heimgetragen werden!“, Kriegst eine Spritze, aufs Töpfchen gesetzt!“, regnete das Lachen allenthalben aus den Fenstern – es hallte die Gasse vom Hohne der Weiber, aber es war ihnen nicht zu entkommen; nur ganz langsam, Stufe um Stufe, ging es vorwärts – doch waren es überhaupt noch die Stimmen der Weiber, die da mit gerechtem Hohn ihn beschimpften und seinen fruchtlosen Wahn aufdeckten? war das, was hier gellte, nicht stärker als die Stimmen irdischer Weiber, als die Stimmen irdischer Menschen, als die Stimmen irdischer Irrsinnsgeschöpfe? oh, es war die Zeit selber, welche ihn höhnend rief, die unabänderlich dahinflutende Zeit mit der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Stimmen und mit der ganzen saugenden Kraft, die ihr und nur ihr innewohnt, sie hatte sich in den Stimmen der Weiber verkörpert, auf daß durch deren Schimpfworte sein Name ausgelöscht werde, er aber, entkleidet des Namens, entkleidet seiner Seele, entkleidet jeglichen Liedes, entkleidet der liedhaften Zeitlosigkeit seines Herzens, zurückfalle ins nächtlich Unsagbare und in den Humus des Seins, erniedrigt zu jener bittersten Scham, die der letzte Rest eines erloschenen Gedächtnisses ist – wissende Stimmen der Zeit, ihr Wissen um die Unentrinnbarkeit und um die unentrinnbaren Fänge des Schicksals! Oh, sie wußten, daß auch er dem Unabänderlichen nicht hatte entrinnen können, daß es ein Schiff gab, das er, allem Wahn zu Trotz, hatte besteigen müssen und das ihn zurückgetragen hatte, schicksalshaft; oh, sie wußten um den Strom des Kreatürlichen, der nackt zwischen nackten Ufern, berandet von deren Ur-Lehm träge seinen Weg nimmt, von keinem Schiff befahren, von keinem Pflanzenwuchs besäumt, durchsichtiger Wahn beides, dennoch Wirklichkeit als Schicksal, die unsichtbare Wirklichkeit des Wahnes, und sie wußten, daß jeder schick-salsvorbezeichnet wieder in den Strom tauchen muß und daß er die Stelle seines Wiedereintauchens nicht von jener zu unterscheiden vermag, aus der aufzutauchen er einstens gewähnt hatte, denn die Rückkehr hat den Schicksalskreis zu schließen Wir holen dich schon noch, du Schwanz, du Hängeschwanz!“, keifte es – und doch nur Weiberstimmen, höhnend, als wäre er eben nichts anderes als ein unfolgsames Kind gewesen, das eine trügerische Freiheit gesucht hat und sich nun nach Hause zurückstehlen wollte, mehr noch, das man auf umständlichen und sogar gefährlichen Umwegen hatte zurückbringen müssen, so daß es schon ob solchen Unheilsweges, ja schon allein deshalb ausgescholten werden mußte; aber war es auch Keifen, die schweren Stimmen der Mütter, erfüllt von Zeitdunkelheit, sie wußten, daß der Kreis des Schicksalsweges den Abgrund des Nichts umschließt, sie wußten von all den Verzweifelten, all den Verirrten, all den Ermatteten, die unweigerlich in den Abgrund der Mitte stürzen, sobald sie gezwungen sind den Weg vorzeitig abzubrechen – oh, war nicht ein jeder hierzu gezwungen? vermochte jemals einer wirklich den Weg auszuschreiten? –, und angstvollst schwang in dem wütenden Schelten unsäglich der ewige Mutterwunsch mit, es möge jegliches Kind für immer so nackt bleiben, wie es geboren worden ist, nackt einverkerkert in seine erste Geborgenheit, eingebettet in den dahinflutenden Zeiten der Erde, eingebettet im Strom der Geschöpflichkeit, sanft emporgehoben und sanft wieder darein verschwindend, gleichsam ohne Schicksal – Du Nackter, du Nackter, du ganz Nackter!“ unentrinnbar die Mutter –, was hatte den Führerknaben bewogen, diesen Weg zu wählen? wird er nun nicht versagen? gebannt vom Mutterrufe stockte der Zug, als sollte er sich niemals mehr weiterbewegen, stockte in gräßlichem Warten, doch dann, nochmals losgelöst, ging es trotzdem weiter, Stufe um Stufe, die Elendsgasse hinanklimmend – reichte also die Mutterkraft der Stimmen doch nicht aus, um für ewig zu binden? war ihr Wissen so mangelhaft, war es so lückenhaft, daß sie den Gebannten doch wieder freigeben mußten? oh, Schwäche der Mutter, die selber Geburt ist und daher von der Wiedergeburt nichts weiß, nichts um sie wissen will, unfähig zu erfassen, daß Geburt, um gültig zu sein, nach Wiedergeburt verlangt, daß aber beides, Geburt wie Wiedergeburt, nimmermehr geschehen könnte, geschähe neben beiden nicht das Nichts, stünde nicht das Nichts ewiglich und unabänderlich als letzte Zeugung hinter ihnen, ja, daß erst aus diesem unlöslichen Zusammenhang von Sein und NichtSein in schweigend raunender Verschwisterung wesensgroß die Zeitlosigkeit aufzustrahlen beginnt, die Freiheit der Menschenseele, untrügerisch ihr Ewigkeitslied, kein Wahngebilde, keine Überheblichkeit, wohl aber unverhöhnbar das Schicksal des Menschen, die furchtbare Herrlichkeit des menschlichen Loses &nash; oh, es ist das Gottesschicksal des Menschen und es ist das menschlich Erschaubare im Schicksal der Götter, es ist ihrer beider unabänderliche Bestimmung, stets aufs neue zum Wege der Wiedergeburt gelenkt zu werden, es ist ihrer beider untilgbare SchicksalshofFnung, nochmals den Kreis ausschreiten zu dürfen, damit das Nachher zum Vorher werde und jeder Punkt des Weges alle Vergangenheit und alle Zukunft in sich vereinige, stillhaltend im Liede gegenwärtiger Einmaligkeit, tragend den Augenblick der vollkommenen Freiheit, den Augenblick der Gott-Werdung, dieses Zeit-Nichts eines Augenblickes, von dem aus trotzdem das All wie eine einzig zeitlose Erinnerung umfaßt wird – tobende Gasse des Unheils, die kein Ende nehmen wollte, vielleicht kein Ende nehmen durfte, ehe sie nicht ihr Letztes an Schimpf und Sünde und Fluch hergegeben haben würde, und immer langsamer, Stufe um Stufe, ging es durch sie hindurch die Aufdeckung der nackten Schuld, das Irresein der nackten Wahrheit – oh, unabänderliches Menschenschicksal des Gottes, herabsteigen zu müssen, herabsteigen in die irdische Verkerkerung, ins Böse, ins Sündige, auf daß zuerst im Irdischen sich das Unheil erschöpfe, auf daß zuerst im Irdischen sich der Kreislauf vollende und immer enger sich um die Unerforschlichkeit des Nichts schließe, um den unerforschlichen Seinsgrund der Geburt, der einstmals zu dem der Wiedergeburt aller Schöpfung sich verwandeln wird, sobald Gott und Mensch ihre Aufgabe erfüllt haben werden – oh, unabänderliche Schicksalspflicht des Menschen, dem Gotte willig den Weg zu ebnen, den Weg der Unverhöhnbarkeit, den Weg der zeitlosen Wiedergeburt, in deren Erstrebung sich Gott und Mensch vereinigen, entlassen der Mutter – aber hier war die Elendsgasse, durch die es Stufe um Stufe hinanging, hier war die Furchtbarkeit der Verwünschung, die Furchtbarkeit des berechtigten Hohnes, herausgespieen aus dem Elend, oh, und er, elendsgeblendet, verwünschungsgeblendet, ja er, verhüllten Hauptes, er mußte es dennoch hören. Warum war er hierher geführt worden? sollte ihm gezeigt werden, daß es ihm nicht vergönnt gewesen war, den Kreis zu schließen? daß er seinen Lebensbogen nur immer weiter und weiter ins Übermäßige ausgespannt hatte, das Nichts der Mitte vergrößernd, statt es zu verkleinern? daß er sich mit solcher ScheinUnendlichkeit, mit solcher Schein-Zeitlosigkeit, mit solcher Schein-Absonderung nur immer mehr vom Ziele der Wiedergeburt entfernt hatte, daß er in wachsendem Maße absturzgefährdeter geworden? war dies hier jetzt Warnung? oder schon Drohung? oder war es wirklich schon der endgültige Absturz? Bloße Schein-Göttlichkeit war der Gipfel seiner überweiterten Bahn gewesen, wahnhaft überweitert zu Jubel und Rausch, zur Erlebnisgröße der Macht und des Ruhmes, überweitert hierzu durch das, was er wahnhaft sein Dichten und seine Erkenntnis genannt hatte, wähnend, er bräuchte nur alles festzuhalten, um die Erinnerungsstärke niemals-endender Gegenwart zu ergattern, die niemals-endende Stete göttlicher Kindheit, und nun erwies sich eben dies als kindische Scheingöttlichkeit, als unzüchtige Göttlichkeitsanmaßung, ausgeliefert jedwedem Gelächter, dem nackten Gelächter der Weiber, dem Gelächter der betrogen-unbetrügbaren Mütter, deren Obhut zu entrinnen er zu schwach gewesen war, am schwächlichsten aber in seinem kindischen Götterspiel. Oh, nichts ist der Nacktheit des Gelächters entgegenzusetzen, kein Gegengelächter vermag dem Hohn standzuhalten, nichts bleibt übrig, als davor die eigene Nacktheit zu verhüllen, die Nacktheit des eigenen Antlitzes, und mit verhülltem Antlitz lag er in dem Tragsessel, verhüllt auch dann noch, als man schließlich doch, allen Aufenthalten zu Trotz, Stufe um Stufe sich vorwärtsschiebend, wahrlich wider alles Erwarten, aus dem höllischen Gassenschlund, aus der höllischen Lachenswildnis entlassen wurde, und ein ruhigeres Wiegen der Sänfte verriet, daß man wieder auf ebenerem Wege sich fortbewegte.Freilich ging die Fortbewegung deshalb noch nicht wesentlich geschwinder vor sich; wiederum rückte man bloß Schritt für Schritt vorwärts, vielleicht sogar noch langsamer als vorher, wenn auch, wie deutlich spürbar, nicht mehr infolge böswilliger Hindernisse, sondern weil hier, merkbar am Menschengemurmel, merkbar am Menschengeruch, merkbar an der dickdunstiger werdenden Menschenwärme, sich das Gedränge neuerdings gesteigert hatte und offenbar sich noch weiter steigerte. Allein, obwohl dem Hörbereich der Elendsgasse entronnen, er glaubte die keifend-gellenden Schimpfreden nach wie vor in seinem Ohre zu spüren, ja fast dünkte ihm, als wären sie ihm eigens nachgefolgt, erinnyengleich ihn als Jagdwild zu hetzen und zu quälen, nicht minder aber, um sich mit , dem ringsum aufkeimenden, rasch anschwellenden Massenlärm, der die wiedererreichte Nähe des Kaiserfestes anzeigte, zu vereinigen, auf daß die Hetzqual, einvermählt all diesem Jubellärm, all diesem Machtlärm, all diesem Rauschlärm, unverringert weiterwirke, und während ihm dies inne wurde, unabwehrbar die Stimmenmasse des Innen und Außen, so sehr unabwehrbar, daß ihn deren grelle Qual schier zum Vergehen brachte, wurde mit gleicher Unabwendbarkeit auch das Licht so unerträglich lärmend, so unerträglich grell, daß es scharf durch die noch geschlossenen Lider drang und diese zu einem Aufblinzeln nötigte, dessen zuerst widerwilliges Zögern sich allerdings sehr bald zu großgeöffnetem Entsetzen weitete: unterweltsfeurig strahlte es ihm entgegen, strahlte vom Ausgang der mäßig breiten Straße her, durch die sich, Kopf an Kopf, die Menschenmenge vorwärtsschob, entsetzenerregend grell strahlte es ihm von dorther in die Augen, strahlte wie ein magischer Lichtquell, der alles, was sich da bewegte, in ein schier zwangsläufig-selbsttätiges Hinströmen verwandelte, beinahe hätte man meinen können, daß sogar auch die Sänfte selbsttätig mitschwamm, gleichsam mitgeschwemmt, kaum mehr, daß sie getragen wurde, und mit jedem Schritt, mit jedem Vorwärts gleiten ward die Macht jener geheimnisvollen, unheilsträchtigen, sinnlos-großartigen Anziehungskraft deutlicher fühlbar, wurde furchtbarer, wurde dringlicher, wurde eindringlicher, wurde herznah und herznäher, anwachsend und anwachsend, um endlich mit einem Schlag sich zur Gänze zu enthüllen, enthüllt in dem Augenblick, da die Sänfte, geschoben, gezogen, getragen, hoch in ihrem schwimmenden Schweben, auf einmal an der Straßenausmündung sich befand, denn jählings wurde nun hier, feuerumkränzt und lärmumringt, bar jedes Lichtschattens, bar jedes Lautschattens, in schattenloser Licht- und Lärmblendung, schimmerstrahlend der kaiserliche Palast sichtbar, halb Stadthaus und halb Festung, in vulkanisch unterweltlichem Leuchten emporgehoben aus der Mitte eines schildförmig aufgebuckelten, fast kreisrunden Platzes, und dieser Platz war eine einzige Flut zusammengeballter Geschöpflichkeit, war zusammengeballter, formgewordener, formwerdender, brodelnder Menschenhumus, war eine Flut glosender Augen und glosender Blicke, die allesamt inbrünstig steif, gleichsam jeglichen anderen Inhaltes verlustig, auf das eineinzige, schattenlos glühende Ziel gerichtet waren, eine menschliche Feuerflut, gierig an dieser Feuerküste zu lecken. So ragte die Burg, umbrandet von Fackeln, unwiderstehlich und verlockend, das sinngebende Richtungsziel für die unwiderstehlich angelockte, drängende, schnaubende, stampfende Herdengesamtheit, unbändig sehnsüchtiges Willensbewußtsein der Herde, das Ziel ihrer unbändigen Richtungsgier, eben darum aber auch das Bild einer entsetzenerregenden, dumpfsprühenden, niemals auffindbaren Rätselmacht, unbegreiflich für das Einzeltier, unbegreiflich für den Einzelmenschen, oh, derart unverständlich, daß die Frage nach dem Sinn und nach dem Grunde der in dem Flammenhaus ein gefangenen und daraus hervorstrahlenden übermächtigen Anziehung wohl in einem jeden von ihnen wühlte, antwortsbangend, antwortshoffend, und wenn auch keiner sich eine wirkliche Antwort zu geben vermochte, so war selbst die bescheidenste und unzureichendste danach angetan, hoffnungserfüllend zu wirken, als Rettung des Bewußtseins, als Rettung der Menschlichkeit und der Seele, als eine Seinsrettung, die stolz zu verkünden sich verlohnte Wein“ hieß es, Freiwein“, und Die Prätorianer“ hieß es, und Der Cäsar wird sprechen“ hieß es, und plötzlich verkündete einer mit japsender Stimme: Sie teilen schon das Geld aus!“ So strahlte die Burg ihnen die Verlockung zu, so stachelten sie sich selber und einander an, damit ihnen die große Verlockung nicht zweifelhaft werde und damit die Angst vor der sicheren Enttäuschung, die an dem sehnsuchtbegehrten Geheimnisgemäuer sie erwartete, nimmermehr das wilde Begehren ermatten ließe, die große Sehnsucht nach der Teilhaberschaft: billige Antworten für so große Hoffnung, billige Zurufe, billige Anstachelungen, doch jedesmal ging ein Ruck durch die Masse, durch die Körper, durch die Seelen, stierhaft, unzüchtig, unwiderstehlich, dumpf auf das gemeinsame Ziel vorstoßend, ein zusammengehalltes Gebrause und Gestampfe, Vorstoß um Vorstoß hinein in ein loderndes Nichts. Und dick zusammengeballt schwelte der Herdengeruch über den Köpfen, überhangen vom Fackelqualm, glühend der Rauch, unatembar, hustenreizend, erstickend, dicke braune Schwaden, die träge aufeinandergelagert, Schicht um Schicht, in der unbewegten Luft steckenblieben, oh, des Höllennebels schwere, unzerteilbare undurchdringliche Schichten, die Decke des Höllennebels! Gab es da keinen Ausweg mehr? gab es keine Flucht? oh, zurück! zurück zu dem Schiff, um dort ruhig sterben zu dürfen! Wo war der Knabe?! der mußte, der sollte den Weg zurück weisen! Bei wem lag die Entscheidung?! Ach, eingefügt in die Masse und in das Gefüge ihrer Bewegung gab es da nichts mehr zu entscheiden, und die Stimme, welche zur Entscheidung aufrufen wollte, löste sich nicht mehr aus dem Atem; die Stimme blieb blind! Indes der Knabe, als hätte er den stummen Ruf gehört, sandte ein Lächeln herauf, ein Augenlächeln voll heiterer Entschuldigung, voll heiterer Zuversicht, voll eines heiteren Trostes, welcher weiß, daß man schon längst jeglicher Entscheidung enthoben war, ja, daß die getroffene die richtige sein würde, und dies machte froh, ungeachtet all der Furchtbarkeit des Kommenden. Ringsumher waren die Gesichter, Kopf an Kopf, Alltagsgesichter mit ihrer alltäglichen, freilich auch schon weitaus übersteigerten Sauf- und Freßlust, und diese Übersteigerung, sich selber übersteigend, war zu einer geradezu jenseitigen Inbrunst geworden, zu einem brutalen Jenseits, das jedweden Alltag weltenferne hinter sich gelassen hatte und nichts anderes mehr kannte als das Sekunden-Jetzt des übermächtigen, des leuchtenden Zieles, inbrünstig ersehnt, inbrünstig begehrt, inbrünstig gefordert, auf daß dieses Jetzt den Kreis ihres ganzen Lebens beschatte und zur Teilhaberschaft bringe, zur Teilhaberschaft an der Macht, an der Vergottung, an der Freiheitsgröße, an der Unendlichkeit des Einen, der dort im Palaste saß. Ruckweise, wellenartig, zuckend, angestrengt, explosiv, keuchend und stöhnend bewegte sich das Gefüge vorwärts, gewissermaßen gegen einen elastischen Widerstand vorstoßend, der unzweifelhaft vorhanden war, da er sich in ebenso ruckartigen Gegenwellen äußerte, und in diesem gewaltig-gewaltsamen Vor und Zurück wurden allenthalben die Schreie der Strauchelnden, der Niedergetretenen, der Verletzten, vielleicht sogar die von Sterbenden vernehmbar, mitleidlos unbeachtet oder gar verspottet, immer wieder jedoch übertönt von den jubelnden Heilrufen, erstickt von dem wütenden Getöse, zerfetzt vom Geprassel der Feuer. Ein ungeheuerliches Jetzt stand auf dem Spiele, ein unendlich vervielfachtes, ein Herdenjetzt, aufgeworfen vom Gebrüll der Herden, ein ins Getöse gestürztes Jetzt und zugleich herausgestürzt aus dem Getöse, aufgeworfen von Sinnesverwirrten, von Sinnesverlorenen, von Irrsinnigen, sinnesentblößt aus Seelenverlust, dennoch so sinnübersteigert in der Gesamtheit, daß alles Vergangene und alles Zukünftige darein verschlungen war, das Tosen aller Erinnerungstiefen in sich aufnehmend, die fernste Vergangenheit und die fernste Zukunft in seinem Brausen bergend! Oh, Größe der Menschenvielfalt, Weite der Menschensehnsucht! Und schwebend in seiner Wachheit, schwebend emporgetragen über den brüllenden Köpfen, schwebend emporgehoben über den Jubelbrand des tosenden Brundisium, schwebend emporgehalten in den schwebenden Augenblicken des Jetzt, erlebte er die grenzenlose Verkürzung des Zeitablaufes im Kreis der Unabänderlichkeit: alles war ihm zu eigen, alles war ihm einverleibt, war ihm angehörig, so sehr, wie es ihm von Anbeginn angehörig gewesen war zur ewigwährenden Gleichzeitigkeit, und es war Troja, das um ihn brannte, es war der niemals verlöschende Weltenbrand, doch er, der über den Bränden schwebte, er war Anchises, blind und sehend in einem, Kind und Greis gleichzeitig kraft unsäglicher Erinnerung, getragen von den Schultern des Sohnes, er selber Weltengegenwart, getragen von des Atlas Schultern, von den Schultern des Riesen. Und so ging es Schritt für Schritt dem Palaste zu.Der engere Umkreis des Palastes war von einem Polizeikordon abgesperrt; Mann an Mann, mit quer gelegten Lanzen, fingen die Bewaffneten den Ansturm der heranflutenden Menge auf und leisteten ihr ebenjenen elastischen Widerstand, welcher in dem wellenartigen Zurückfluten, das schon am Rande des Platzes bemerkbar gewesen war, sich immer wieder und wieder auswirkte. Hinter dem Kordon aber hatte die Prätorianerkohorte, deren Eintreffen aus Rom offenkundig ein besonderes Ereignis bedeutete, die Ehrenwache bezogen, und ihr Dasein war breitspurig hochwüchsiges, furchteinflößendes Nichtstun in kriegsmäßiger Aufmachung mit Patrouillen und Wachtfeuern und großaufgeschlagenen Kantinenzelten, aus denen die Hoffnung und der Duft des Freiweines aufstieg, trügerisch wahrscheinlich, aber gerne geglaubt. Bis hierher konnten die Schaulustigen gelangen; weiter nicht. Und hier war der Punkt, in dem Hoffnung und Enttäuschung einander die Waage hielten, unheimlich und gespannt wie jede Entscheidung zwischen Leben und Tod, wie jede Lebenssekunde, weil jede beides enthält, und wenn der warme Hauch der Feuer über das Getriebe hinstrich, die hohen Federbüsche der Helme aufplusterte und die vergoldeten Rüstungen aufglänzen ließ, wenn das heiser-überlegene Zurück!“ der Polizeimannschaft sich dem lärmenden Ansturm entgegenwarf, dann stieg die Besessenheit stichflammengleich ins Atemlose, und die Gesichter mit trockenen Lippen und züngelnden Zungen starrten stuff und begehrlich in das Sekundenfeuerwerk der Unsterblichkeit, denn es stand die Zeit auf des Messers Schneide. Am wüstesten ging es natürlich vor dem Palasteingang zu, besonders da nach dem Eintritt des Cäsars unbedachterweise die Doppelspaliere, durch die er heraufgezogen war, aufgelöst worden waren und nichts mehr der Entfesselung Einhalt gebiqten konnte; bar jeglicher Ordnung, wie von einem Trichterwirbel erfaßt, strudelte es zähflüssig dieser Toreinfahrt zu, die mit ihrer beidseitigen dichten Fackelreihe einem Feuerrachen glich, strudelte hinein, gestaut und wieder ausgestoßen, gellend, verbissen, roh, trampelnd, vor Verlangen tobsüchtig: weit eher hätte man sich vor einem Zirkuseingang als vor einer kaiserlichen Behausung wähnen mögen, so toll war das Treiben und der Hader, der da statthatte und gegen die Einlaßkontrolle ankämpfte, so mannigfach die Listigkeit der Unbefugten, welche die Beamten zu übertölpeln und zu überrennen versuchten, so wütend das Geschrei der Befugten, denen man die Berechtigung nicht glaubte oder ein ungebührlich langes Warten zumutete, und gar, als auf ein Wort des alten Palastdieners, dessen Nutzen sich erst hiermit enthüllte, die Eskorte sofort eingelassen wurde, da stieg der Zorn derjenigen, die ohne Ansehen der Person mit den Kontrollfor-malitäten belästigt wurden, jäh bis zur Siedehitze; sie fühlten sich ob ihrer Zurücksetzung verächtlich gemacht, sie fühlten die Verächtlichkeit alles Menschlichen und aller menschlichen Einrichtungen, und es wurde ihnen dies jählings bewußt, weil ein Einzelner ausgenommen wurde, ausgenommen werden durfte, und daran verschlug nichts, daß es nur jene Ausnahme war, die einem Sterbenskranken und dem Tode gebührt. Keinen gibt es, der nicht den Nebenmenschen zu verachten geneigt ist, und in dem Gewimmel der Verächtlichkeit, das namenlos und unsäglich sich stets aufs neue auftut und schließt, dämmert das Wissen des Menschen um sein eigenes Unvermögen zum Menschentum, sein Bangen um eine Würde, die ihm verliehen ist, ohne daß er ihrer habhaft zu werden vermöchte. Verachtung kämpfte gegen Verachtung im engen heißen Trichter der Toreinfahrt. Kein Wunder also, daß dahinter, im Innern des Hofes, entronnen dem gierigen Kampfe, entronnen der unterweltlich rauhfarbenen Lichtgrelle, er von all dem Schimpf sich befreit wähnte, der ihn in den Gassen und auf dem Platze draußen verfolgt hatte, und fast war es die nämliche Erleichterung wie jene, die ihm nach dem Schwinden der Seekrankheit zuteil geworden war, die nämliche Beruhigung, obwohl der Ort, wo er jetzt landete, sich wahrlich nicht als Ruhe zeigte, vielmehr der Hof vor Unordnung geradezu zu bersten schien. Immerhin, es war nur eine scheinbare Unordnung; die kaiserliche Dienerschaft, an derartige Vorfälle gewohnt, hielt genaue Disziplin, und alsbald trat auch einer der Hof beamten, versehen mit einer Gästeliste, an die Sänfte heran, um den Ankömmling in Empfang zu nehmen, gleichmütig zu dem Diener gewandt, von dem er sich des Gastes Namen zuraunen ließ, gleichmütig den Namen zur Kenntnis nehmend und ihn in der Liste abstreichend, so gleichmütig und gleichgültig, daß es einen berühmten Dichter schlechterdings beleidigend anmuten mußte, so beleidigend, daß er die Notwendigkeit empfand, die Angabe des Dieners zu bestätigen und zu verstärken: Ja, Publius Vergilius Maro, so heiße ich“, sagte er und wurde bitterböse, als er sogar hierfür nur eine kurze höfliche, doch nicht minder gleichgültige Verbeugung einheimste, und selbst der Knabe, von dem er Unterstützung erhofft hatte, nichts verlauten ließ, sondern sich bloß gehorsam dem Zuge anschloß, der nun auf den Wink des Beamten sich dem zweiten Peristylhof zu bewegte. Allerdings, der Ärger währte nicht lange, er schwand vor der Ruhe, die den Ankömmling nun wirklich umfing, da die Sänfte in diesen beinahe vollkommen stillen, springbrunnendurchrieselten Gartenhof getragen und daselbst vor dem Megaron abgesetzt wurde, das der Cäsar als Wohntrakt für seine Gäste bestimmt hatte; vor dem Eingang waren die Haussklaven zum Empfange aufgestellt, und es wurden die fremden Träger abgefertigt. Auch dem Knaben ging es nicht anders; es wurde ihm der Mantel abgenommen, und da er sich nicht vom Platze rührte und bloß lächelte, herrschte ihn der Hof beamte an: Was stehst du da noch herum? mach, daß du fortkommst!“ Der Knabe blieb stehen, freundlich und spitzbübisch, und desgleichen hielt sein Lächeln an, vielleicht ob der rüden Form, mit der seine Führung bedankt wurde, vielleicht aber auch ob der Vergeblichkeit einer Bemühung, die nie und nimmer imstande sein würde, ihn wegzubringen. Nichtsdestoweniger – hatte dieses Bleiben irgendeinen Sinn? war dieses Bleiben zu wünschen? was sollte er, ein müder, einsamkeitsbedürftiger Kranker da mit dem Jungen anfangen?! Und doch, welch sonderbare Angst, allein zu bleiben! welch sonderbare Angst, den jungen Führer nunmehr verlieren zu müssen! –Mein Schreiber“, sagte er, und es war beinahe gegen seinen eigenen Willen gesagt, es war, als hätte etwas Fremdes in ihm, aus ihm gesprochen, fremd und dabei dunkelvertraut, Wille, der größer als der eigene ist, ein willenloser Wille, dennoch zwingend und übermächtig, die Nacht. Leises mächtiges Wollen, aus der Nacht entfaltet. Leise war der Gartenhof, leise der Blumenatem, leise plätscherten die beiden Springbrunnen; ein dunkelzarter leis-feuchter Duft, nachtfrühlingshaft im Herbste, webte kühl und feingesponnen über den Beeten, und darein verwoben wehte schleierstreifen gleich, einmal näher, einmal entfernter, die Musik aus dem Vordergebäude, Klangschleier um Klangschleier, bestickt mit Zymbelpunkten, eingebettet in den grauen Nebel der Stimmen, mit dem das Fest dort über sich selbst hinaussickerte, dort ein klingender, schmetternder Lichterlärm, hier nur noch ein weicher Klangnebel, der im ungeheueren Nacht-Raum verrieselte; das über den Hof gespannte Himmelsviereck ließ nun wieder die Sterne sehen, sichtbar wieder ihr Atemlicht, obschon von den darunterhinziehenden Qualmwolken hier und da verdeckt, aber selbst diese waren durchsickert von dem weichrieselnden Klangnebel, nahmen teil an dem wehend-verwehenden Nebelgemurmel, das den Hof durchschwängerte, jedwedes Ding einhüllte, einverschmolzen Ding und Duft und Klang, himmelwärtssteigend in die Stille der Nacht, und drüben an der Mauer stand, den hartbastenen Stamm undeutlich beleuchtet, ragend bis zur Dachhöhe, in steifer Herbheit schwarzfächerig und abweisend eine Palme, nachttragend auch sie.Oh, Sterne, oh, Nacht! oh, es war die Nacht, endlich die Nacht! Und es war des Nachtklingens feucht-tiefer Dunkelheitsatem, den er, schmerzender Brust, tief in sich einsog. Doch allzulange verweilte er schon, er mußte Anstalten treffen, sich aus der Sänfte zu erheben, und er war ein wenig verärgert, daß die Fürsorglichkeit des Cäsars, der ihm den lästigen Arzt aufs Schiff geschickt hatte, nicht bis hierher reichte, und daß augenscheinlich niemand wußte, wie sehr gebrechlich er war; dabei hatten sie den Koffer mit der Äneis bereits ins Haus geschafft, und es galt eilends zu folgen. Komm, hilf mir“, befahl er den Knaben zu sich, indem er sich aufrichtete, und dann, auf des Knaben Schulter gestützt, versuchte er die ersten Treppenstufen zu bewältigen, freilich um sofort zu merken, daß Herz, Brust und Knie versagten und daß er sich überschätzt hatte; er mußte sich von zwei Sklaven hinauftragen lassen. Drei Stockwerke ging es hinan, vorne der gleichgültige Hofbeamte, der die Gästerolle wie einen Feldherrnstab gegen die Hüfte gestemmt hielt, hinterdrein vieltrittig die Sklaven mit dem Gepäck, und als man droben in dem vorbereiteten luftigen Gastgemach anlangte, da war leicht zu erkennen, daß sich dieses in der turmartigen südwestlichen Palastecke befand; durch die offenen Rundbogenfenster, die ein gutes Stück oberhalb der Stadtdächer lagen, strich ein kühler Hauch, eine kühle Erinnerung an vergessenes Land, an vergessenes Meer, strich meerhaft und erdhaft der Hauch der Nacht durch das Zimmer; schräg abgeweht brannten Kerzenflammen auf dem vielarmigen blumenbekränzten Kandelaber in der Mitte des Raumes, kühl ließ der Wandbrunnen einen zartfächrigen Wasserschleier über die Marmortreppchen seines Aufbaues herabrieseln, das Bett unter dem Moskitonetz war gerüstet, und auf dem Tisch neben dem Lager waren Speisen und Wein angerichtet. Nichts fehlte, ein Lehnsessel stand zur Beschaulichkeit beim Erkerfenster und der Leibstuhl in der Zimmerecke; das Gepäck wurde griff bequem aufgestapelt, der Manuskriptkoffer auf besonderes Geheiß zum Bette hingerückt, es klappte alles so genau und so geräuschlos, wie ein Kranker es sich nur wünschen konnte, aber freilich, dies war schon nicht mehr das Verdienst des Augustus, dies war bloß die glatte Fürsorglichkeit einer tadellos arbeitenden, großausge-statteten Hofhaltung, es war ohne Freundschaft. Man mußte es hinnehmen, man mußte es annehmen, die Krankheit nötigte hierzu, es war ein Muß der Krankheit, ein lästiges, bitterkeitserzeugendes Muß, und dabei richtete sich diese Bitterkeit nicht einmal so sehr gegen das Siechtum selber als gegen den Augustus, offenbar, weil der die Gabe hatte, jegliche Dankbarkeit unweigerlich zu vereiteln. Die Bitterkeit gegen den Augustus –war sie nicht von Anfang an vorhanden gewesen? wahrlich, alles war dem Augustus zu verdanken, Frieden und Ordnung und die eigene Sicherheit, kein anderer hätte es zustande gebracht, und wäre statt seiner der Antonius zur Herrschaft gelangt, es hätte Rom niemals zum Frieden zurückgefunden, wahrlich, und doch! ja, und doch! und doch noch immer Mißtrauen gegen diesen Menschen, der nun die vierzig bereits überschritten hatte, ohne daß er wirklich gealtert wäre, unverändert seit fünfundzwanzig Jahren, und der mit der nämlichen frühreifen Glätte und Schlauheit heute wie damals die Fäden der Politik in gewandten Händen hielt –, war das bittere Mißtrauen gegen diesen überalterten Jüngling, dem man alles verdankte, nicht vollkommen berechtigt? nichts als Glätte war es, was ihn auszeichnete, glatt seine Schönheit, glatt seine Freundlichkeit, die man so gerne als Freundschaft auffassen möchte und die doch keine Freundschaft war, sondern immer nur selbstischen Zwecken diente, und jeder ging ihm ins Garn, in solch glattes Garn! Und nun war es wieder so weit, nun gab es wiederum jene Freundschaftsheuchelei –, warum nur hatte der Heuchler darauf bestanden einen Kranken in seinem Troß nach Italien zurückzuschleppen? Ach, besser wäre es noch gewesen auf dem Schiffe zu sterben, besser als hier liegen zu müssen, inmitten dieser glatten Hofhaltung, wo alles zu makellos war, nur allzu makellos, während drüben beim Kaiserfeste unter Lichter- und Musikgeschmetter sich der kaiserliche Un-Jüngling lärmend umfeiern Heß. Als fernes und fremdes Brausen, unzüchtig auf-und abschwellend, kam der Lärm von dort herüber, den Nachthauch verunreinigend.Aber im Nachthauch war alles vereinigt, Festgebraus und Bergesstille und das Glitzern des Meeres, das Einst und das Jetzt und wiederum das Einst, eines ins andere einfließend, eines ins andere verflossen – würde er nochmals nach Andes zurückkehren dürfen? Hier war Brundisium, dächerreich und gassenerleuchtet, ausgebreitet unter dem Erkerfenster, zu dem er sich hatte bringen lassen und vor dem er nun im Lehnsessel saß, hier war bloß Brundisium, und er lauschte in die Nacht hinaus, lauschte in die Ferne des Einst, dorthin, wo das Sterben gut sein sollte; nein, er hätte nicht hierher kommen sollen, am allerwenigsten in dieses unfreundschaftlich wohleingerichtete Gastgemach. An den schrägbrennenden Kandelaberkerzen baute sich, Wachstropfen um Wachstropfen, einseitig an einer jeden von ihnen, ein rasch dicker werdender, zackiger, wächserner Steg an.Herr …“ Der Hofbeamte stand vor ihm.Ich habe keine Wünsche mehr.“Der Beamte wies auf den Knaben hin: Haben wir deinen Sklaven unterzubringen? es war nicht vorgesehen …“Wahrlich, der Lästige hatte recht; es war nicht vorgesehen gewesen.Doch wenn du ihn hier in deiner Nähe untergebracht zu haben wünschest, so wollen wir uns sicherlich sofort bemühen, o Herr, dir gefällig zu sein …“Es ist nicht nötig … er wird in die Stadt gehen.“Außerdem wird dieser hier“ – der Beamte wies nun auf einen Mann in der Sklavengruppe – sich nachtsüber zu deinem Geheiß im Nebenraum aufhalten.“Gut… ich hoffe seiner nicht zu bedürfen.“So darf ich mich entfernen …“Tue dies.“Zu viel der Vorbereitungen war es bereits; ungeduldig die Hände verschränkend, ungeduldig an dem Siegelring drehend, wartete er, daß der kalt Beflissene mitsamt seinen Leuten endlich das Zimmer verlassen würde, aber als es geschehen, da war wider Erwarten der von dem Beamten bezeichnete Sklave, ein Mann mit orientalisch dicker Nase im strengen Lakaiengesicht, nicht mit den anderen gegangen, sondern war, als wäre es so bestellt, an der Türe zurückgeblieben.Schicke ihn fort“, bat der Knabe.Der Sklave fragte: Befiehlst du bei Sonnenaufgang geweckt zu werden?“Bei Sonnenaufgang? warum?“ Für einen Augenblick war es, als ob die Sonne, trotz der nächtlichen Stunde, nicht vom Himmel verschwunden wäre, zwar versteckt in westlichen Regionen, dennoch anwesend, Helios, nachtüberdauernd, nachtbezwingend, gewaltiger als die Mutter, aus deren Schoß er hervorgegangen ist.Nichtsdestoweniger, man mußte dem Sklaven, der des Bescheides harrte, Antwort geben: Du mußt mich nicht wecken; ich werde wohl wach sein …“Man hätte meinen können, daß der Mann die Antwort nicht gehört hatte; er blieb unbewegt stehen. Was sollte dies bedeuten? was wollte der Mann damit ausdrücken? etwa, daß für den, der nicht geweckt wird, kein neuer Tag anbrechen würde? Nacht war es, mütterlich ruhige Nacht, milde ihr Hauch, und , mild war es, sich vorzustellen, daß sie ewig währen könnte; nein, der Sklave war unerwünscht, ebenso unerwünscht wie die Aussicht von ihm geweckt zu werden: Du kannst dich zur Ruhe begeben …“Endlich“, bemerkte der Knabe, als der Sklave die Türe hinter sich zugezogen hatte.Endlich, ja doch … nun aber zu dir, kleiner Führer … was machst du eigentlich noch hier? hast du ein Anliegen an mich? ich will es gerne erfüllen …“Der kleine Führer stand auf gegrätschten Beinen da, das runde, etwas derbe und, man mußte es leider zugeben, eher unschöne Bauernjungen gesicht ein wenig gesenkt, freilich auch ein wenig beleidigt, tolpatschig mit vorgeschobener Unterlippe: Du willst auch mich fortschicken …“Die andern habe ich fortgeschickt, dich nicht… dich frage ich bloß …“Du sollst mich nicht fortschicken …“ Die rauhleise Jungenstimme klang vertraut, beinahe heimatlich ihr eigentümlich bäurischer Unterton. Die Stimme war wie ein fernes, kaum erinnerbares Einverständnis, war Einverständnis in einem uner-forschlich fernen, mütterlichen Einst, von dem auch ein Wissen in den hellen Augen des Knaben glänzte.Ich habe nicht die Absicht, mich deiner zu entledigen, aber ich nehme an, daß es dich wie so viele andere zum Fest des Cäsars gedrängt hat …“Das Fest ist mir gleichgültig.“Alle Jungen wollen zum Fest; du bräuchtest dich dessen nicht zu schämen, und mein Dank für deine Führerschaft würde darum nicht geringer werden …“Die Hände auf dem Rücken, wandte sich der Knabe ein bißchen hin und her: Ich mag nicht zum Fest.“In deinem Alter wäre ich sicherlich hin gegangen, und sogar heute täte ich es noch, wenn ich gesünder wäre, aber gingest du an meiner Statt, es wäre mir fast, als würde ich selber daran teilnehmen … spaßig eingeschmuggelt in anderer Gestalt … sieh, hier sind Blumen; mach dir einen Kranz, der Augustus möge Gefallen an dir finden.“Ich will nicht.“Schade … was willst du denn?“Hier bei dir bleiben.“Das Bild der Festhallen, in die der Junge hätte eingeschmuggelt werden sollen, um vor das Gesicht des Augustus zu treten, das Bild verflüchtigte sich: Du willst bei mir bleiben …“Immer.“Ewigwährende Nacht, in der die Mutter waltet, das Kind hinschlummernd im Unveränderbaren, dunkelheitsschlummernd aus dem Dunkeln ins Dunkle, oh, süße Unveränderlichkeit des Immer.Wen suchst du?“Dich.“Der Knabe irrte sich. Was wir suchen ist versunken, und wir sollen es nicht suchen, da es mit seiner Unauffindbarkeit uns nur verhöhnt.Nein, mein kleiner Führer, du hast mich geführt, doch nicht mich gesucht.“Dein Weg ist der meine.“Von wo kommst du?“Du schifftest dich in Epirus ein.“Und du kamst mit mir?“ "Ein Lächeln bejahte die Frage.Aus Epirus, aus Griechenland … indes, du sprichst die Sprache Mantuas.“Wiederum lächelte der Knabe: Es ist deine Sprache.“Die Sprache meiner Mutter.“Zum Gesang wurde die Sprache in deinem Munde.“Gesang –, Sphärenluft, die sich selber singt, über alles Menschliche hinausreichend: Warst du es, der auf dem Schiffe sang?“Ich lauschte.“Oh, mütterlicher Gesang der Nacht, durchklingend durch die Nacht, seit jeher erklungen, immer gesucht, sooft der Tag angebrochen war: Ich war so alt, wie du heute es bist, ja, sogar noch um ein weniges jünger, als ich meine ersten Verse schrieb, allerhand durcheinander… ja, so war es damals; ich mußte mich finden … meine Mutter war damals gestorben, nur der Klang ihrer Stimme war geblieben … nochmals, wen suchst du?“Ich brauche nicht zu suchen, da du es tatest.“Stehe ich also doch an deiner Stelle, obwohl du nicht statt meiner zum Fest gehen willst? und schreibst du vielleicht ebenfalls Verse, wie ich es getan habe?“Verneinend abweisende Lustigkeit zeigte sich in dem vertrauten Jungengesicht; auch die Sommersprossen auf der Nasenwurzel waren ein durchaus vertrauter Anblick.Also du schreibst keine Verse … ich hatte dich bereits im Verdacht, daß du einer von jenen wärest, die es darauf angelegt haben mir ihre Gedichte und Dramen vorzulesen …“Der Knabe schien nicht begriffen zu haben, oder er kehrte sich nicht daran: Dein Weg ist Dichtung, dein Ziel ist jenseits der Dichtung …“Das Ziel lag jenseits der Dunkelheit, lag jenseits der Gefilde des mütterlich behüteten Einst; mochte der Knabe auch von einem Ziele reden, er wußte nichts davon, er war zu jung dazu, er hatte geführt, aber nicht um des Zieles willen: Wie immer es sei, du kamst zu mir, weil ich ein Dichter bin … oder nicht?“Du bist Vergil.“Das weiß ich … außerdem hast du es den Leuten da drunten auf dem Hafenplatz deutlich genug in die Ohren geschrieen.“Es hat aber nicht viel genützt.“ Die Lustigkeit in dem Jungengesicht wurde zu einem Zwinkern, zu einem komischen Nasenrümpfen, so daß sich das Sommersprossenband an der Wurzel zu vielen kleinen Falten zusammenzog, und die entblößten weiß-regelmäßigen, sehr starken Zähne schimmerten im Kerzenlicht; es war die nämliche Lustigkeit, mit der er drunten auf dem Platze versucht hatte, die Bahn für den Dichter Vergil freizubekommen, und es war die nämliche Lustigkeit, die von einem sehr fernen Einst herstammte.Irgend etwas zwang zum Sprechen, zwang dazu, selbst auf die Gefahr hin, daß es ein Knabe nicht verstehen würde: Der Name ist wie ein Kleid, das uns nicht gehört; nackt sind wir unter unserem Namen, nackter noch als das Kind, das der Vater vom Boden aufgehoben hat, um ihm den Namen zu geben. Und je mehr wir den Namen mit Sein erfüllen, desto fremder wird er uns, desto unabhängiger wird er von uns, desto verlassener werden wir selber. Erborgt ist der Name, den wir tragen, erborgt das Brot, das wir essen, erborgt sind wir selber, nackt hineingehalten ins Fremde, und nur derjenige, der allen erborgten Flitter von sich abgetan hat, der wird des Zieles ansichtig, der wird zum Ziele gerufen, auf daß er sich mit seinem Namen endgültig vereinige.“Du bist Vergil.“Ich war es einstens; vielleicht werde ich es wieder sein.“Noch nicht, und doch schon“, kam es wie Bestätigung von des Knaben Lippen.Es war Trost, freilich bloß der Trost, den ein Kind zu spenden vermag, und das war kein ausreichender Trost.Dies ist ein Haus der erborgten Namen … warum hast du mich hergeführt? ein Haus der Gäste ist es.“Aufs neue zeigte sich das Lächeln des Einverständnisses, kindlich und fast spitzbübisch, doch eingebettet in eine sehr große, ja, zeitlose Vertrautheit: Ich bin zu dir gekommen.“Und sonderbar, nun genügte die Antwort, gleichsam als wäre sie ein ausreichender Trost, und sie genügte sogar auch schon für die nächste Frage, welche sich, womöglich noch sonderbarer, daraufhin einstellte, sonderbar in ihrer Unabweisbarkeit: Kommst du aus Andes? fuhrst du nach Andes?“ Er wußte nicht, ob er die Frage tatsächlich laut ausgesprochen hatte, allein er wußte, daß er keine Antwort hören wollte, weder eine bejahende, noch eine verneinende, denn weder durfte der Knabe aus Andes stammen, noch durfte er es nicht, allzu erschreckend wäre das erste, allzu sinnlos das zweite gewesen. Nein, keine Antwort sollte erfolgen, und daß sie nicht erfolgte, war richtig; aber überaus mächtig war der Wunsch, den Knaben hier behalten zu dürfen, mächtig war der Wunsch, atmen zu dürfen, atmend zur Ruhe hin und zur Ahnung, oh, der Wunsch war selber Ahnung. Schräg brannten die Kerzen in dem weichen Lufthauch, der wie eine kühle, zarte und mächtige Sehnsucht einherflutete, dahinflutete, aus der Nacht kommend, in die Nacht sich ergießend; die Silberampel neben dem Ruhelager pendelte leise an ihrer langen Kette, und draußen vor dem Fenster verzitterte und verebbte über die Dächer hin der Dunst der Stadt, löste sich purpurn auf, purpurviolett im Dunkelblauen und Schwarzen und Unbegreiflichen und Wogenden.Atmen, ruhen, warten, schweigen. Aus der Nacht kommend, in die Nacht sich ergießend, strömte das Schweigen, und lange währte es, bis er es unterbrach: Komm, setze dich zu mir“, beschied er den Jungen an seine Seite, und auch als sich dieser zu ihm hingekauert hatte, hielt das Schweigen an, blieben sie vom Schweigen umfangen, hingegeben der schweigenden Nacht. Von ferneher tobte es, tobte der Lärm der Schauwütigen, tobte das Getöse des Festes, brodelte das Kreatürliche, orkusartig, dumpf, unabwendbar, verlockend, unzüchtig und unwiderstehlich, wild und satt zugleich, blind und starrend, die stampfende Herde, die im schattenlosen Truglicht der Fackeln und Brände sich an den Unheilsabgrund des Nichts drängt, fast unrettbar, fast unerrettbar, würde nicht selbst auch noch hierin – und je länger man hinlauschte, desto deutlicher wurde es vernehmbar – ja würde nicht auch noch hierin der Gesang des Schweigens enthalten gewesen sein, enthalten seit jeher, enthalten für immer, des Schweigens Glockengeläute, anschwellend zum erzenen Geläute der Nacht und zum Geläut aller Menschenherden, leise singend die Herdennacht, aufseufzend die Herde in ihrem großen Schlaf: tief unter dem Humus des Seins, schattenrauschend und kindheitsverborgen, schicksalsentlöst, zufallsentlöst und unzuchtsfrei wohnet die Nacht; aus ihr sprießt das Kreatürliche, durchflutet vom Rauschen der Nachtsäfte, geschwängert vom Schlafe, ewig befruchtet vom Quell aller Innigkeit, es sprießen aus ihr in unsäglicher Verwebung und einander einverleibt Pflanze, Tier und Mensch, einander verschattet, denn der Fluch der Rückkehr ist im Segen des Schlafes geborgen, und es ist die holde Decke des Seins, ein Traum-Nichts über das Nichts gebreitet.Oh, das Irdische! Ätherwelt und Nachtwelt im unablässigen Ein- und Ausatmen, schwebend zwischen der doppelten Verlockung der Schattengröße und der Schattenlosigkeit, unabänderlich die Gezeiten des Ablaufs eingespannt zwischen den beiden Polen der Zeitaufhebung, der tierischen und der göttlichen Zeitlosigkeit – oh, in allen Adern des Irdischen, in allem was der Erde entsprossen ist, strömt die Nacht aufwärts, unaufhörlich zu Wachheit und Bewußtheit verwandelt, Innen und Außen zugleich, das Gestaltlose zum dunkelhaltigen, schattenbergenden Gebilde formend, und zwischen dem Nichts und dem Sein, schwebend in solchem Schweben, wird die Welt zu Dunkelheit und Licht, wird sie erkennbar in ihrer Schatten- und Lichthaf-tigkeit. Immer tönt in der Seele, ob leiser, ob lauter, niemals jedoch verlierbar, das Glockengeläute der Nacht, das Glockengeläute der Herden, immer das Löwengebrüll des Tages, erschütternd im Lichte und in der Erkanntheit, der goldene Sturm, der das Kreatürliche verschlingt –, oh, Erkenntnis des Menschen, noch nicht Erkenntnis, nicht mehr Weisheit, aufsteigend aus dem Humus des Seins, aufsteigend aus dem Ur-Lebenden, aufsteigend aus der Mütter Weisheit, emporsteigend in die tödliche Klarheit der Über-Helle, des Über-Lebens, emporsteigend zur brennenden Vater-Erkenntnis, emporsteigend zur Kälte, oh, Erkenntnis des Menschen, unverwurzelte, ewig bewegte, die nicht unten und nicht oben ist, sondern stets an der Dämmerschwelle zwischen Nacht und Tag schwebt, ein Aufatmen und ein Atmen im Zwischenreich der Sternendämmerung, zwischen dem Leben der nächtlichen Herde und dem Tode der lichtumflossenen Vereinzelung, zwischen dem Schweigen und dem Worte, das wieder ins Schweigen zurückkehrt. Nichts Irdisches vermag wahrhaft den Schlaf zu verlassen, und nur wer niemals der Nacht vergißt, die in ihm wohnt, vermag den Ring zu schließen, vermag aus der Zeitlosigkeit des Anfanges zu der des Endes heimzukehren, vermag den Kreislauf stets aufs neue zu beginnen, er selber Gestirn im Unwandelbaren des Zeitenablaufes, aus der Dämmerung aufsteigend, in der Dämmerung verschwindend, Geburt und Wiedergeburt im Nächtlichen und aus dem Nächtlichen, empfangen vom Tage, dessen Helle in das Dunkel eingegangen ist, nachtbergender Tag: ja, so waren die Nächte gewesen, all die Nächte seines Lebens, all die Nächte, durch die er gewandert war, die Nächte, die er durchwacht hatte, voll Angst vor der Bewußtlosigkeit, die unter den Nächten droht, voll Angst vor der Schattenlosigkeit, die über ihnen ist, voll Angst, den Pan zu verlassen, voll einer Angst, die um die Gefahr der zwiefachen Zeitlosigkeit weiß, ja, so waren jene Nächte gewesen, gebannt an die Schwelle des doppelten Abschiedes, Nächte des unabänderlich gleichbleibenden Weltenschlafes, obwohl auf den Plätzen, auf den Gassen, in den Schenken, unweigerlich gleichbleibend in Städten und Aber-Städten von Anbeginn an, unhörbar hertönend aus allen Zeitenfernen und eben darum um so eindringlicher gewußt, die Menschen tobten, Schlaf auch dies, obwohl in Festräumen und Aber-Festräumen sich die Machthaber der Welt feiern ließen, umbrandet von Fackeln und Musik, angelächelt von Gesichtern und AberGesichtern, umworben von Leibern und Aber-Leibern und selber lächelnd, selber werbend, Schlaf auch dies, obwohl die Wachtfeuer brannten, nicht nur vor den Burgen, sondern ebenso draußen, wo Krieg war, an den Grenzen, an den nachtschwarzen Flüssen und an den nachtrauschenden Waldrändern und unter dem blinkenden Angriffsgegröle der aus dem Dunkel hervorbrechenden Barbaren, Schlaf auch dies, Schlaf und Aber-Schlaf wie jener der nackten Greise, die in stinkenden Höhlen sich ihren letzten Rest Wachheit vom Leibe schliefen, wie jener der Säuglinge, die aus dem Elend ihrer Geburt heraus in die dumpfe Wachheit eines künftigen Lebens traumlos hineinträumten, wie jener der angeketteten Knechtsrotte in den Schiffsbäuchen, die wie betäubtes Gewürm auf den Bänken, auf den Planken, auf den Taubündeln hingestreckt waren, Schlaf und Aber-Schlaf, Herde und Aber-Herde, heraufgehoben aus der Ununterscheidbarkeit ihres Urbodens gleich Nachthügelketten, die in der Ebene ruhen, eingesenkt ins unabänderlich Mütterliche, in die ständige Wiederkehr, die noch nicht Zeitlosigkeit ist und sie trotzdem in jeder irdischen Nacht neu gebiert; ja, so waren diese Nächte gewesen, so waren sie es noch immer, so war es auch diese, vielleicht für immerdar, Nacht an der Schwellenkippe von Zeitlosigkeit und Zeit, von Abschied und Wiederkunft, von Herden gemeinschaft und einsamster Einsamkeit, von Angst und von Rettung, und er, an die Schwelle gebannt, Nacht für Nacht an der Schwelle wartend, trübsichtig im Zwielicht des Nachtrandes, in des Weltenrandes Dämmerung, er, wissend um das Geschehen des Schlafes, er war heraufgehoben worden ins Unabänderliche, und selber Gestalt werdend, wurde er zurückgestürzt und aufwärtsgestürzt in die Sphäre der Verse, in das Zwischenreich des irdischen Erkennens, in das Zwischenreich der Mütter, der Weisheit und der Dichtung, in den Traum, der jenseits des Traumes ist und an die Wiedergeburt rührt, Ziel unserer Flucht, die Dichtung.Flucht, oh, Flucht! oh Nacht, die Stunde der Dichtung. Denn Dichtung ist schauendes Warten im Zwielicht, Dichtung ist dämmerahnender Abgrund, ist Warten an der Schwelle, ist Gemeinschaft und Einsamkeit zugleich, ist Vermischung und Angst vor der Vermischung, unzuchtsfrei in der Vermischung, so unzuchtsfrei wie der Traum der schlafenden Herde und doch Angst vor solcher Unzucht: oh, Dichtung ist Warten, noch nicht Aufbruch, aber immerwährender Abschied. Er spürte an seinem Knie, unmerklich fast, die Schulter des hingekauerten Knaben, er sah nicht das Antlitz, spürte nur, wie es im eigenen Schatten versunken war, indes, er sah das wirrdunkle Haar in dem das Kerzenlicht spielte, und er gedachte jener fürchterlichen, glückhaft-glücklosen Nacht, in der er, vom Schicksal getrieben, ein Liebender und Gehetzter auch hier, zu der Plotia Hieria gekommen war und ihr, der Hingekauerten, der winterlich Harrenden, winterlich Unerschlossenen nur eben Verse vorgelesen hatte –, es war die Ekloge von der Zauberin gewesen, jene auf Wunsch und Auftrag des Asinius Pollio verfertigte Ekloge, die ihm niemals so gut geglückt wäre, wenn nicht der Gedanke an die Plotia, wenn nicht die Sehnsucht und die Lustbangigkeit nach dem Weib dabei Pate gestanden hätten, und die ihm doch nur so gut geglückt war, weil er von allem Anfang an gewußt hatte, daß es ihm niemals vergönnt sein würde, die Schwelle zu verlassen und in die vollkommene Nacht der Gemeinschaft einzugehen; ach, weil der Wille zur Flucht ihm seit jeher auferlegt war, hatte er die Ekloge vorlesen müssen, und Furcht wie Hoffnung hatten sich erfüllt, es war zum Abschied geworden. Und ebenderselbe Abschied war es gewesen, der dann nochmals und später und größer von dem Äneas erlebt werden sollte, da er, bemüßigt vom rätselhaft unergründlichen Schicksalsablauf der Dichtung, mit flüchtenden Schiffen ins Unwiderrufliche ziehend, die Dido verlassen hatte, für immer verzichtend bei ihr zu liegen, mit ihr zu jagen, für immer geschieden von ihr, die ihm süßer Schatten der Wirklichkeit gewesen, der süße Schatten der Lust, für ewig geschieden von der Nachthöhle der Liebe unter den Gewittern. Ja, Äneas und er, er und Äneas, sie waren geflohen in einem wirklichen Aufbruch, nicht nur im verharrenden Abschiednehmen der Dichtung, sie waren aus deren Zwischenreich geflohen, als taugte es nicht für den Lebenden, obwohl es auch jenes der Liebe ist –, wohin ging diese Flucht? aus welcher Tiefe stammte diese Furcht vor Junos mütterlichem Geheiß? Ach, die Liebe ist bereits Hinabsinken unter den Spiegel der Nacht, ist Hinabsinken zu dem nächtlichen Urgrund, an dem der Traum zur Zeitlosigkeit wird, die Schwelle seiner selbst unterschreitend, zum Urgrund des Ungestalteten, des Unerschaubaren, das stets lauernd bereit ist, gewittergleich zerstörerisch hervorzubrechen: nur die Tage verändern sich, nur durch die Tage rinnt die Zeit, und am taghell Bewegten ist es die Zeit, die vom Auge geschaut wird; unbeweglich groß hingegen ist das Auge der Nacht, in dessen Tiefe die Liebe ruht, das Auge, das leer und brennend und starr im Sternenscheine, unabänderlich und unablässig, Nacht für Nacht, über alle Zeiten hinweg die irdische Zeitlosigkeit in sich erneuert –, weltenschöpfend und weltenverschlingend aus seiner tiefsten Augentiefe heraus, nichts mehr schauend, nichts als die blendende Blitztiefe des Nichts, nimmt es alle Augen in sich auf, die Augen der Liebenden, die Augen der Erwachenden, die Augen der Sterbenden, brechend in Liebe, brechend im Tode, das Auge des Menschen, brechend, weil es in die Zeitlosigkeit schaut.Flucht, oh Flucht! Gestaltwerdung des Tages und Gestaltenruhe der Nacht, beides hingewendet zum ruhenden Geschehen der Zeitlosigkeit! Mählich verkrusteten die Kandelaberkerzen, um die mit bös-monotonem, ungestalthartem Summen pausenlos die Mücken schwärmten, pausenlos rieselte das Wasser des Wandbrunnens, und das Rieseln war wie ein Teil seines unsäglich zeitlosen, unbewegten, ozeanischen Dahinflutens; es spielten unbewegt die Amoretten in dem Wandfries, erstarrt zu einer Überfriedlichkeit, zu einer Überruhe, die kaum mehr Gestalt war, vielmehr teilhatte an der weiträumig-weiträumig starrbrausenden, jenseitigen Nachtstille, an ihrer äonenhaften Unabänderlichkeit, die – schattengebärend und schattendurchtränkt – als atemumwandete Höhle der Traumgezeiten ringsum sich aufbaute, gestaltloses Schweigen, überschwebt von der Lautlosigkeit der Donnervögel unter den unbewölkten Sternen. Denn was immer in der Nacht ruht, den Frieden trinkend, einander trinkend, von Schatten durchpulst, einander verschattend, Seele an Seele gepreßt, Gatte und Gattin vereint, das Mädchen in den Armen des Jünglings geborgen, der Knabe im Arme des Liebhabers, was immer in der Nacht sich begibt, ist teilhabend-dunkler Widerschein ihrer noch größeren Dunkelheit, ist Abbild ihrer dunkelzuckenden Blitze, ist Sturz in den Gewitterabgrund, aufgerissen die Decke des Traumes, und wenn wir auch nach der Mutter schreien, auf daß sie uns vor dem Nachtgewitter beschütze, sie ist so weit und so erinnerungsverloren, daß nur mehr hie und da ein Schauer der Kindheit zu uns geweht wird, kein Trost und kein Schutz mehr, höchstens der vertrautfremde Hauch längstentschwundener Heimat, der Ruhehauch, der dem Gewitter vorangeht: ja, so war es, und mochte die Nachtbrise noch so lau und so milde, mochte sie noch so kühl durch das Fenster hereinstreichen, mochte sie auch alles Irdische in ihren Gezeiten umfassen, Olivenhain und Weizenmahd und Weinberg und Fischerstrand umhauchend wie ein einigend einziger, wogender Nachtatem der Länder und Meere, ihre Ernten in sanfter Windhand tragend und vermengend, und mochte die sanftwehende Hand noch so linde herabsinken, hinstreichend über die Straßen und Plätze, die Gesichter kühlend, den Qualm zerteilend, die Brunst beschwichtigend, ja mag dieser wehende Atem, von dem die Gestalt der Nacht bis zu ihrer äußersten Oberfläche erfüllt wird, sogar noch über sie hinausgewachsen sein, verwandelt zu dem bebenden Höhlengebirge, das unerfaßlich, kaum noch ein Außen, zutiefst im eigensten Innern ruht, im Herzen und tiefer als das Herz, in der Seele und tiefer als die Seele, in unserem tiefsten Ich, das selber zur Nacht geworden ist, mochte dies alles auch sein und werden, es nützte nichts; es nützte nichts, es war zu spät an der Zeit, es nützte nichts mehr; unheilschwanger bleibt der Schlaf der Herden, unbeschwichtigt bleibt das irdische Toben, unverlöschbar das Feuer, ausgeliefert bleibt die Liebe dem schmetternden Blitze des Nichts, und über der Höhle der Nacht steht zeitlos das Gewitter.Flucht, oh, Flucht! die Mutter bleibt unerrufbar. Wir sind verwaist am Herdenursprung, kein Name ist uns im Traume errufbar, keiner hat Geltung in der Dunkelheit des vollkommenen Zusammenschlusses –, und du, mein kleiner Nachtgefährte, der du dich mir wie ein Führer zugesellt hast, sollst du mir da wirklich noch erruf bar werden? bist du von deinem, bist du von meinem Schicksal zu mir gesandt worden, daß ich zu dir spreche? fühlst auch du dich von der Zeitlosigkeit bedroht? ist sie auch unter deiner Nacht verborgen – und kamst du deshalb zu mir? oh, lehne dich an mich, mein kleiner Zwillingsbruder, oh, lehne dich an mich; ich wende meine Augen von der Bedrohung ab und wende sie zu dir hin, hoffend, ein letztes Mal noch hoffend, aus der Verlassenheit heimkehren zu können, mit dir heimzukehren in das dunkle Gewölbe, das in mir errichtet ist wie eine Heimstatt, die ich nicht mehr kenne, oh, kehre ein mit mir in diese Vertrautheit, die als Fremdestes wiedervertraut in meinen Adern schlägt, und an der ich dich teilhaben lassen möchte: vielleicht wird mir dann auch das Fremdeste, vielleicht werde auch ich mir dann nicht mehr fremd sein; oh, schmieg dich an mich, mein kleiner Zwillingsbruder, schmieg dich an mich, und wenn du die verlorene Kindheit, wenn du die verlorene Mutter betrauerst, du sollst sie bei mir wiederfinden, da ich dich in meinen Arm und in meinen Schutz nehme. Noch einmal laß uns verharren in der schwebenden Höhle der Nacht, nur noch ein einziges Mal, und laß uns gemeinsam der Nacht und ihrem Traumschweben lauschen, dem Trotzdem ihres Zwischenreiches und ihrer süßen Wirklichkeit –, noch weißt du es nicht, mein kleiner Bruder, denn du bist jung, aus welch tiefstem Innern unseres Selbst die Nachthoffnung emporsteigt, so allumfassend und so allumseelt in ihrer Unabänderlichkeit, so sehr zärtlich leises Sehnsuchtsversprechen in ihrer Bedrängnis, daß wir sehr lange Zeit brauchen, ehe wir sie hören, sie und ihre Bangigkeit, die wie ein Echogebirge um uns errichtet ist, Echowand um Echowand, wie eine unbekannte Landschaft und trotzdem wie ein Rufen unseres eigenen Herzens, ja, trotzdem und trotzdem, so befehlshaberisch, als wollte nochmals aller Nachglanz einer längstgelebten Vergangenheit neu aufglänzen, trotzdem so zuversichtlich, als sei alle Verheißung des Endgültigen darin beschlossen –oh, kleiner Bruder, ich habe es erlebt, weil ich ein alter Mann geworden bin, älter als meine Jahre, weil ich jede Brüchigkeit und jede Verweslichkeit in mir spürte, ich habe es erlebt, weil es mit mir zu Ende geht; ach, erst im Verlangen nach dem Tode verlangen wir nach dem Leben, und in mir ist die unterhöhlende, die gefügelockernde Arbeit jedweder Todesgier, pausenlos, soweit ich zurückdenken kann, unaufhörlich pochend; so habe ich sie stets gespürt, Lebensbangigkeit und Todesbangigkeit zugleich, in all den vielen Nächten, an deren Schwelle ich gestanden habe, an den Ufern der Nächte und Aber-Nächte, die an mir vorbeigerauscht sind, im Rauschen anschwellend das Wissen um sie, das Wissen um die Trennung, das Wissen um den Abschied, der mit der Dämmerung anhebt, und es war Sterben, das an mir vorbeifloß, mich mit steigender Flut berührte, benetzte, umfing, von außen kommend und doch aus mir geboren, mein Sterben: erst der Sterbende erkennt die Gemeinschaft, erkennt die Liebe, erkennt das Zwischenreich, erst in der Dämmerung und im Abschied erkennen wir den Schlaf, dessen dunkelste Gemeinschaft ohne Unzucht ist, erkennen wir, daß unserem Auf bruch niemals mehr eine Rückkehr folgen darf, erkennen wir den Keim der Unzucht, der in der Rückkehr und nur in der Rückkehr eingebettet liegt; ach, mein kleiner Naehtgefährte, auch du wirst dies einstmals erkennen, auch du wirst einst an der Uferschwelle sitzen, am Ufer deines Zwischenreiches, am Ufer des Abschiedes und der Dämmerung, und auch dein Schiff wird zur Flucht gerüstet sein, zu jener stolzen Flucht, welche Erwachen heißt und von der es keine Rückkehr gibt. Traum, oh, Traum! Solange wir dichten, brechen wir nicht auf, solange wir ausharren im Zwischenreich unseres Nachttages, schenken wir einander alle Traumeshoffnung, alle Sehnsuchtsgemeinschaft, alle Hoffnung der Liebe, und darum, mein kleiner Bruder, um dieser Hoffnung, um dieser Sehnsucht willen^ geh nicht mehr fort von mir; ich will deinen Namen nicht wissen, den schattenwerfenden, ich will dich nicht rufen, weder zum Aufbruch noch zur Rückkehr, doch unerrufbar und ungerufen bleibe bei mir, damit die Liebe bleibe in der Verheißung ihrer Endgültigkeit, bleibe bei mir in der Dämmerung, bleibe bei mir am Ufer des Flusses, den wir schauen wollen, ohne uns ihm anzuvertrauen, fern seinem Quell, ferne seiner Mündung, gefeit vor dem urdunklen Zusammenschluß des Anfanges und gefeit vor der letzten, vor der schattenlosen Lichtvereinzelung Apollos, oh, bleibe bei mir, schützend und beschützt, wie ich für immerdar bei dir bleiben will, noch einmal die Liebe: hörst du mich? hörst du mein Bitten? vermag mein Bitten noch dich zu hören, sich selber erhörend, schicksalsentronnen, leidensentlöst?Unbewegt lag die Nacht, gestaltenstarr in all ihrer nahen und all ihrer weiten Sichtbarkeit, eingeschlossen im Raume hier, eingeschlossen in immer weiteren Räumen, hinausgebreitet aus der Unmittelbarkeit des Handgreiflichen zu immer weiteren Unmittelbarkeiten, hin über die Berge und Meere, ausgebreitet in stetem Dahinfluten bis zu den nimmererreichbaren Traumgewölben, aber dieses Fluten, aus dem Herzen entspringend, an den Gewölbegrenzen verbrandend und wieder heimflutend ins Herz, nahm Sehnsuchtswelle um Sehnsuchtswelle in sich auf, zerlöste selbst die Sehnsucht nach der Sehnsucht, brachte die dämmerungsschwingende mütterliche Sternwiege ihres Ur-Beginns zum Stillstand, und umzuckt von den dunklen Blitzen des Unten, von den hellen des Oben, geschieden in Licht und Finsternis, in Schwärze und Grellheit, zweifarbig die Wolke, zwiefach der Ursprung, gewitterschwül, lautlos, raumlos, zeitlos, – oh, aufgebrochene Höhle des Innen und Außen, oh, groß hinziehende Erde! –, so klaffte die Nacht auf, zerbarst der Schlaf des Seins; stumm hinweggespült waren Dämmerung und Dichtung, hinweggespült ihr Reich, zerbrochen die Echowände des Traumes, und verhöhnt von den stummen Stimmen der Erinnerung, schuldbeladen und hoffnungsgebrochen, flutenüberströmt, flutenentführt, versank des Lebens übergroßes Aufgebot zum schieren Nichts. Es war zu spät geworden, es gab nur noch Flucht, das Schiff kg bereit, der Anker wurde hochgezogen; es war zu spät.Noch wartete er, wartete, daß die Nacht sich nochmals melde, daß sie ihm Endgültiges und Tröstliches zuraune, daß sie mit ihrem Rieseln nochmals seine Sehnsucht wachriefe. Kaum war es noch Hoffnung zu nennen, eher Hoffnung auf die Hoffnung, kaum noch Flucht vor der Zeitlosigkeit, eher Flucht vor der Flucht. Es gab keine Zeit, keine Sehnsucht, keine Hoffnung mehr, weder für das Leben noch für das Sterben; es gab keine Nacht mehr. Es gab kaum ein Warten mehr, höchstens noch Ungeduld, welche Ungeduld erwartete. Er hielt die Hände verschränkt, und der Daumen der Linken rührte an den Stein des Ringes. So saß er, spürte an seinem Knie die Wärme der bis zur Anlehnungsnähe herangerückten, dennoch nicht angelehnten Knabenschulter, und es verlangte ihn sehr, die verschränkten Finger aus ihrer zunehmenden Verkrampfung zu lösen, um unbemerkt-sachte über die nachtdunklen wirren, kindlichen Haare, auf die er hinabschaute, zu streichen, um das nächtlich Sprießende, nächtlich Menschliche des nachtweichen knisternden Flors durch die Finger gleiten zu lassen, nachtsehnsüchtig nach Sehnsucht; indes, er tat keine Bewegung, und schließlich, obwohl es ihm schwerfiel, die Starrheit des Wartens zu unterbrechen, sagte er: Es ist zu spät.“ Der Knabe hob langsam das Gesicht zu ihm empor, so verständnisvoll und fragend, als wäre ihm etwas vorgelesen worden, dessen Fortsetzung nun folgen müßte, und dieser Frage gehorchend, sein eigenes Gesicht dem des Knaben sanft zugenähert, wiederholte er sehr leise: Es ist zu spät.“ War es noch Warten? War er enttäuscht, weil die Nacht sich nicht mehr regte, weil der Knabe sich nicht regte und nur der Knabenblick, grau, kindlich, unverwandt, selber fragend, auf ihn geheftet blieb? die Ungeduld, deren Kommen er herbeigewünscht hatte, stellte sich plötzlich ein: Ja, es ist spät… geh zum Fest.“ Jählings fühlte er sich übermäßig alt; das unmittelbar Irdische meldete sich mit dem Bedürfnis nach Schlaf und Eindämmern, mit der Sehnsucht ins Bewußtlose versinken zu dürfen und das Nie-mehr zu vergessen, es meldete sich mit einer Schwäche im Unterkiefer und dazu noch mit einem so argen Hustenreiz, daß der Wunsch, unbeobachtet allein zu bleiben, übermächtig wurde: Geh … geh zum Feste“, brachte er noch heiser hervor, während seine flach aufwärts gerichtete Hand, allerdings bloß in Andeutung und über einen wachsenden Abstand hin, den zögernd zurückweichenden Knaben nun mit kurzen Rucken zur Türe hinschob. Geh … geh“, rasselte es nochmals in ihm mit bereits versagendem Atem, und als er dann tatsächlich allein war, da war es als führe ein schwarzer Blitz in seine Brust, es brach der Husten aus ihr hervor, nachtblutgemischt, gestaltlos, zerschüttelt und zerstarrt, aufklaffend und berstend, bewußtseinsberaubend, ein würgender Krampf am Rande des Abgrundes, und daß es ihn diesmal nicht hineingestürzt hatte, daß es noch einmal vorbeigegangen war, daß er nochmals das Rieseln des Brunnens und das Knistern der Kerzen vernehmen konnte, das erschien ihm nachher wie ein Wunder. Er hatte sich, mühselig genug, von dem Lehnsessel zum Bett hinübergeschleppt, hatte sich hineinfallen lassen und war regungslos liegen geblieben.Die Hände wiederum verschränkt spürte er wieder den Stein des Ringes, spürte die geflügelte Geniengestalt, die in den Karneol der Gemme eingraviert war, und er wartete, lauschend ob es sich zum Tod, ob es sich zum Leben wenden werde. Aber langsam wurde es besser – langsam zwar und sehr mühselig und sehr bedrängt – es wurde wieder zu Atem, zu Ruhen, zu Schweigen. |