Hermann Broch
1886 - 1951
Die Schlafwandler
1903. Esch oder die Anarchie
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III
Auf dem Weg ins Badische liegt Mannheim. Und Esch erinnerte sich, daß es Freundespflichten gab. Etwas hatte ihn ja schon längst bedrückt, und das wußte er jetzt: in einem so stark abflauenden Geschäft darf man die Einlage seiner Freunde nicht belassen. Daß sie bisher mehr als 50% Verdienst buchen konnten, war ja gut und schön, jetzt aber hieß es, den Verdienst in Sicherheit bringen. Raus aus dem Geschäft. Seine eigenen M. 300.– gehörten auf ein anderes Blatt. Falls die verlorengingen, wäre es eigentlich bloß gerecht. Denn 50% verdienen und dazu noch zwei Monate leben, und nicht schlecht leben, – wo blieb da das Opfer, mit dem man Ilona erlösen wollte? und die Flucht in die amerikanische Freiheit mit Sündengeld finanzieren, das war auch so eine falsche Rechnung! höchste Zeit also, daß die Ringkämpferei mitsamt dem Gelde flöten ging. Mutter Hentjen mußte wohl mit ihrer Prophezeiung recht behalten, daß er und dieses ganze Weibertheater ein Ende in Schimpf und Schanden nehmen würden.Doch jetzt ging's um das Geld für Lohberg und Erna. Die Sache mit Gernerth zu besprechen war nicht einfach: abends klagte der Herr Direktor über den leeren Saal und tagsüber war er noch weniger erreichbar; in der Alhambra war er niemals, in seine Wohnung schien er überhaupt nicht zu kommen, und bei Oppenheimer gab's zwei dreckige leere Zimmer und keinen Menschen darin. Fragte man ihn aber, wo er seine Mahlzeiten einnehme, so antwortete er: Ach, ich begnüge mich mit einem Butterbrot, ein Familienvater hat nicht zu prassen“, was natürlich nicht ganz stimmte, denn damals wie die englische Reisegesellschaft vom Dom zum Hotel hinüberging, wer trat da aus dem Marmorvestibül des Domhotels? Herr Gernerth in höchsteigener Person, satt und mit einer dicken Zigarre im Gesicht. Prestigebesuche, lieber Freund“, hatte er gesagt und war auch schon davon, als ob man es ihm nicht gegönnt haben würde, im Domhotel zu wohnen, sogar mit der ganzen Familie. Heute allerdings war's anders: man wird den Herrn Direktor nicht entwischen lassen!Und am Abend öffnete Esch die Türe zur Direktionskanzlei, sperrte sie grinsend hinter sich ab, steckte den Schlüssel in die Hosentasche, und grinsend präsentierte er dem gefangenen Gernerth eine saubere Gewinstabrechnung für die Einlage des Herrn Fritz Lohberg und des Fräulein Erna Korn“, dartuend, daß die beiden Genannten zu ihrer Kapitalseinlage per M.2000.-, einen Gewinn per M. 1123.-, Summe M.3123.-, zu bekommen hätten, und darunter stand in Vollmachtsnamen quittiert, August Esch m. p.“ Außerdem wolle er auch sein eigenes Geld. Gernerth schrie Zeter und Mordio. Erstens habe Esch keine legalisierte Vollmacht und zweitens seien die Kämpfe noch nicht abgeschlossen und von einem nicht abgeschlossenen Geschäft pflegt man keine Auszahlungen zu leisten. Sie stritten eine Weile hin und her, und unter vielem Gejammer bequemte sich Gernerth endlich, die Hälfte der geforderten Summe für Lohberg und Erna an Esch auszubezahlen, während die zweite Hälfte im Unternehmen stehen bleiben und an etwaigen weiteren Verdiensten noch nutznießen sollte. Für sich selbst jedoch konnte Esch außer einem Reisebetrag von fünfzig Mark nichts herausschlagen. Vielleicht war er zu nachgiebig gewesen. Immerhin, es genügte für die Reise.Frau Hentjen war im Braunseidenen zum Bahnhof gekommen und sie lugte vorsichtig umher, ob kein Bekannter da sei, der sie etwa ins Gerede bringen würde. Denn trotz der frühen Stunde wimmelte es von Menschen. Am andern Bahnsteig wurde nach der Gegenrichtung ein Zug abgefertigt, in dem einige Waggons für Auswanderer eingeschoben waren, Tschechen oder Ungarn, und einige Heilsarmeeleute machten sich bei ihnen zu schaffen. Daß Mutter Hentjen ihn herbegleitet hatte, war in Ordnung; es war höchste Zeit, daß sie mit ihren albernen Heimlichkeiten aufhörte. Aber vor den Auswanderern und Heilsarmeesoldaten hatte Esch doch ein schlechtes Gewissen. Blöde Vereinsmeierei“, schimpfte er. Weiß Gott, weshalb er sich so ärgerte. Wahrscheinlich war er jetzt auch schon mit der dummen Geheimniskrämerei angesteckt. Als eines der Heilsarmeemädchen vorbeikam, schaute er weg. Frau Hentjen bemerkte es: Schämst dich wohl, daß ich hier bin? Fährt sie vielleicht gar mit, deine Dame?“ Esch, ziemlich grob, verbat sich diese Narrheiten. Doch das hatte noch gefehlt: Also, das hat man davon, daß man sich für einen Mann kompromittiert … wer mit Hunden schlafen geht, steht mit Flöhen auf.“ Esch verstand wieder einmal nicht, was ihn an diese Frau fesselte. Wie sie hier im Tageslicht vor ihm stand, versanken die Bilder ihrer Geschlechtsbereitschaft und des dunklen Alkovens, diese Bilder, die ihn verfolgten, sobald er von ihr ferne war, sie versanken ins Nichts, als wären sie niemals gewesen. Mit dem gleichen Zug waren Mutter Hentjen und er damals nach Bacharach gefahren; damals hatte es begonnen – vielleicht wird es heute enden. Sie fühlte wohl seine Unbeteiligtheit, denn sie sagte plötzlich: Wenn du mir untreu bist, wirst du schon sehen …“ Geschmeichelt wollte er mehr davon hören; zugleich reizte es ihn, ihr weh zu tun: Schön, heute noch rück' ich dir aus … was werde ich sehen?“ Sie war erstarrt, gab keine Antwort. Da tat sie ihm leid und er nahm ihre Hand, die schwer und ungelenk in der seinen liegen blieb. Na, na, was wird also geschehen?“ Sie sagte mit leerem Blick: Ich bringe dich um.“ Es war wie ein Versprechen und eine erlösende Hoffnung; trotzdem zwang er sich zu lachen. Sie aber ließ sich von ihren Gedanken nicht abbringen. Was bliebe mir sonst übrig?“ Nach einer Pause: Fährst vielleicht gar nach Ober-Wesel? … zu der Person?“ Esch wurde ungeduldig: Blödsinn, ich habe dir hundertmal gesagt, daß ich meine Mannheimer Geschäfte mit Lohberg liquidieren muß … wir wollen doch nach Amerika.“ Frau Hentjen war nicht überzeugt: Sei aufrichtig.“ Esch wartete ungeduldig auf das Abfahrtszeichen; keinesfalls durfte er verraten, daß er zu Bertrand fahre: Habe ich dich nicht eingeladen mitzukommen?“ – Das war ja nicht ernst gemeint.“ Jetzt, knapp vor dem Abfahrtszeichen, schien es ihm, als wäre sein Angebot durchaus ernst gewesen, und wie er sie an ihrem dicken Oberarm hielt, hatte er Lust, sie zu küssen; sie stieß ihn zurück: Hör mal, hier vor allen Leuten!“ Aber da mußte er einsteigen.Er hatte eigentlich die Absicht gehabt, direkt nach Badenweiler zu reisen, und erst angesichts der Stationstafel von St. Goar entschloß er sich endgültig, noch heute in Mannheim Station zu machen. Ja, und von Mannheim aus würde er ihr sogar schreiben; das wird sie beruhigen, – und Esch lächelte zärtlich, als er daran dachte, daß sie ihn töten wollte; eigentlich könnte man es darauf ankommen lassen. Allerdings, der Besuch in Badenweiler war wie eine Gefahr, etwas, wobei es ums Ganze ging, und es war ein Gebot der Anständigkeit, die fremden Gelder vorher abzuliefern. Der Satz Man spielt nicht mit Menschenleben“ fiel ihm ein und verflocht sich in den Rhythmus der rollenden Räder. Er sah Mutter Hentjen einen zärtlichen Revolver heben und dann hörte er wieder Harry sagen: Du wirst ihm nichts tun.“ Nun reihten sich auch Lohberg und Ilona und Fräulein Erna und Balthasar Korn vor ihm auf und er wunderte sich, daß er sie so lange nicht gesehen hatte; vielleicht waren sie in der Zwischenzeit gar nicht am Leben gewesen. Sie heben die Arme im rhythmischen Takt zu seiner Begrüßung, und es war, als bewegte sie ein unsichtbarer und vornehmer Puppenspieler an Drähten, die plötzlich nun da sind. Ein Coupé dritter Klasse ist wie eine Kerkerzelle und auf der Bühne links oben, dort wo der Mensch sonst eine Zahnlücke besitzt, hatte sich eine graue Kulisse vorgeschoben, eine Kulisse aus Pappe, hinter der nichts steckt als die grauen verstaubten Bühnenmauern. Aber auf der Kulisse war das Wort Gefängnis“ zu lesen und obwohl man wußte, daß nichts dahinter ist, wußte man doch, daß in dem Kerker einer steckt, den es gar nicht gibt und der dennoch die Hauptperson ist. Aber die Bühne, in die die Gefängniskulisse wie ein Zahn hineinragt, ist im Hintergrund von einem großen Prospekt abgeschlossen, auf dem ein herrlicher Park gemalt ist. Rehe äsen unter mächtigen Bäumen und ein Mädchen, dessen Kleid von Pailletten flimmert, pflückt Blumen. Der Gärtner im breitrandigen Strohhut, die blinkende Schere in den Händen und begleitet von einem Hündchen, steht neben dem dunklen Teich, dessen Fontäne einen weißen Strahl gleich einer glitzernden Peitsche in die Lüfte sendet und Kühlung gibt. Ganz ferne erblickt man die Lichter und die Verzierungen des prächtigen Schlosses, von dessen Zinnen die Fahne schwarz-weiß-rot weht. Und dies machte einen wieder unsicher.
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Jetzt da er sich Mannheim näherte, kam ihm in den Sinn, daß Erna sicherlich mit dem keuschen Josef schlafe. Eigentlich war es keine Frage, es war so selbstverständlich, daß man darüber gar nicht nachzudenken brauchte, so selbstverständlich wie die Nase, die einer im Gesicht trägt, oder die Füße, mit denen er geht. Nichts und niemand hätte Esch von solcher Meinung abbringen können; was denn anderes sollten die beiden miteinander treiben? Trotzdem irrte er sich. Denn wenn die Inhalte des Lebens auch karg sind und gewiß nicht viel vonnöten ist, zwei Personen verschiedenen Geschlechts zum Einverständnis zu bringen, es ist manches doch minder selbstverständlich, als man meinen mochte. Wer gleich Esch noch im täglich-irdischen Leben steht, oder nur um ein sehr Geringes sich darüber hinausgehoben hat, vergißt leicht, daß es ein Reich der Erlösung gibt, dessen Bestand allerlei Irdisches ins Unsichere zieht, ja, daß es mit einem Male fragwürdig werden kann, ob man mit den Füßen geht, geschweige also, ob zwei Menschen miteinander schlafen. Hier allerdings war es so, daß Lohberg teils durch seine Schüchternheit zurückgehalten wurde, die Grenze edler und inniger Freundschaft zu überschreiten, teils aber auch durch sein stets waches Mißtrauen gegen das weibliche Geschlecht, insbesondere seitdem er nach einer häßlichen Erfahrung das Gift häßlicher Krankheiten zu scheuen gelernt hatte, und gar wenn er bedachte, daß Erna allen Anfechtungen eines Wüstlings Tür an Tür ausgesetzt gewesen war! Ja, so war Lohberg. Er ging mit Fräulein Erna Korn bloß spazieren, trank Kaffee mit ihr und betrachtete es als eine Zeit der Läuterung und der Buße, die erst ihr Ende finden sollte, wenn ihm ein Zeichen von oben, sozusagen das Zeichen der wahren erlösenden Gnade gegeben werden würde.Esch kannte zwar die Tugend des Idioten, unvorstellbar hingegen war ihm das Ausmaß dieser Tugend, und noch viel weniger ahnte er, daß er selber nicht aufgehört hatte, Fräulein Erna zu beunruhigen, daß er, wenn nicht in ihrem Herzen, so doch im Blute ihr lag, und daß sie wohl aus diesem Grunde sich nicht beeilte, Lohberg das Zeichen der erlösenden Gnade zu geben, es vielleicht sogar absichtlich hinzögerte, weil sie in diesem Zögern eine richtige Vorbereitung für den Ehestand sah. Ja, dies alles konnte Esch nicht ahnen, am allerwenigsten aber, daß die beiden sich gerne damit beschäftigten, abstoßende Züge in seinem Charakterbild zu entdecken, und ihrer schwärmerischen Veranlagung gemäß sogar glaubten, in solch gemeinsamem Interesse eine gute Basis für einen Lebensbund zu besitzen.All dieser Verhältnisse unkundig, hatte Esch auf einen freudig-feierlichen Empfang gerechnet. Statt dessen aber erschrak Fräulein Erna, als er im Türrahmen auftauchte. Ach, sagte sie rasch gefaßt, das wäre schön, daß sich der Herr Esch auch wieder einmal sehen ließe, ach, das wäre geradezu schön vom Herrn Esch, daß er freundlichst geruhe, sich gütigst wieder zu erinnern, nicht einmal der Mühe wert sei es ihm gewesen, eine Karte zu schreiben. Und dann sagte sie: Ja, wes Brot ich eß', des Lied ich sing'“, und allerlei Spitzes, so daß es Esch nicht einmal gelang, den Vorraum zu betreten. Korn jedoch, der die Stimmen gehört hatte, kam nun in Hemdärmeln aus der Wohnstube, und da er von rauherer Gemütsart als seine Schwester war und während der zwei Monate niemals an Esch gedacht hatte, ihm daher auch sein Schweigen durchaus nicht übel nahm, vielmehr sich baß gewundert hätte, soferne es Esch beigefallen wäre, ihm zu schreiben, Korn also war vollkommen erfreut, denn nicht nur, daß er allem, was er je gekannt hatte, anhänglich gesinnt blieb, er sah in dem wiedergekehrten Esch alsogleich eine Quelle der Anregung und überdies eine begrüßenswerte Einnahme aus dem leerstehenden Kabinett. Und er brauchte Geld für Ilona. Folglich schüttelte er dem Gast unter herzlichen Ausrufen die Hand und lud ihn ein, nur gleich wieder in sein Zimmer hineinzuspazieren, das nur auf ihn gewartet hätte. Solche Herzlichkeit tut einem Menschen, der mißmutig gewesen ist, gut, und Esch schickte sich an, seine Habseligkeiten in sein Zimmer zu tragen, das bloß auf ihn gewartet hatte, als Fräulein Erna ihn zurückhielt und halb zum Bruder gewendet sagte: sie wisse nicht ob dies angehen werde. Na, da brauste Korn aber auf: Warum soll's jetzt wieder nicht gehen! wenn ich sag', es geht, so geht's.“ Zweifelsohne hätte Esch als taktvoller Mann sich nun mit Worten des Bedauerns empfehlen müssen, doch selbst wenn er taktvoll gewesen wäre, was er ja keineswegs war, so gehörte er viel zu sehr zur Familie, um nicht die Fragen des Taktes hinter denen der Neugierde zurückzustellen; was war hier vorgefallen? und erstaunt blieb er einfach stehen. Fräulein Erna indes, die auch nicht gewohnt war, sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen, befriedigte diese Neugier sehr rasch, denn sie zischte den Bruder an, daß er sie, die vor einer ehrsamen Heirat stünde, nicht zwingen könne, mit einem fremden Manne unter demselben Dach zu schlafen; sie müsse sich in diesem Hause ohnehin genug Schande gefallen lassen, und wenn ihr Künftiger nicht so ein hochherziger Mensch wäre, so dürfte sie ihm nachlaufen. Darauf sagte Korn in seiner heimatlichen Mundart: Papperlapap, halt' die Goschen. Der Esch bleibt da.“ Esch aber vergaß über die Andeutungen des Fräulein Erna alles übrige und er rief: So eine Überraschung, herzlichen Glückwunsch, Fräulein Erna, wer ist denn der Glückliche?“ Da konnte Fräulein Erna natürlich nicht anders, als die Glückwünsche annehmen und sagen, daß sie mit Herrn Lohberg fast einig geworden sei. Sie hängte sich in Esch ein, führte ihn in die Wohnstube. Ja, und übrigens werde ihr Bräutigam auch gleich hier sein. Und wie sie nun von Lohberg sprachen, hatte Korn die großartige Idee, Esch in eine dunkle Ecke zu stellen, damit der ahnungslose Herr Bräutigam entsetzt auffahre, wenn Esch sich plötzlich ins Gespräch mischen würde wie ein Geist.Als die Klingel im Vorraum ertönte und Erna öffnen ging, begab sich Esch gefügig in den dunklen Winkel. Korn, der beim Tische geblieben war, machte ihm herrische Zeichen, sich noch mehr in die Ecke zu drücken. Denn Korn war ein Mensch, der auf technische Vollkommenheit Wert legte und zornig wurde, wenn es an der Ausführung haperte. Aber nicht aus Furcht vor Korns Wut verharrte Esch so still in seinem Winkel, oh nein, er war durchaus nicht einer, den man ohne weiteres in einen Winkel scheuchen konnte, und es war durchaus kein Platz der Strafe und der Demütigung, auf dem er sich befand; geradezu freiwillig schob er sich noch enger an die Wand, und es war ihm auch gleichgültig, ob er die Malerei mit seinem Ärmel abstreifte, denn in dieser beschatteten Ecke erwachte höchst unvermittelt und sonderbar der Wunsch in ihm, daß die Distanz zu denen am Tische dort immer mehr sich vergrößern möge. Die wenigen Minuten, die bis zum Eintritt Lohbergs vergingen, reichten nicht aus, daß er sich's klar machte, doch es kam ihm vor, als gleite er wieder in jene merkwürdige Einsamkeit, die irgendwie mit Mannheim zusammenhing und die es verbot, sich mit den andern hier gemein zu machen, fordernde Einsamkeit, welche ihm aber jetzt so wohlgefällig war, daß sie ihm nicht einsam genug sein konnte, und wenn er sich bloß immer weiter und weiter in seinen Winkel zurückgezogen hätte, so wäre er ein erlöster und erhabener Eremit geworden, abgeschlossen gegen die Welt in seiner Zelle, Geist er über dem Tische der Fleischgebundenen. Freilich konnte dies nicht lange dauern, denn solche Erwägungen werden nur dann angestellt, wenn die Zeit nicht ausreicht, um sie zu Ende zu denken oder gar sie zu verwirklichen, und auch Esch hatte diese Gedanken bereits wieder vergessen, als Lohberg programmgemäß hereinkam und derart überrascht war, daß er sich über des Gastes Anwesenheit sogar freute. Gewiß gehörte Esch nicht ganz zu ihnen, so wenig Ilona zu ihnen gehörte, aber als sie jetzt um den Tisch herumsaßen, waren sie wie eine Familie und fragten einander nach vielen Dingen. Und da diese Fragen bald bei den Angelegenheiten des Wohlstandes angelangt waren, zog Esch stolz Brieftasche und Börse heraus und zählte 1561 Mark und 50 Pfennige auf den Tisch. Fräulein Erna griff freudig danach, denn sie hielt es für ihre Einlage samt Gewinn; doch wie Esch sie aufklärte, daß sie zwar so viel zu bekommen hätte, daß sie aber diese Summe vorderhand mit Lohberg zu teilen habe, weil die andere Hälfte stehen geblieben sei, da schrie sie auf, daß sie ja nun einen Schaden statt eines Nutzens habe. Und auch als er es ihr erklären wollte, nahm sie nicht Vernunft an, zeterte, sie werde sich nichts einreden lassen, sondern sie könne sehr gut rechnen: bitte – sie holte einen Zettel und einen Bleistift –, zwei-hundert-neun-zehn Mark und fünfundzwanzig Pfennige habe sie draufgezahlt, da stehe es schwarz auf weiß, und keifend hielt sie den Zettel unter Eschs betrübte Nase. Lohberg tat den Mund nicht auf; dabei mußte er als Geschäftsmann die Rechnung sehr gut verstanden haben. Will sich's mit dem Fräulein Braut eben nicht verderben, der feige Idiot. Esch sagte grob: Unsereins hat auch seine Anständigkeit, – wahrscheinlich mehr als mancher, der hier schweigt.“ Und er griff nach Ernas Arm, aber nicht etwa aus Liebe, sondern zornig und höchst unsanft legte er ihren Arm mitsamt dem Zettel auf den Tisch zurück. Vielleicht hatte sie's im Grunde doch verstanden, oder war es der feste Zugriff Eschs gewesen, kurzum, Fräulein Erna verstummte. Korn, der bisher unbeteiligt geblieben war, äußerte bloß, daß der Teltscher, der Jud', eben ein Gauner sei. Nun, dann möge er eben die Anzeige machen, erwiderte Esch, jeder Gauner gehöre angezeigt, anstatt daß man Unschuldige einsperren läßt. Und da Lohbergs feige unanständige Haltung Strafe erheischte, demütigte er ihn mit den Worten: Unschuldige vergißt man! Hat zum Beispiel Herr Lohberg den armen Martin schon besucht?“ Erna, die noch geduckt und angefüllt mit einer guten Erbitterung dasaß, replizierte, sie kenne andere Leute, die ihre Freunde vergäßen, ja, sie sogar schädigten, und daß es wohl Aufgabe des Herrn Esch gewesen wäre, sich um Herrn Geyring zu kümmern. Dazu bin ich ja hergekommen“, sagte Esch. Aha“, sagte Fräulein Erna, denn sonst hätten wir überhaupt nichts mehr von Herrn Esch gesehen“, und zögernd und beinahe schüchtern, gewissermaßen aus der Verpflichtung, einen mutigen Kampf nicht aufzugeben, setzte sie hinzu: und von unserem Gelde auch nichts.“ Korn aber, der langsam dachte, sagte: Den Juden lassen S' einsperren.“Das war nun allerdings eine merkwürdige Lösung, und obzwar Esch sie eben selber vorgeschlagen hatte, es gelüstete ihn zu erwidern, daß dies nur eine schäbige Teillösung wäre, angesichts einer besseren, radikaleren, sozusagen geistigen Lösung, deren Nähe er bereits fühlte. Was sollte es fruchten, Teltscher auf ein paar Monate einzusperren, wenn Ilona trotzdem wieder den Messern ausgesetzt würde. Jetzt erst fiel ihm auf, daß sie, die eigentlich hierher gehörte, nicht da war, beinahe als sollte es vermieden werden, daß er ihr vor die Augen träte, ehe er sich seiner Aufgabe entledigt hätte. Allerdings, Aufgabe hin, Aufgabe her, – man denkt an das große Opfer, das bevorsteht, und gleichzeitig verspricht man, die Gewinne nachzutragen! Soll wirklich Ordnung werden, so müßte die Ringerei eben flöten gehen. Und weil er solcherart der keifenden Erna zumutete, ihr Geld nun doch noch für ihn dranzusetzen, ergab sich ein Schuldgefühl, das im Grunde nicht einmal unangenehm war; aber weil es die anderen nichts anging, begann er zu schreien: das sei also der Dank, und überhaupt tue es ihm leid, mit dem Gelde hergekommen zu sein, da er nun so empfangen werde, und im übrigen werde er wegen des Restes an Gernerth schreiben. Das könne er halten, wie er wolle, sagte Fräulein Erna mit spitzer Stimme. Dann möge sie gefälligst selber schreiben, denn er habe ausdrücklich jede Verantwortung abgelehnt. Das werde sie nicht tun. Schön, dann werde er es tun, denn er sei ein anständiger Mensch. Ach?!“ meinte Fräulein Erna. Und da verlangte Esch Tinte und Papier und zog sich auf sein Zimmer zurück, ohne die Anwesenden weiter zu beachten.In seinem Zimmer lief er mit langen Schritten auf und nieder, wie er es in der Erregung zu tun pflegte. Dann pfiff er sich eins, damit die drinnen nicht glauben sollten, er ärgere sich, und vielleicht pfiff er auch, weil er sich einsam fühlte. Bald hörte er Erna und Lohberg im Vorraum. Sie waren leise; offenbar fürchtete sich Lohberg, feige wie er war, noch immer vor seinem Zorn, ließ die weißen Augen hin- und herrollen vor Hilflosigkeit. Wie so oft verband sich Lohbergs Bild mit dem Mutter Hentjens. Jetzt war auch sie hilflos, mußte alles geschehen lassen, die Arme. Er horchte, ob Lohberg und Erna auf ihn schimpften. Nette Lage, in die Mutter Hentjen mit ihrer blöden Eifersucht ihn da gebracht hatte; nötig war's nicht gewesen, er könnte schon längst in Badenweiler sein. Im Vorraum war es still, Lohberg war gegangen; und Esch setzte sich hin, schrieb mit seiner reinlichen Buchhalterschrift: Herrn Alfred Gernerth, Theaterdirektor, dzt. Köln, Alhambratheater. Ich ersuche um Überweisung meines Guthabens per M. 780.75 unter gleichzeitiger Legung einer definitiven Abrechnung. Hochachtungsvoll.“ Mit dem Zettel in der einen Hand, Tintenfaß und Feder in der anderen, ging er schnurstracks in Ernas Stube hinüber.Erna, in Filzpantoffeln herumschlapfend, schlug eben ihr Bett auf, und Esch staunte, daß sie ihre Schuhe so rasch hatte wechseln können. Sie war schon daran, sich über sein Eindringen zu empören, als sie seine Ausrüstung bemerkte: Was wollen Sie mit dem Wisch?“ Er kommandierte: Unterschreiben.“ – Ihnen unterschreib' ich nichts mehr …“ Mittlerweile aber hatte sie den Brief doch angesehen und ging damit zum Tische: Meinetwegen“; nützen werde es zwar nichts, das Geld sei hin, durchgebracht, verludert, man müsse sich damit abfinden, einen Herrn Esch freilich, den lasse das kalt. Unter ihrem Keifen stieg wieder das kuriose Schuldgefühl gegen sie auf; ach was, er wird ihr schon zu ihrem Gelde verhelfen, und er nahm ihre Hand, um ihr zu zeigen, wo sie zu unterschreiben hatte. Als sie ihm die Hand entziehen wollte, ärgerte er sich aufs neue; er umschloß die Hand fester, geradezu unsanft ging er mit ihr um, und da geschah es zum zweitenmal, daß Fräulein Erna stumm und wehrlos wurde. Erst merkte er es nicht, führte bloß ihre Hand zur Unterschrift, jedoch da traf ihn von unten herauf ihr schräger Eidechsenblick wie eine Aufforderung. Und als er sie umfaßte, schmiegte sie die Wange an seine Brust. Daß sie's tat, machte ihm kein Kopfzerbrechen, so wenig er danach fragte, ob es bloß Nachklang ihrer alten Verliebtheit war, oder ob sie sich etwa für Lohbergs Unmännlichkeit rächen wollte, oder – und das wäre für Esch das Nächstliegende gewesen – ob sie es einfach geschehen ließ, weil er just da war, weil es so hatte kommen müssen, weil man sich wegen des Heiratens nicht mehr zu streiten brauchte. Die Dinge hatten sich eben geklärt: für Erna gab's einen Freier, und er selbst, er wird mit Mutter Hentjen nach Amerika verschwinden; sogar die Wut gegen Lohberg legte sich, fast spürte er ein wenig Zärtlichkeit für den Idioten, der in so vielem Mutter Hentjen ähnelte, und da Fräulein Erna im vertrauten Verkehr sicherlich manches von ihrem Bräutigam übernommen haben dürfte, so war es, wenn auch in weiterer Ferne, als umarmte man in Erna ein Stück von Mutter Hentjen, und es war keine Untreue. Indes die Erinnerung an die alten Kämpfe war noch nicht völlig verflogen, noch zauderten sie beide, es war wie ein Augenblick feindseliger Keuschheit, und beinahe wäre Esch wieder unverrichteter Dinge in seine Stube zurückgekehrt wie einst. Da sagte sie plötzlich: Pst, still“ und entzog sich ihm: draußen hatte die Flurtüre geknarrt, und Esch begriff, daß Ilona gekommen war. Sie standen regungslos. Wie aber die Schritte draußen verklungen waren und die Tür zur Wohnstube hinter der Korns Zimmer lag, ins Schloß fiel, fielen auch sie sich in die Arme.Als er später in sein Bett kroch, mußte er an Mutter Hentjen denken und daß er in Mannheim bloß Station gemacht hatte, um ihr eifersüchtiges Mißtrauen zu beschwichtigen. So, das hatte sie jetzt von ihrer blöden Eifersucht. Natürlich war seine Drohung, ihr noch am heutigen Tage untreu zu werden, bloß Spaß gewesen. Und jetzt ist es richtig eingetroffen und es war nicht seine Schuld. Dabei war es eigentlich nicht einmal eine richtige Untreue; einer solchen Frau kann man eben nicht so leicht untreu werden. Trotzdem blieb's eine Schweinerei. Und warum? weil man seine Rechnungen ohne Verzug ins Reine zu bringen hat, weil man anständigerweise bereits in Badenweiler sein müßte, statt auf eine so blöde Eifersucht Rücksicht zu nehmen. Das hatte man jetzt davon. Schöne Bescherung, aber man kann's nicht ändern. Esch drehte sich zur Wand.
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Die Augen öffnend, erkannte er sein altes Zimmer; helle Vormittagssonne schaute durch die Gardinen, und es durchfuhr ihn wie ein Lanzenstich: mußte er nicht in sein Speditionsmagazin? dann erinnerte er sich, daß er mit der Mittelrheinischen nichts mehr zu tun hatte, und es war wie Ferien und Freiheit. Niemand konnte ihn mehr zum Gerichte wecken. Er blieb im Bett liegen, obwohl es ihm keinen Spaß mehr machte, aber er konnte liegenbleiben, so lange es ihm behagte. Auch war es sehr wahrscheinlich, daß Mutter Hentjen ihn nun umbringen würde, denn sie wird ja doch nie begreifen, daß er ihr treu geblieben war; sie wird ihn umbringen wollen, und dies war gleichfalls voll guter und freier Zuversicht. Wer vor dem Tode steht, ist frei und wer zur Freiheit erlöst ist, hat den Tod auf sich genommen. Er sah die Zinnen eines Schlosses vor sich, auf denen still die schwarze Fahne wehte, doch es mochte auch der Eiffelturm sein, denn wer vermag die Zukunft von der Vergangenheit zu unterscheiden! In dem Park ist ein Grab, ein Mädchengrab, Grab eines erdolchten Mädchens. Ja, vor dem Tode ist dem Menschen alles erlaubt, alles wird frei, sozusagen gratis und sonderbar unverbindlich. Erlaubt war es, auf der Straße an jede Frau heranzutreten und sie einzuladen, mit einem zu schlafen, und es würde von der gleichen angenehmen Unverbindlichkeit sein wie mit Erna, die er heute oder morgen verlassen wird, um ins Dunkle zu reisen. Er hörte sie draußen herumschaffen, die kleine knochige Ziege, und er wartete, daß sie wie ehedem käme, denn man muß es ausnützen, solange man die Sonne noch sieht. Daß die Erlaubnis zur Untreue erst durch eine Untreue erkauft werden muß, und daß man trotzdem dafür umgebracht zu werden wünscht, wahrlich, Mutter Hentjen war nicht der Mensch, dies zu begreifen; was wußte sie von derart komplizierten Buchungen, – wie hätte sie auch diese Buchungsfehler durchschauen können, die so tückisch in die Welt geraten sind, daß nur einer, der genau zu rechnen versteht, den Erlösertod sterben darf. Konnte doch das kleinste Versehen das Gebäude der Freiheit wanken machen. Jetzt hörte er Fräulein Ernas Stimme aus der Küche: Ist's gestattet, dem gnädigen Herrn den Kaffee zu bringen?“ – Nein“, rief Esch, ich bin gleich da“, sprang aus dem Bett, war im Hui angekleidet, hatte seinen Kaffee getrunken und war auch schon an der Trambahnhaltestelle, selber überrascht von der Eile, mit der alles vor sich gegangen war. Erst als der Wagen, der zur Strafanstalt hinausfuhr, auf sich warten ließ, überlegte er, ob bloß der Gedanke an den Gefängnisbesuch ihn so rasch aus dem Bett gejagt hatte oder ob vielleicht Ernas Stimme Schuld daran trug: schön war die Stimme ja nicht, gar wenn sie so zeterte wie gestern abend. Freilich, mit Keifen hat noch keine den Esch auf Trab gebracht. An der Stimme lag's also nicht, sonst hätte sie ihn ja schon längst aus der Wohnung getrieben, z.B. damals, wie sie ihn in die Küche hinausrief, damit er sich die schlafende Ilona ansähe. Übrigens Ilona, die brauchte er überhaupt nicht mehr zu sehen, weder hier noch anderswo. Und am besten war es wohl, sich diese Dinge vom Leib zu halten, nichts davon zu wissen, daß es wahrscheinlich bloß Flucht vor Erna und ihren bösen Lüsten gewesen war, Flucht vor dieser unverbindlichen Lust, in der sich fürderhin alles abspielen soll, die aber das Tageslicht scheut, denn die Nacht allein ist die Zeit der Freiheit.Im Gefängnis erfuhr er, daß bloß dreimal wöchentlich Besuchstag sei; er müsse morgen neuerlich vorsprechen. Esch überlegte. Was tun? unverzüglich nach Badenweiler weiterreisen? Er begann zu fluchen, weil er in der Freiheit seines Handelns gestört war. Schließlich aber sagte er: Na schön, Galgenfrist“, und das Wort Galgenfrist wollte ihn nicht verlassen, wohnte in seinem Ohr und gab ihm sogar eine wohltuende stolze Kameradschaftlichkeit mit einem so mächtigen Manne, wie es der Präsident Bertrand war, denn die Galgenfrist war nun sowohl diesem als ihm selber geschenkt. Nein, er konnte nicht wegfahren, in die Dunkelheit fahren, ohne Martin vorher gesehen zu haben, und es wäre auch lächerlich, ja geradezu unwürdig wäre es gewesen, hätte dieser Mannheimer Aufenthalt bloß der Nacht mit Erna gegolten. Wenn man eine große Reise tut, läßt man nichts ungeordnet zurück, vielmehr hieß es noch, Gruß zu wechseln und Abschied zu nehmen. So fuhr er denn vor allem zum Hafen, um seine Bekannten in den Magazinen und in der Kantine aufzusuchen. Er fühlte sich beinahe wie ein Verwandter, der aus amerikanischer Ferne zu seinen Lieben heimkehrt und dem nun ein wenig bangt, daß man ihn, dem der Bart gewachsen ist, nicht mehr erkenne. Zum Beispiel wäre es immerhin möglich, daß die Wache am Eingang ihn gar nicht passieren lassen würde. Aber die Dinge entwickelten sich mit großer Freundlichkeit, nicht zuletzt, weil alle, denen er begegnete, wohl fühlen mochten, daß man ihm nichts mehr anhaben konnte; es begrüßten ihn die Zollwächter sofort mit schwebender Herzlichkeit und es entwickelte sich mit ihnen ein leichtes Gespräch. Ja, sagten sie lachend, soferne er nicht mehr bei der Reederei sei, dann hätte er auch hier nichts mehr zu schaffen, und Esch sagte, er werde ihnen schon zeigen, daß er hier etwas zu schaffen habe, und sie machten auch nicht den leisesten Versuch, ihn zurückzuhalten, als er hineinging. Niemand hinderte ihn, all die Schuppen und Krane, Magazine und Eisenbahnwagen nach Lust und Laune zu betrachten, und wenn er in die Magazine hineinrief, kamen die Platzmeister und Lagerhalter heraus und standen vor ihm wie Brüder. Trotzdem reute es ihn nicht, all dies zu verlassen, er prägte sich bloß alles recht deutlich ein und berührte auch manchmal einen Eisenbahnwagen oder eine Verladerampe, so daß das Gefühl des trockenen Holzes sich an seiner harten Handfläche festsetzte. Nur in der Kantine gab es eine Enttäuschung; sein Blick suchte Korn, und Korn fehlte; Korn war dumm und fürchtete sich, und Esch mußte lachen, denn er nahm ihm Ilona ja nicht mehr übel, Ilona wird ja entrückt sein, verschwunden auf unzugänglichem Schloß. So trank er bloß einen Schnaps mit den Polizisten und dann ging er den gewohnten Weg, der kaum mehr gewohnt, dennoch vertrauter als je vor ihm sich breitete, bis zu einer Straßenecke, an der das Zigarrengeschäft lag, erwartungsvoll ihm entgegenblickte, als hätte Lohberg schon mit großer Sehnsucht seiner geharrt, um mit ihm zu plaudern.Da saß nun auch wirklich Lohberg hinter seiner Registrierkasse und hielt den großen Zigarrenabschneider in der Hand, und als Esch eintrat, legte er freundlich das Instrument weg, weil er Esch für vieles Abbitte zu leisten hatte, was jedoch keiner von ihnen aussprach, denn Esch war bereit zu verzeihen und wollte nicht, daß Lohberg weine. Vielleicht ging es gegen die Verabredung, daß Lohberg von Erna zu reden anhub, aber dies war so geringfügig, daß Esch kaum darauf achthatte. Wer könnte ihn früher wecken, als es ihm selber behagte; er war frei! Sie ist ein prächtiger Kamerad“, sagte Lohberg, und wir haben vielerlei gemeinsame Interessen.“ Und da Esch frei war, zu sagen, was ihm behagte, so sagte er: Ja, sie wird Sie nicht umbringen“; dabei betrachtete er Lohbergs kümmerliche Gestalt, die von Mutter Hentjen mit einem Daumen zerdrückt werden könnte, und Erna tat ihm leid, weil sie nicht einmal dazu imstande war. Lohberg aber lächelte furchtsam, er fürchtete sich ein wenig vor den fünebren Scherzen und wurde unter den Augen seines grimmigen Gastes immer spärlicher und kleiner. Nein, das war kein Gegner, mit dem ein Esch sich messen wollte; stark sind erst die Toten, mochten sie auch im Leben wie kümmerliche Schneidergesellen ausgesehen haben. Esch ging im Laden umher wie ein Geist, schnupperte in die Luft, er öffnete diese Lade und jene, und strich auch mit der flachen Hand über den glatten Verkaufstisch. Er sagte: Wenn Sie tot sind, sind Sie stärker als ich, … aber Sie kann man ja gar nicht umbringen“, fügte er verächtlich hinzu, denn es fiel ihm ein, daß selbst ein toter Lohberg nicht in Betracht käme; den kannte er zu gut, der blieb ein Idiot, und bloß jene, die man niemals gekannt hat, jene, die niemals gelebt haben, die waren die Übermächtigen. Lohberg aber, mißtrauisch gegen die Frauen, sagte: Was meinen Sie damit? meinen Sie die Witwenversorgung? ich habe eine Lebensversicherung abgeschlossen.“ Das wäre allerdings ein Grund, einem Manne Gift einzugeben, sagte Esch und mußte so laut lachen, daß ihn das Lachen irgendwie lähmend in der Kehle schmerzte. Ja, Mutter Hentjen, das war eine Frau! Die arbeitete nicht mit Gift, die würde einen Lohberg einfach aufnadeln wie einen Käfer. Vor der mußte man Respekt und Hochachtung haben, und daß er sie je mit Lohberg hatte vergleichen können, dies wunderte Esch. Und er war ein wenig gerührt, weil sie sich dabei als schwache Frau hinstellte und vermutlich sogar recht hatte. Lohberg bekam eine Gänsehaut, rollte seine weißen Augen: Gift“, sagte er, als hörte er dieses Wort, das er doch schon genügend oft angewandt hatte, zum ersten Male oder zumindest in einer endgültigen Fassung. Eschs Lachen wurde geruhsam und ein bißchen verächtlich: Sie wird Sie schon nicht vergiften; dazu ist Erna wohl nicht imstande.“ – Nein“, sagte Lohberg, sie hat ein goldenes Herz; sie ist nicht einmal imstande, einer Fliege ein Haar zu krümmen …“ – Einen Käfer aufspießen“, sagte Esch. Ach, sicher nicht“, sagte Lohberg. Aber sowie Sie ihr untreu werden, bringt sie Sie trotzdem um“, drohte Esch. Ich werde meiner Gattin niemals untreu werden“, erklärte der Idiot. Esch jedoch wußte nun plötzlich, und es war eine angenehme und klare Erkenntnis, warum er Lohberg mit Mutter Hentjen hatte vergleichen können: Lohberg war eigentlich nur ein Frauenzimmer, so eine Art Transvestit war er, und deshalb verschlug es nichts, wenn er mit Erna schlief; auch Ilona hatte ja in Ernas Bett gelegen. Esch stand auf, stand robust und fest auf seinen Beinen und streckte die Arme aus wie einer, der vom Schlafe aufwacht, oder wie ein Gekreuzigter. Er fühlte sich stark, fest und wohlbestellt, ein Kerl, den umzubringen sich schon verlohnte. Entweder er oder ich“, sagte er und er fühlte, daß ihm die Welt gehörte. Entweder er oder ich“, wiederholte er, indem er mit langen Schritten das Lokal durchmaß. Was meinen Sie?“ fragte Lohberg. Nicht Sie“, antwortete Esch und zeigte ihm sein Pferdegebiß: Sie, Sie bekommen die Erna“, denn so war es gerecht: der hier hatte einen schönen glatten Laden samt Lebensversicherung, bekam die kleine Erna und durfte ohne Qual und ohne Kopfzerbrechen leben; er hingegen war erwacht und hatte die Aufgabe auf sich genommen. Und da Lohberg fortfuhr, Erna mit warmen Worten zu preisen, sagte Esch, was jener hören wollte und als Zeichen von oben eigentlich längst erwartet hatte: Ach, Sie mit Ihrem Heilsarmeegequassel …, wenn Sie noch lange fackeln, wird Ihnen das Mädchen ausrücken. Es wär' schon an der Zeit, daß Sie zugreifen. Sie Limonadebruder.“ – Ja“, sagte Lohberg, ja, ich glaube, die Zeit der Läuterung ist nun erfüllt.“ Hell und freundlich präsentierte sich der Laden im Lichte eines etwas trüben Sommertages; seine gelben Eichenmöbel machten einen soliden und gefestigten Eindruck, und neben der Registrierkasse lag ein Buch mit säuberlich addierten Kolonnen. Esch setzte sich an Lohbergs Pult und schrieb an Mutter Hentjen, daß er wohlbehalten angelangt und im Begriffe sei, seine Geschäfte zu erledigen.
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Daß er diese zweite Nacht wieder mit Erna verbrachte, sah er als eine Formalität an, die zu erfüllen ein freier Mensch berechtigt war. Sie hatten in Freundschaft über die Ehe mit Lohberg gesprochen und taten sich das Liebe fast mit Zartheit und Wehmut und als ob sie nie miteinander gekämpft hätten. Und nach dieser langen und wachen Nacht erhob er sich mit dem guten Gefühl, daß er Erna und Lohberg zu ihrem Glücke verholfen habe. Denn der Mensch trägt vielerlei Möglichkeiten in sich, und je nach der logischen Kette, die er um die Dinge wirft, kann er sich beweisen, daß sie gut oder schlecht sind.Gleich nach Tische machte er sich auf den Weg zur Strafanstalt. Bei Lohberg kaufte er Zigaretten, die er Martin zustecken wollte; etwas anderes fiel ihm nicht ein. Es war drückend heiß geworden und Esch mußte des Nachmittags in Goarshausen gedenken, an dem er Martin der Hitze wegen bemitleidet hatte. In der Anstalt wurde er ins Sprechzimmer gewiesen, dessen vergitterte Fenster auf den kahlen Hof hinausgingen. Die gelbgetünchten Gebäude warfen scharfkantige Schatten in den leeren Hof. In der Mitte des Platzes mochte wohl das Blutgerüst errichtet werden, auf dem der Delinquent zu knien hat, die Schärfe des Beils, mit dem der Kopf ihm abgehauen wird, im Nacken zu erwarten. Als Esch dies festgestellt hatte, wollte er den Hof nicht mehr sehen und wandte sich vom Fenster weg. Er betrachtete das Zimmer. In der Mitte stand ein gelbgestrichener Tisch, dessen Tintenspuren erkennen ließen, daß er aus irgendeiner Kanzlei hierhergeschafft worden war, auch einige Stühle waren vorhanden. Das Zimmer glühte trotz des Schattens, denn die Vormittagssonne hatte hereingebrannt und die Fenster waren geschlossen. Esch wurde schläfrig; er war allein und er setzte sich; man ließ ihn warten.Dann hörte er Schritte auf dem gepflasterten Gang und das Klappern von Martins Krücken. Esch erhob sich, als sollte ein Vorgesetzter kommen. Martin jedoch trat in dieses Zimmer nicht anders als in Mutter Hentjens Wirtschaft. Wenn ein Musikautomat vorhanden gewesen wäre, er wäre wohl hingehumpelt und hätte hineingegriffen. Er sah sich in dem Raume um und schien befriedigt, daß Esch allein war, ging auf ihn zu und gab ihm die Hand: 'n Tag, Esch, schön von dir, daß du mich besuchst.“ Er lehnte die Krücken an den Tisch, wie er es bei Mutter Hentjen immer getan hatte, und ließ sich nieder. Na, setz' dich doch auch, Esch.“ Der Aufseher, der ihn hergebracht hatte, erinnerte mit seiner Uniform an Korn; er war vorschriftsmäßig bei der Türe stehen geblieben. Wollen Sie nicht auch Platz nehmen, Herr Oberaufseher? Es kommt ja niemand und ausreißen werde ich Ihnen bestimmt nicht.“ Der Mann brummte etwas von Dienstreglement, aber er kam zum Tische hin und legte seinen großen Schlüsselbund darauf. So“, sagte Martin, jetzt ist's behaglich“, und dann schwiegen die drei Männer, saßen um den Tisch herum und betrachteten die Kerben im Holze. Martin war noch etwas vergilbter als sonst; Esch wagte nicht zu fragen, wie es ihm gehe. Martin mußte über das betretene Schweigen lächeln und sagte: Also erzähl' einmal, August, was gibt es Neues in Köln? wie geht es Mutter Hentjen und den anderen?“Esch fühlte sich trotz seiner erhitzten Wangen erröten, denn es war ihm nun plötzlich, als hätte er die Haft des Gefangenen benützt, ihm die Freunde zu stehlen. Und er wußte auch nicht, ob er dieselben vor dem Wärter preisgeben dürfe. Schließlich liebt es nicht ein jeder, im Sprechzimmer einer Strafanstalt mit einem Verbrecher in Verbindung gebracht zu werden. Er sagte: Es geht ihnen allen gut.“Martin mochte wohl die Bedenken verstanden haben, denn er drängte nicht auf ausführlichere Antwort, sondern fragte: Und du selber?“Ich fahre nach Badenweiler.“Zur Kur?“Esch fand, daß Martin keinen Anlaß habe, ihn zu verhöhnen. Er sagte trocken: Zum Bertrand.“Alle Wetter, das ist ein Avancement! Ein feiner Mann, der Bertrand.“Esch war sich nicht klar, ob Martin noch immer spaßte oder es sonstwie ironisch meinte. Ein feiner warmer Bruder war Bertrand, das war richtig. Aber so etwas durfte er vor dem Wärter nicht äußern. Er brummte: Na, wenn er so fein wäre, säßest du nicht hier.“?“Du bist doch unschuldig.“Ich? ich habe es ja schwarz auf weiß, gerichtsordnungsmäßig geradezu, daß ich meine Unschuld mehrere Male verloren habe.“So laß endlich diese dummen Späße. Wenn der Bertrand so ein feiner Mann ist, so muß man's ihm sagen, was damals los war. Da wird er schon dafür sorgen, daß du rauskommst.“Damit willst du ihn behelligen? Deswegen fährst du nach Badenweiler?“ Martin lachte und streckte ihm die Hand über den Tisch hin: Aber, August, was fällt dir ein! ein Glück, daß der Mann nicht da sein wird …“Esch sagte rasch: Wo ist er?“Ach, der ist ja immer auf Reisen, in Amerika oder sonstwo.“Esch stutzte: also der Bertrand war in Amerika! war ihm zuvorgekommen, war früher drüben in der leuchtenden Freiheit. Und obwohl er es doch stets geahnt hatte, daß die Größe und die Freiheit des fernen Landes in einem sehr bedeutsamen wenn auch nicht völlig erfaßbaren Zusammenhang mit der Größe und der Freiheit des unerreichbaren Mannes stehen müßten, schien es nun Esch, als ob durch eine Amerikareise des Präsidenten seine eigenen Auswanderungspläne für immer vernichtet wären. Und weil dies so war und weil alles so ferne und unerreichbar war, geriet er in Wut gegen Martin: Ein Präsident kann leicht nach Amerika … aber Italien wird's auch tun.“Martin sagte verträglich: Meinetwegen Italien.“Esch überlegte, ob er sich im Zentralbüro der Mittelrheinischen nach dem Aufenthaltsort Bertrands erkundigen müsse. Aber plötzlich erachtete er es für überflüssig und er sagte: Er ist in Badenweiler.“Martin lachte: Na, du sollst recht haben; vorlassen würden sie dich sowieso nicht … steckt doch irgendein Mädel hinter der Reise, was?“Ich werde schon Mittel und Wege finden, daß er mich vorläßt“, sagte Esch drohend.Martin witterte etwas: Mach keine Dummheiten, August, belästige den Mann nicht; er ist ein anständiger Mensch, vor dem man Respekt haben muß.“Offenbar hat er keine Ahnung, was sich hinter dem Bertrand alles verbirgt, dachte Esch, aber er durfte nichts sagen, also sagte er bloß: Anständig sind sie alle; sogar der Nentwig“, und nach kurzem Überlegen, die Toten waren auch anständig, freilich, wie es um diese Anständigkeit bestellt ist, das sieht man erst an der Erbschaft, die sie einem hinterlassen haben.“Was heißt das?“Esch zuckte die Achsel: Nichts, ich meinte bloß so, … ja, daß es schließlich doch gleichgültig ist, ob einer anständig ist oder nicht; er ist es immer nur auf der einen Seite; auf ihn kommt es auch gar nicht an, sondern bloß auf das, was er getan hat.“ Und wütend setzte er hinzu: Sonst kennt man sich überhaupt nicht mehr aus.“Martin schüttelte belustigt und doch besorgt den Kopf: Du, August, du hast hier in Mannheim einen Freund, der immer vom Gift gefaselt hat. Mir kommt vor, der hat dich vergiftet …“Esch aber fuhr unbeirrt fort: Man weiß ohnehin nicht mehr, was schwarz und was weiß ist. Alles geht durcheinander. Du weißt nicht einmal, was gewesen ist und was noch besteht …“Martin lachte wieder: Noch viel weniger weiß ich, was sein wird.“Sei doch endlich ernsthaft. Für die Zukunft opferst du dich auf; das hast du selber gesagt … das ist das Einzige, was bleibt: für die Zukunft sich aufopfern und Sühne für das, was geschehen ist; ein anständiger Mensch opfert sich, sonst gibt es keine Ordnung.“Der Gefängniswärter hörte mißtrauisch zu: Sie dürfen hier keine revolutionären Reden führen.“Martin sagte: Das ist kein Revolutionär, Herr Aufseher. Eher sind Sie einer.“Esch war verblüfft, daß seine Meinung so aufgefaßt werden konnte. Also jetzt war auch er schon ein Sozialdemokrat! Auch recht! und trotzig fügte er hinzu: Meinetwegen mag's revolutionär sein. Übrigens hast du selber immer gepredigt, daß es gleichgültig ist, ob ein Kapitalist anständig ist oder nicht, weil er als Kapitalist und nicht als Mensch bekämpft werden muß.“Martin sagte: Sehen Sie, Herr Oberaufseher, soll man Besuche empfangen? dieser Mann wird mir mit seinen Reden noch die ganze Seele vergiften. Wo ich doch eben erst geläutert worden bin.“ Und zu Esch gewendet: Du bist der alte Wirrkopf geblieben, lieber August.“Der Wärter sagte: Dienst ist Dienst“, und da ihm ohnedies schon zu heiß war, sah er auf die Uhr und erklärte, daß die Besuchszeit abgelaufen sei. Martin nahm die Krücken: Also schön, führen wir mich wieder ab.“Er gab Esch die Hand.Und laß es dir gesagt sein, August, mach keine Dummheiten. Und schönen Dank für alles.“Esch war auf solch jähen Aufbruch nicht vorbereitet. Er behielt Martins Hand in der seinen und überlegte, ob er dem feindlichen Wärter gleichfalls die Hand geben dürfe. Aber er reichte sie ihm, weil sie doch gemeinsam an einem Tische gesessen hatten, und Martin nickte befriedigt dazu. Dann ging Martin, und Esch wunderte sich von neuem, daß es nicht anders war, als ob Martin das Lokal Mutter Hentjens verließe, und dabei ging's in die Kerkerzelle! Es schien wirklich alles gleichgültig zu sein, was auf der Welt geschah. Und trotzdem war nichts gleichgültig: man mußte es bloß erzwingen.Vor dem Gefängnistor atmete Esch auf; er klopfte sich ab, wie um sich seiner eigenen Anwesenheit zu vergewissern, geriet an die für Martin bestimmten Zigaretten in seiner Tasche, und wieder stieg dieser vermaledeite unerklärliche Zorn in ihm hoch, und wieder war sein Mund voller Schimpfworte. Sogar Martin nannte er einen lächerlichen Volksredner, einen Demagogen, wie man so sagt, obwohl er ihm im Grunde nichts vorwerfen konnte, höchstens, daß er sich aufspielte, als sei er die Hauptperson, während es sich hier wahrlich um Wichtigeres drehte. Aber so sind eben die Demagogen.Esch fuhr in die Stadt zurück, ärgerte sich, weil der Straßenbahnschaffner uniformiert war, und holte seine Sachen von Fräulein Erna. Sie empfing ihn mit Zeichen großer Zuneigung. Und in seinem Zorn gegen die Unentwirrbarkeit der Welt ließ er es sich aus Verachtung gefallen. Daraufhin nahm er kurz Abschied und eilte zum Bahnhof, um den Abendzug nach Müllheim zu erreichen.
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Wenn Wünsche und Ziele sich verdichten, wenn der Traum vorstößt zu den großen Wendungen und Erschütterungen des Lebens, dann verengt sich der Weg zu dunkleren Schächten und der Vortraum des Todes senkt sich auf den, der bisher im Traume gewandelt hat: was gewesen ist, Wünsche und Ziele, sie gleiten nochmals vorüber wie vor den Augen des Sterbenden, und beinahe kann man es Zufall nennen, wenn es nicht zum Tode führt.
Der Mann, der in weiter Ferne nach seiner Frau sich sehnt oder auch nur nach der Heimat seiner Kindheit, steht am Beginn des Schlafwandelns.Manches hat sich vielleicht schon vorbereitet und er hat es bloß nicht beachtet. So z.B., wenn es ihm auf dem Weg zum Bahnhof auffällt, daß die Häuser aus geschichteten Ziegeln, die Türen aus zersägten Brettern, die Fenster aus viereckigen Glastafeln bestehen. Oder wenn er sich der Redakteure und der Demagogen erinnert, die so tun, als wüßten sie, wo rechts und wo links ist, während doch bloß die Frauen dies wissen, und auch von denen keineswegs alle. Aber man kann nicht immerzu an solche Dinge denken, und ruhigen Gemütes trinkt er am Bahnhof ein Glas Bier.Wie er aber den Zug nach Müllheim heranbrausen sieht, diesen so sicher auf das Ziel losschießenden großen und langen Wurm, da packt es ihn plötzlich, packt ihn plötzlicher Zweifel an der Zuverlässigkeit der Lokomotive, die vielleicht den Weg verfehlen könnte, packt ihn die Furcht, daß er, der bekanntlich sehr wichtigen irdischen Pflichten nachzukommen hat, diesen Pflichten entzogen und am Ende gar nach Amerika entführt werden würde.In seinen Zweifeln hätte er sich am liebsten nach Art ungeübter Reisender an den uniformierten Verkehrsbeamten herangemacht, aber der Bahnsteig ist so ausgedehnt, ist so unermeßlich lang und kahl, daß man ihn kaum durcheilen kann und sich glücklich preisen muß, falls man den Zug, fahre er wohin immer, zwar atemlos, trotzdem noch glücklich erreicht. Natürlich bemüht man sich dann, an den Waggons die Tafeln zu entziffern, die das Fahrtziel bekanntgeben, indes man begreift bald, daß es ein nutzloses Beginnen ist, denn was die Tafeln zeigen, sind ja bloß Worte. Und der Reisende bleibt ein wenig unschlüssig vor dem Waggon stehen.Unschlüssigkeit und Atemlosigkeit genügen sicherlich, einen Menschen von zorniger Gemütsart zum Fluchen zu bringen, noch dazu, wenn er, gehetzt vom Abfahrtssignal, in Windeseile die unbequemen Stufen des Wagens hinaufklimmen muß und sich das Schienbein an das Trittbrett anschlägt. Er flucht, flucht auf die Stufen und auf ihre dämliche Konstruktion, flucht auf das Schicksal. Indes hinter solcher Ungehobeltheit steckt eine richtigere, ja aufreizendere Erkenntnis, und wäre der Mensch helldenkend, er könnte es wohl aussprechen: bloßes Menschenwerk ist dies alles, ach, diese Stufen, angepaßt der Beugung und Streckung des menschlichen Knies, dieser unermeßlich lange Bahnsteig, diese Tafeln mit Worten darauf und die Pfiffe der Lokomotiven und die stählern glitzernden Gleise, Fülle von Menschenwerken, sie alle Kinder der Unfruchtbarkeit.Undeutlich weiß der Reisende, daß er durch solche Betrachtungen sich über den Alltag erhebt, und er möchte es sich gern für sein ganzes Leben einprägen. Denn verdienen derartige Betrachtungen auch allgemein menschliche genannt zu werden, so sind ihnen die Reisenden, insbesonders jene von zorniger Gemütsart, eher geöffnet als die Stubenhocker, die nichts denken, selbst wenn sie noch so oft am Tage die Haustreppe hinauf- und hinuntersteigen. Der Stubenhocker merkt nicht, daß er von Menschenwerk umgeben ist und daß seine Gedanken gleichfalls bloßes Menschenwerk sind. Er sendet die Gedanken aus, so wie man sichere und geschäftstüchtige Reisende aussendet, damit sie die ganze Welt bereisen, und er meint, auf diese Weise die Welt in seine Stube und in sein eigenes Geschäft zu zwingen.Der Mann jedoch, der statt seiner Gedanken sich selber ausschickt, hat solch voreilige Sicherheit verloren; sein Zorn wendet sich gegen alles, was Menschenwerk ist, gegen die Ingenieure, die die Stufen so und nicht anders konstruieren, gegen die Demagogen, die von der Gerechtigkeit, Ordnung und Freiheit faseln, als könnten sie die Welt nach ihrem Kopfe einrichten, gegen die Besserwisser wendet sich der Zorn des Mannes, in dem das Wissen der Unwissenheit aufgedämmert ist.Eine schmerzliche Freiheit meldet sich, daß es auch anders sein könnte. Unvermerkt sind die Worte, mit denen die Dinge belegt werden, ins Unsichere geglitten; es ist, als seien die Worte verwaist. Unsicher geht der Reisende durch den langen Korridor des Wagens, ein wenig verwundert, daß es Glasfenster gibt wie in den Häusern, und er berührt die kühle Fläche mit seiner Hand. So gerät der Mensch, der eine Reise tut, leicht in einen Zustand unverbindlicher Verantwortungslosigkeit. Nun, da der Zug in voller Fahrt dahinbraust, scheinbar aufs Ziel losschießend, scheinbar in die Verantwortungslosigkeit strebend, und sein Hinstürmen höchstens mittels der Notbremse zum Halten zu bringen ist, nun da der Reisende mit sehr großer Eile unter seinen Füßen weggetragen wird, da versucht er, der auch in der schmerzlichen Freiheit der Tageshelle sein Gewissen nicht verloren hat, in entgegengesetzter Richtung zu gehen. Doch er kommt zu keinem Ende, denn hier ist alles Zukunft.Eiserne Räder trennen ihn von der guten festen Erde, und der Reisende in dem Korridor denkt an Schiffe mit langen Gängen, wo Koje an Koje sich reiht, schwimmend auf dem Wasserberg hoch über dem Meeresgrund, der Erde ist. Süße, nie erfüllte Hoffnung! was nützt es, sich im Bauche des Schiffes zu verkriechen, wenn bloß der Mord die Freiheit bringen kann, – ach, nie wird das Schiff bei dem Schlosse anlegen, auf dem die Geliebte wohnt. Der Reisende in dem Korridor gibt seine Wanderung auf, und während er so tut, als betrachte er die Landschaft und die fernen Burgen, drückt er die Nase platt an die Scheibe des Fensters, wie er es als Kind getan hat.Freiheit und Mord, so nahe verwandt wie Zeugung und Tod! Und wer in die Freiheit geworfen ist, der ist verwaist wie der Mörder, der auf seinem Gang zum Schafott nach der Mutter schreit. In dem dahinbrausenden Zug ist alles Zukunft, weil jeder Augenblick einem andern Orte schon angehört, und die Menschen im Waggon sind zufrieden, als wüßten sie, daß sie der Sühne entrückt werden. Jene, die auf dem Bahnsteig zurückgeblieben sind, sie haben noch getrachtet, mit Rufen und Tücherschwenken an das Gewissen der Enteilenden zu rühren und sie zur Pflicht zurückzubringen, aber die Reisenden geben die Verantwortungslosigkeit nicht mehr auf, verschließen die Fenster unter dem Vorwand, daß sie infolge der Zugluft ein steifes Genick befürchten, und packen ihre Eßvorräte aus, die sie nun mit niemandem mehr zu teilen brauchen.Mancher von ihnen hat die Fahrkarte an den Hut gesteckt, auf daß seine Unschuld schon von weitem erkennbar sei, die meisten allerdings suchen mit hastiger Angst nach der Fahrkarte, wenn der Ruf des Gewissens ertönt und der uniformierte Beamte erscheint. Wer an Mord denkt, ist bald ertappt, und es nützt ihm nichts, daß er wie ein Kind kunterbunt vielerlei Speisen und Leckereien zu sich nimmt; es bleibt Henkersmahlzeit.Sie sitzen auf Bänken, die von den Konstrukteuren in schamloser und vielleicht voreiliger Weise der zwiefach gebrochenen Form des sitzenden Körpers angepaßt worden sind, sitzen zu acht geordnet und aneinandergepreßt in ihrem bretternen Käfig, sie wackeln mit den Köpfen und hören das Knarren des Holzes und das leichte Kreischen des Gestänges über den rollenden stoßenden Rädern. Wer in der Fahrtrichtung sitzt, verachtet die anderen, die in die Vergangenheit schauen; sie fürchten die Zugluft, und wenn die Türe aufgerissen wird, so fürchten sie einen, der kommen könnte, ihnen den Kopf in den Nacken zu drehen. Denn wem dies geschieht, der weiß nichts mehr von der Gerechtigkeit zwischen Schuld und Sühne; er zweifelt, daß zwei und zwei vier, zweifelt, daß er seiner Mutter Kind ist und nicht etwa eine Mißgeburt. So sind auch ihre Fußspitzen sorgsam nach vorne gerichtet und deuten auf die zu verfolgenden Geschäfte. Denn in den Geschäften, die sie betreiben, liegt ihre Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft ohne Kraft, doch voller Unsicherheit und voll des bösen Willens.Bloß die Mutter kann das Kind beruhigen, daß es keine Mißgeburt ist. Die Reisenden hingegen und die Waisenkinder, sie alle, die die Brücken hinter sich verbrennen, wissen nicht mehr, wie es um sie steht. In die Freiheit geworfen, müssen sie Ordnung und Gerechtigkeit neu errichten; sie wollen sich von den Ingenieuren und Demagogen nichts mehr vorflunkern lassen, sie hassen das Menschenwerk in den staatlichen und technischen Einrichtungen, allein sie wagen nicht, sich gegen das jahrtausendealte Mißverständnis aufzulehnen und die schreckliche Revolution der Erkenntnis heraufzubeschwören, in der zwei und zwei nicht mehr zu summieren sein wird. Denn niemand ist da, sie der verlorenen und wiedergefundenen Unschuld zu versichern, niemand, in dessen Schoß sie ihr Haupt legen können, fliehend ins Vergessen aus der Freiheit des Tages.Zorn schärft die Sinne. Die Reisenden haben ihr Gepäck mit großer Sorgfalt in den Netzen geordnet, sie führen zornige und kritische Gespräche über die politischen Einrichtungen des Reiches, über die öffentliche Ordnung und über das Rechtswesen, sie bekritteln die Dinge und Einrichtungen in scharfer Form, wenngleich mit Worten, an deren Gemäßheit sie nicht mehr recht glauben können. Und in dem schlechten Gewissen ihrer Freiheit fürchten sie den schrecklichen Krach des Eisenbahnunglücks, bei dem ihnen das eiserne Gestänge spießend durch den Leib fährt. Dergleichen hat man schon oft in der Zeitung gelesen.Doch sie sind wie Menschen, die man allzufrüh aus dem Schlaf und zur Freiheit geweckt hat, auf daß sie rechtzeitig den Zug erreichen. So werden ihre Worte immer unsicherer und schläfriger, und bald verebbt das Gespräch in undeutlichem Murmeln. Der eine oder der andere sagt wohl noch, daß er nun lieber die Augen schlösse, als daß er das rasend vorbeieilende Leben betrachte, aber die Mitreisenden, zurückflüchtend in den Traum, hören ihm nicht mehr zu. Sie schlafen ein mit geballten Fäusten und den Mantel vors Gesicht gezogen, und ihre Träume sind voller Wut gegen die Ingenieure und Demagogen, die mit dem Wissen der Verruchten die Dinge bei den Namen nennen, die falsch sind, so schamlos in ihrer Falschheit, daß der zornige Traum den Dingen neue und sehr unsichere Namen geben muß, voll Sehnsucht aber, daß die Mutter die richtigen nenne und die Welt sicher werde wie eine feste Heimat.Übernahe und überferne, wie einem Kinde, sind die Dinge, und der Reisende, der den Zug bestiegen hat und in weiter Ferne nach seiner Frau sich sehnt oder auch nur nach seiner Heimat, ist wie einer, dem das Augenlicht zu versagen beginnt und den eine leise Angst überkommt, er könnte erblinden. Es ist vieles undeutlich um ihn geworden, wenigstens meint er, daß es so sei, sobald er sein Gesicht mit dem Mantel bedeckt hat, und dennoch beginnt ein Wissen in ihm aufzukeimen, das er vielleicht schon besaß, aber nicht beachtet hat. Er steht am Beginn des Schlafwandelns. Noch folgt er der Straße, welche von den Ingenieuren bereitet worden ist, aber er geht nur mehr am Rand, so daß man fürchten muß, er werde hinabstürzen. Die Stimme des Demagogen hört er noch, aber sie ist ihm nicht mehr Sprechen. Er streckt die Arme seitwärts und nach vorne gleich dem traurigen Seiltänzer, der hoch über der guten Erde von besserem Halt weiß. Erstarrt und bezwungen schwebt die gefangene Seele, und der Schlafende gleitet nach aufwärts, wo die Fittiche der Liebenden seinen Atem berühren wie die Flaumfeder, die man dem Toten auf die Lippen legt, und er wünscht, daß man ihn, als wäre er ein Kind, nach seinem Namen frage, damit er in den Armen der Frau, eratmend die Heimat, traumlos versinke. Noch ist er nicht sehr überhöht, doch schon steht er auf einer kleinen erstmaligen Staffel der Sehnsucht, denn er weiß es nicht mehr, wie er heißt.
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Daß Einer komme, der den Opfertod auf sich nimmt und die Welt zum Stande neuer Unschuld erlöst: aufsteigt solch ewiger Wunsch des Menschen bis zum Morde, auf steigt solch ewiger Traum bis zur Hellsichtigkeit. Zwischen geträumtem Wunsch und ahnendem Traum schwebt alles Wissen, schwebt das Wissen vom Opfer und vom Reich der Erlösung.
Er hatte in Müllheim übernachtet. Im kühlen Morgendunst des Sommers lagen die grünen Berge des Schwarzwalds, da er den kleinen Zug bestieg, der ihn nach Badenweiler bringen sollte. Die Welt sah klar und nahe aus wie ein gefährliches Spielzeug. Die Lokomotive war so kurzatmig, daß man ihr gerne einige Haften am Halse geöffnet hätte; doch ob sie den Zug eigentlich rasch oder langsam zog, das wußte man nicht. Demungeachtet durfte man sich ihr mit Sorglosigkeit anvertrauen. Als sie hielt, grüßten Bäume freundlicher denn je, und umspielt von würzigen und leichten Lüften erhob sich neben dem Bahnhofsgebäude ein Kiosk mit einer Auslage voll schöner Ansichtskarten. Die hätten sich alle in Mutter Hentjens Sammlung gut gemacht, und Esch wählte eine, auf welcher der Schloßberg lieblich zu sehen war, steckte sie in die Tasche und suchte eine schattige Bank, mit Muße dort zu schreiben. Aber er schrieb nicht. Er blieb ruhig sitzen, wie einer, der nun nichts mehr zu versäumen hat, und friedlich ruhten seine Hände auf den Knien. So saß er lange, schaute durch geschlossene Lider das Grün der Bäume, saß so lange, daß voll Verwunderung er nicht mehr wußte, wie er hierher geraten war, als er dann durch die sorglosen Straßen ging, in denen die Menschen atmeten. Vor einem Hause stand ein drohendes Automobil und Esch betrachtete es eindringlich, ob es zum Übernachten geeignet sei. Gelassen betrachtete er auch noch andere Dinge, denn in ihm war die Sicherheit und die Gelöstheit des Reiters, der sein Ziel erreicht hat und der, im Sattel sich wendend, die anderen in weiter Ferne zurückbleiben sieht; alle Anspannung fällt da von ihm und bequem, fast zögernd legt er die letzte Strecke zurück, ja er ist voll Verlangen, daß noch ein besonders hohes und schwieriges Hindernis sich ihm entgegenstelle, ehe das Ziel erreicht wird und er nach dem sicheren Siege greift. Darum war es fast schmerzlich, so hold der Tag auch war, abhold jedem Schmerze, daß er mit solcher Sicherheit dem Hause Bertrands zustrebte: ohne Aufenthalt und ohne zu fragen, wußte er, wohin er sich zu wenden hatte. Er stieg die sanft gewundene Parkstraße hinan; der Atem des Waldes traf ihn, berührte seine Stirne, berührte die Haut im Kragen und in den Ärmeln, und den Hauch zu empfangen, nahm er den Hut in die Hand und öffnete die Knöpfe der Weste. Nun trat er in ein Parktor, kaum sich verwundernd, daß das Anwesen bei weitem nicht jenen großartigen Charakter besaß, mit dem es durch seine Traumbilder schwebte. Und wenn auch an keinem der Fenster dort droben Ilona im Flimmerkleide zu sehen war, der schönen Landschaft schönstes Widerspiel, sie selber schon am Ziele und lässig dort lehnend, ach, wenn man es auch sehr vermißte, unberührt blieb das Traumschloß, unberührt das Bild des Traumes, und es war, als ob das, was er leibhaftig vor sich sah, bloß eine sinnbildliche Stellvertretung wäre, errichtet für den augenblicklichen und praktischen Gebrauch, Traum im Traume. Oberhalb der sanft geböschten tief grünen Wiese, die im Morgenschatten lag, war das villenartige Gebäude in einem gemäßigten und soliden Stile ausgeführt, und als sollte die spielerische und gleitende Kühle dieses Morgens, als sollte das Sinnbild nochmals versinnbildlicht werden, gab es auf dem Böschungsabsatz einen fast lautlosen Springbrunnen und der war wie ein spiegelnder Trunk, den man bloß um der Klarheit des Wassers willen genießt. Aus dem Portierhause, das von Geißblatt umrankt hinter dem Tore lag, trat ein Mann in grauem Anzug, der nach dem Begehr fragte. Die silbernen Knöpfe an seinem Rock waren nicht das Zeichen einer Uniform oder Livree, sondern sie blitzten und spiegelten sanft und kühl, als seien sie bloß für diesen schimmernden Morgen angenäht worden. Hatte es gestern noch einen Augenblick sinkenden Selbstvertrauens gegeben, zweifelnd, ob der Herr Präsident überhaupt anzutreffen sein würde, es war nun jeder Zweifel verflogen, und beinahe hätte Esch behauptet, zu denen zu gehören, die ungefragt hier ein- und ausgehen dürfen. Also wunderte er sich nicht über den Pförtner, der es verabsäumte, Namen und Begehr in einen Durchschreibblock einzutragen, dachte auch nicht daran, daß es vielleicht geziemender gewesen wäre, beim Eingang zu warten, sondern dem Manne sich anschließend, ging er an seiner Seite, und der ließ es schweigend geschehen. Sie traten in einen dämmerigen und kühlen Vorraum, und während der Mann in einer der vielen weißlackierten Türen verschwand, die sanft sich öffnete und sanft hinter ihm sich schloß, spürte Esch den weichen schwebenden Teppich unter seinen Sohlen, harrte des Boten, der zurückkam und ihn durch einige Gelasse führte bis zu einer andern Pforte, bei der er mit einer Verbeugung den Gast entließ. Und obwohl dieser nun ohne weiteres des Führers enträt, denkt er, daß es richtiger und sogar wünschenswerter wäre, wenn die Flucht der Gemächer sich noch weithin, vielleicht ins Ewige erstrecken würde, in eine unerreichbare Ewigkeit, vorgelagert dem innersten Heiligtum, sozusagen dem Thronsaal vorgelagert, und fast glaubt der Gast, er hätte die unendliche Reihe unendlicher Räume auf eine wundersame und unanständige und unmerkliche Art dennoch durcheilt, da er bereits vor jenem stand, der die Hand ihm reichte. Und obwohl Esch wußte, daß es Bertrand war, und es keinen Zweifel mehr gab, weder hier noch sonstwo, da wollte ihn bedünken, es sei dieser bloß das Sinnbild eines andern, Spiegelbild eines eigentlicheren und vielleicht größeren, der im Verborgenen blieb, so einfach und glatt, so wahrhaft gleitend ging dies alles vonstatten. Nun sah er ihn auch, der bartlos wie ein Schauspieler und doch kein Schauspieler war; sein Gesicht war jugendlich und sein lockiges Haar war weiß. In dem Räume gab es viele Bücher, und Esch saß neben dem Schreibtisch, als wäre er bei einem Arzte. Er hörte ihn sprechen, und die Stimme war teilnehmend wie die eines Arztes. Was führt Sie zu mir?“Und der Träumende hörte seine eigene leise Stimme: Ich werde Sie der Polizei angeben.“Oh, schade“, war die so leise Antwort, daß auch Esch die Stimme nicht zu heben wagte. Fast für sich selbst wiederholte er: Der Polizei angeben.“Hassen Sie mich denn?“Ja“, log Esch und schämte sich der Lüge.Das ist doch nicht wahr, mein Freund, Sie haben mich doch gern.“Ein Unschuldiger sitzt an Ihrer Stelle im Gefängnis.“Esch fühlte, wie der andere lächelte, und er sah Martin vor sich, wie er sprach und dabei lächelte. Und dieses Lächeln war auch in Bertrands Stimme: Aber Kind, da hätten Sie mich doch schon längst anzeigen müssen.“Man durfte ihm nichts tun; Esch sagte trotzig: Ich meuchle nicht.“Nun lachte Bertrand gar, ein leichtes unhörbares Lachen, und weil der Morgen so anmutig war, ja weil der Morgen so anmutig sich anließ, war Esch außerstande, sich zu ärgern, wie man sich eben ärgert, wenn man ausgelacht wird, sondern er vergaß, daß er doch gerade von Mord gesprochen hatte, und wäre es dem Anstand gemäß gewesen, er hätte gerne in das leichte Lachen Bertrands mit eingestimmt. Und zur Ernsthaftigkeit sich zwingend, und obschon die beiden Gedanken nicht recht zueinanderpaßten oder bloß in einem andern und schwerer verständlichen Zusammenhang sich befanden, setzte er fort: Nein, ich begehe keinen Meuchelmord; Sie müssen Martin befreien.“Bertrand jedoch, der offenbar alles verstand, schien auch dieses zu verstehen; seine nun ernstere Stimme war zwar noch immer voll beruhigender und leichter Fröhlichkeit: Aber Esch, wie kann man bloß so feig sein? braucht man denn einen Vorwand für einen Mord?“Nun war das Wort wieder hier, wenn auch nur herbeigeflattert wie ein stiller, dunkler Schmetterling. Und Esch dachte, es müßte Bertrand eigentlich nicht sterben, wo Hentjen ohnehin schon tot war. Aber dann ergab es sich wie eine klare und sanfte Erleuchtung, daß ein Mensch zweimal sterben könne. Und Esch sagte und wunderte sich, daß ihm dieser Gedanke nicht früher gekommen war: Es steht Ihnen ja frei zu fliehen“, und lockend schlug er vor: nach Amerika.“Es war, als ob Bertrand nicht zu ihm spräche: Du weißt es, mein Lieber, daß ich nicht fliehe. Zu lange schon habe ich diesen Augenblick erwartet.“Da war Esch nun voll Liebe für jenen, der so viel höher stand als er und doch mit ihm, der bloß ein junger Angestellter seines Unternehmens und überdies ein Waisenkind war, vom Sterben sprach wie mit einem Freunde. Esch freute sich, die Magazinsbücher gut geführt und anständige Arbeit treu geleistet zu haben. Und er wagte nicht zu bejahen, daß er wisse, wie es um Bertrand bestellt war, wagte auch nicht zu bitten, daß Bertrand ihn umbringe, sondern er nickte bloß verständig mit dem Kopfe. Bertrand sagte: Keiner steht so hoch, daß er den andern richten darf, und so verworfen ist keiner, daß seine ewige Seele nicht Ehrfurcht gebietet.“Da wußte Esch nun plötzlich Bescheid wie noch nie, wußte auch, daß er sich und die Welt betrogen hatte, denn es war, als ob das Wissen, das Bertrand von ihm besaß, nun zu ihm zurückflute: niemals hatte er daran geglaubt, daß dieser Mann Martin befreien würde. Bertrand aber, der Erkennende und Erkannte, sagte mit einer leicht wegwerfenden Handbewegung: Und wenn ich Ihre furchtsame Hoffnung und die unerfüllbare Bedingung erfüllte, Esch, müßten wir uns dann nicht beide schämen: Sie, weil Sie nur ein kleiner banaler Erpresser gewesen wären, ich, weil ich mich einem solchen Erpresser ausgeliefert hätte.“Und obwohl Esch, dem überwach Träumenden, nichts entging, weder die etwas verächtliche Geste der Hand, noch der ironische Zug, der in dem Lächeln um Bertrands Mund nun zu sehen war, so ließ ihn doch die Hoffnung nicht los, Bertrand werde trotz allem die Bedingung erfüllen oder wenigstens fliehen: Esch hoffte es, denn jäh war die Befürchtung aufgestiegen, daß in dem zweiten Tod des Herrn Hentjen auch die Sehnsucht nach Mutter Hentjen sterben könne. Aber dies war seine Privatangelegenheit, und das Geschick Bertrands davon abhängig zu machen, erschien ihm nicht weniger unwürdig, als wenn er von ihm Geld erpreßt hätte, und es vertrug sich auch nicht mit der Reinheit des Morgens. Darum sagt er: Es ist kein anderer Ausweg, – ich muß Sie anzeigen.“Und Bertrand antwortete: Jeder muß seinen Traum erfüllen, böse und heilig zugleich. Sonst wird er der Freiheit nicht teilhaftig.“Esch verstand ihn nicht völlig, und um sich zu vergewissern, sagte er: Ich muß Sie anzeigen. Es wird sonst immer ärger.“Ja, Lieber, es wird sonst immer ärger, und wir wollen es zu verhüten trachten. Ich habe ja von uns beiden den leichteren Teil; ich brauche bloß wegzugehen. Der Fremde leidet nie, er ist losgelöst, – es leidet bloß der, der verstrickt bleibt.“Esch glaubte wieder den ironischen Zug um Bertrands Mund zu sehen: in solch kalte Fremdheit also Verderbens voll verstrickt, mußte Harry Köhler leidvoll zugrunde gehen, und dennoch konnte Esch dem Unheilbringenden nicht böse sein. Am liebsten hätte er selber es mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und beinahe war es wie eine Ergänzung zu Bertrands Worten, da er sagte: Wenn nicht Sühne wäre, gäbe es kein Gestern, kein Heute und kein Morgen.“Oh, Esch, du machst mir das Herz schwer. Du hoffst zu viel. Niemals noch ist die Zeit nach dem Tode gerechnet worden: immer stand die Geburt an ihrem Beginn.“Auch Esch hatte ein schweres Herz. Er wartete, daß jener den Befehl erteilen werde, die schwarze Fahne auf der Zinne zu hissen, und er dachte: er muß Platz machen für den, nach dem die Zeit gezählt werden wird. Aber Bertrand schien trotzdem darüber nicht traurig zu sein, denn er sagte leichthin, gleichsam als Nebenbemerkung: Viele müssen sterben, viele müssen geopfert werden, damit Platz für den erkennenden liebenden Erlöser geschaffen werde. Und erst sein Opfertod erlöst die Welt zum Stand der neuen Unschuld. Vorher aber muß der Antichrist kommen, – der Wahnsinnige, der Traumlose. Erst muß die Welt luftleer werden, ausgeleert wie unter einem Vakuumrezipienten, … das Nichts.“Das war einleuchtend wie alles, was Bertrand sagte, so einleuchtend und vertraut, daß das Wagnis, seine ironische Miene nachzuahmen, fast zur Verpflichtung, fast zum Einverständnis werden wollte: Ja, es muß Ordnung gemacht werden, damit man von vorne anfangen kann.“Allein, da er es aussprach, schämte er sich schon, schämte sich der sarkastischen Miene und des Tonfalls; er fürchtete, daß Bertrand ihn neuerdings auslachen werde, denn er fühlte sich nackt vor ihm stehen, und er war dankbar, weil jener ihn bloß leise zurechtwies: Mord und Gegenmord ist diese Ordnung, Esch, – die Ordnung der Maschine.“Esch dachte: behielte er mich hier, so wäre Ordnung; man würde alles vergessen und hell würden die Tage in Ruhe und Klarheit dahinfließen; doch er verstößt mich. Und er mußte ja gehen, wenn Ilona hier sein würde. Darum sagte er: Martin hat sich geopfert und keinen hat er erlöst.“ Bertrands Hand machte eine kleine, etwas verächtliche, hoffnungslose Bewegung.Keiner sieht den andern im Dunkeln, Esch, und die fließende Helligkeit ist nur ein Traum. Du weißt, daß ich dich nicht bei mir behalten kann, so sehr du die Einsamkeit fürchtest. Wir sind ein verlorenes Geschlecht, auch ich kann bloß meinen Geschäften nachgehen.“Es verstand sich, daß Esch darüber sehr vergrämt war und er sagte: Ans Kreuz geschlagen.“Nun lächelte Bertrand wieder, und weil er sich von ihm verstoßen fühlte, hätte Esch ihm fast den Tod gewünscht, wenn dies Lächeln nicht so freundlich gewesen wäre, freundlich und lautlos wie die Rede, die alles erriet: Ja, Esch, – ans Kreuz geschlagen. Und in letzter Einsamkeit von der Lanze durchbohrt und mit Essig gelabt. Und dann erst mag jene Finsternis hereinbrechen, in welche die Welt zerfallen muß, damit es wieder licht und unschuldig werde, jene Finsternis, in der keines Menschen Weg den Weg des andern findet, – und gehen wir auch nebeneinander, wir hören uns nicht und vergessen einander, so wie auch du, mein lieber letzter Freund, vergessen wirst, was ich dir sagte, vergessen wie einen Traum.“Er drückte auf einen Taster und gab Befehle. Dann gingen sie in den schönen Garten, der hinter dem Hause sich weithin ins Unermeßliche erstreckte, und Bertrand zeigte ihm die Blumen und seine Pferde. Zwischen den Blumen flatterten lautlos dunkle Schmetterlinge und die Pferde wieherten nicht. Bertrand hatte einen leichten Schritt, da er durch sein Besitztum ging, und doch war es Esch oft, als müßte der Leichte auf Krücken gehen, denn eine Sonnenfinsternis stand am Himmel. Dann saßen sie zusammen bei Tische; Silber und Wein und Früchte schmückten die Tafel, und sie waren wie zwei Freunde, die alles voneinander wissen. Als sie das Mahl eingenommen hatten, wußte Esch, daß die Zeit zum Abschied nahe war, denn der Abend konnte unverhofft anbrechen. Bertrand begleitete ihn bis zu den Stufen, die zum Garten führten, und dort wartete bereits das große rote Automobil mit den roten glatten Lederkissen, die von der Mittagssonne noch heiß waren. Und da ihre Finger zum Abschied sich nun berührten, spürte Esch das starke Verlangen, sich über Bertrands Hand zu beugen und sie zu küssen. Aber der Führer des Automobils ließ die Hupe heftig erschallen, so daß der Gast eilends das Gefährt besteigen mußte. Kaum war es in Bewegung, als sich ein so heftiger, wenn auch lauer Wind erhob, daß Haus und Garten wie weggeweht waren, und dieser Wind legte sich erst in Müllheim, wo ein erleuchteter Zug schnaubend des Reisenden harrte. Es war die erste Fahrt Eschs in einem Automobil und sie war sehr schön.
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Groß ist die Angst dessen, der erwacht. Er kehrt mit geringerer Berechtigung zurück und er fürchtet die Stärke seines Traumes, der vielleicht nicht zur Tat, wohl aber zu neuem Wissen geworden ist. Ein Ausgestoßener des Traumes, wandelt er im Traume. Und es nützt ihm nicht einmal, daß er eine Ansichtskarte in der Tasche trägt, die er betrachten kann; vor dem Gericht bleibt er ein falscher Zeuge.
Oft hat der Mensch nicht acht darauf, daß seine Sehnsucht im Laufe weniger Stunden ihr Antlitz geändert hat. Vielleicht sind es bloß gewisse feine Unterscheidungen, bloße Beleuchtungsnuancen, die der Durchschnittsreisende achtlos übersieht, indes die Sehnsucht nach der Heimat sich ihm unversehens in die Sehnsucht nach dem gelobten Lande verwandelt hat, und wenn auch sein Herz von dunkler Bangigkeit voll ist, bangend um die Nacht ruhender wartender Heimat, so sind seine Augen doch schon erfüllt von einer noch unsichtbaren Helligkeit, die von irgendwoher gekommen ist, unsichtbar noch, obgleich man ahnt, daß es die Helligkeit jenseits der Ozeane ist, wo die dunklen Nebel sich lichten: heben sich aber die Nebel, so werden die gebreiteten hellen Reihen der Felder dort sichtbar und die sanftgeböschten grünen Wiesen, ein Land, in das ein so ewiger Morgen eingebettet ist, daß der Bangende der Frauen zu vergessen beginnt. Das Land ist menschenleer und die wenigen Kolonisten sind Fremdlinge. Sie halten keinerlei Gemeinschaft untereinander, einsam ein jeder leben sie auf ihren Schlössern. Sie gehen ihrem Geschäfte nach und beackern die Felder, säen und jäten. Der Arm der Gerechtigkeit vermag ihnen nichts anzuhaben, denn sie brauchen weder Recht noch Gesetz. Mit ihren Automobilen fahren sie über die Steppe und über das jungfräuliche Land, das von Straßen noch nie durchzogen worden ist, und ihre einzige Führerin ist ihre unerfüllbare Sehnsucht. Auch wenn sich die Kolonisten ansässig gemacht haben, fühlen sie sich als Fremde; ihre Sehnsucht ist Fernweh, gilt einer Ferne von immer größerer, niemals erreichbarer Helligkeit. Und das ist eigentlich verwunderlich, denn es sind ja westliche Menschen, d. h. solche, deren Blick gegen den Abend gewendet ist, als ob dort nicht die Nacht stünde, sondern die Pforte des Lichtes. Ob sie diese Helligkeit so sehr suchen, weil sie scharf und bestimmt denken, oder nur weil sie sich im Dunklen fürchten, bleibe unentschieden. Man weiß bloß, daß sie sich immer dort ansiedeln, wo wenig Wald steht, oder daß sie ihn ausroden für einen lichten Park; denn lieben sie auch die Kühle des Dickichts, sie sagen dennoch, daß sie die Kinder vor seiner unheimlichen Finsternis bewahren müßten. Dies mag nun richtig sein oder nicht, es zeigt immerhin, daß die Kolonisten nicht von jener bärbeißigen Art sind, mit der man Kolonisten oder Pioniere sich ausgestattet denkt, vielmehr daß ihre Art an das Gehaben von Frauen erinnert, und ihre Sehnsucht an die Sehnsucht der Frauen, Sehnsucht, die scheinbar dem geliebten Manne, in Wahrheit aber dem gelobten Lande gilt, in das er sie aus ihrer Dunkelheit geleiten soll. Doch muß man mit solchen Äußerungen vorsichtig sein; rasch nämlich sind die Kolonisten gekränkt und sie ziehen sich dann noch verschlossener in ihre Einsamkeit zurück. In den Steppen aber, in dem hügelreichen Grasland, das von kühlenden Flüssen geädert ist, und das sie bevorzugen, sind sie heiter, obwohl sie zu schamhaft sind, um zu singen. Dieses ist das dem Schmerze abgekehrte Leben der Kolonisten und sie suchen es jenseits des Ozeans. Sie sterben leicht und jugendlich, auch wenn ihr Haar schon ergraut ist, denn ihre Sehnsucht ist ein immerwährendes Abschiednehmen. Sie sind hochmütig wie Moses, da er das gelobte Land schaute, er allein in der göttlichen Sehnsucht und er allein ausgeschlossen. Und oftmals wird man an ihnen die gleiche ein wenig hoffnungslose und etwas verächtliche Bewegung der Hand bemerken wie an Moses auf dem Berge. Denn unwiederbringlich liegt die Heimat des Volkes hinter ihnen, uneinbringlich die Ferne vor ihnen, und der Mensch, dessen Sehnsucht sich gewandelt hat, ohne daß er davon wußte, fühlt sich manchmal wie einer, der seine Schmerzen bloß betäubt hat und doch niemals ihrer völlig vergessen kann. Vergebliches Hoffen. Denn wer vermag das Vordringen im beseligten Gefilde vom Verirren des Verwaisten zu unterscheiden. Mag auch der Schmerz um das Unwiederbringliche immer geringer werden, je weiter einer ins gelobte Land vordringt, mag auch manches sich in der zunehmenden Helligkeit auflösen und in ihr verfallen, es wird wohl auch der Schmerz immer gelöster, immer heller, vielleicht sogar unsichtbarer, aber er verschwindet so wenig wie die Sehnsucht des Mannes, in dessen Schlafwandeln die Welt vergeht, zerfallend in dem Erinnern an die Nacht seines Weibes, sehnsüchtig und mütterlich, und schließlich nur mehr ein schmerzlicher Hauch des Einstigen. Vergebliches Hoffen, oftmals grundloser Hochmut. Verlorenes Geschlecht. So haben viele der Kolonisten, selbst wenn sie heiter und gelassen scheinen, ein schlechtes Gewissen und sie sind zur Sühne bereiter als manche andere Menschen, die doch sündiger sind als sie. Ja, es ist nicht unglaubhaft, daß es sogar solche gibt, welche die Klarheit und Ruhe, in die sie sich begeben haben, nicht mehr ertragen, und ob man gleich meinen könnte, es sei ihr unstillbares Fernweh so groß geworden, daß es notwendig wieder zum Gegenteil und vielleicht zum Ursprung zurückschlagen mußte, so ist es eben darum nicht weniger glaubhaft, daß man Kolonisten gesehen haben soll, die mit den Händen vor dem Gesicht geschluchzt haben, als ob sie an Heimweh litten.So versank Esch, je mehr er sich im grauenden nebeligen Morgen der Stadt Mannheim näherte, in immer schmerzlichere Bangigkeit und fast wußte er nicht, ob ihn der Zug nicht geradewegs in die Wirtschaft nach Köln trüge, oder ob nicht Mutter Hentjen, ein Kind von ihm zu empfangen, seiner in Mannheim harren würde. Er war enttäuscht, da er bloß den Brief vorfand, auf den er ohnehin gerechnet hatte, und am liebsten hätte er ihn gar nicht gelesen. Noch dazu wo man's dem Saubrief anmerkte, daß er unter dem Bilde des Herrn Hentjen geschrieben worden war. Vielleicht deshalb, vielleicht aber auch aus Bangigkeit zitterte Eschs Hand, als er trotzdem nach dem Briefe griff.
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Er hatte Erna kaum beachtet, hatte auch ihre gekränkte Miene übersehen und war sofort in die Stadt gegangen, denn er wußte, daß er beim Polizeipräsidium irgendeine Anzeige zu erstatten habe. Sonderbarerweise aber war er zuerst zu Lohberg geraten, hatte ihn begrüßt, und jetzt überlegte er, ob er wiederum zum Hafen sollte. Indes auch dazu hatte er keine Lust und am liebsten wäre er ins Gefängnis hinausgefahren, obwohl ihm doch bekannt war, daß man erst nachmittags vorgelassen wurde. Von fernher meldete sich Einsamkeit, und schließlich stand er vor dem Schillerdenkmal und wäre zufrieden gewesen, wenn er daneben den Eiffelturm und die Freiheitsstatue gefunden hätte. Vielleicht war es bloß der Unterschied der Dimension; das Denkmal in Lebensgröße sagte ihm nichts, und nun war er nicht einmal mehr imstande, sich das Lokal Mutter Hentjens vorzustellen. So vertrödelte er den Morgen und kämpfte mit seinem Gedächtnis; ja er wollte eine Anzeige bei der Polizei anbringen, jedoch er vermochte nicht, den Inhalt dieser Anzeige zu formulieren. Mit einem Gefühl großer Erleichterung gab er den Plan endlich auf, als er zu der Einsicht kam, daß die Mannheimer Polizei, die Martin eingekerkert hatte, nicht würdig sei, die Anzeige zu empfangen, während er den Kölnern sowieso den Ersatzmann für Nentwig noch immer schuldig war. Er ärgerte sich: das hätte er sich auch schon früher einfallen lassen können, aber jetzt war es in Ordnung, und in Gesellschaft Lohbergs speiste er mit gutem Appetit zu Mittag.Dann fuhr er zur Strafanstalt. Wieder war der Tag glühend heiß, wieder saß man in dem Sprechzimmer, – hatte man's je verlassen gehabt? alles war gleichgeblieben und nichts lag dazwischen: wieder trat Martin mit dem Gefängniswärter herein, wieder verspürte Esch die quälende Leere in seinem Kopf, wieder wurde es unerklärlich, warum er in diesem Amtsraume saß, unerklärlich, obwohl es doch zu einem bestimmten und lange vorbedachten Zwecke geschah. Zum Glück fühlte er in der Tasche die Zigaretten, die er Martin diesmal ganz gewiß zustecken würde, so daß der Besuch wenigstens die alte Schuld aufholte. Aber das war ein Vorwand, ja ein Vorwand, dachte Esch und dann: was man nicht im Kopfe hat, hat man in den Füßen. Alles war ärgerlich, und als sie wieder zu dritt um den Tisch herum saßen, war es die ironische Freundlichkeit Martins, die ihn heute besonders ärgerte, – sie mahnte ihn an etwas, das er nicht wahr haben wollte.Also von der Kur zurück, August? Siehst auch prächtig aus. Hast alle deine Bekannten getroffen?“Esch log nicht, als er sagte: Ich habe niemanden getroffen.“Oho, warst du also gar nicht in Badenweiler?“Esch konnte nicht antworten.Esch, hast du Dummheiten gemacht?“Esch schwieg noch immer und Martin wurde ernst: Wenn du irgend etwas angestellt hast, sind wir miteinander fertig.“Esch sagte: Es ist alles fremdartig. Was sollte ich anstellen?“Darauf Martin: Hast du ein gutes Gewissen? etwas ist nicht in Ordnung!“Ich habe ein gutes Gewissen.“Martin sah ihn noch immer prüfend an und Esch mußte sich an den Tag erinnern, da ihm Martin auf der Straße gefolgt war, als wollte er ihn von rückwärts mit der Krücke stoßen. Doch Martin war schon wieder freundlich und fragte: Und was machst du dann noch immer in Mannheim?“Lohberg soll die Erna heiraten.“So, der Lohberg … ich weiß schon, der Zigarrenhändler. Und deshalb bleibst du hier?“ Martins Blick wurde neuerdings mißtrauisch.Ich reise ja ohnedies heute … spätestens morgen.“ Und was geschieht dann mit dir?“Esch wünschte sich möglichst weit fort. Er sagte: Ich will nach Amerika.“Martin lächelte mit seinem alten Kindergesicht: Ja, ja, das willst du schon lange … oder hast du jetzt einen besonderen Grund, der dich wegtreibt?“Nein, er glaube bloß, jetzt gute Aussichten drüben zu haben.Na Esch, ich hoffe ja, daß ich dich vorher noch sehe. Besser gute Aussichten drüben, als daß dich etwas von hier wegtreibt … aber, wenn es anders sein sollte, siehst du mich nimmer, Esch!“ Das klang fast drohend, und in den heißen ungelüfteten Raum senkte sich wieder das Schweigen über die drei Männer an dem tintenbespritzten Tisch. Esch stand auf und sagte, daß er eilen müsse, wenn er den Zug heute noch erreichen wolle, und da Martin ihn zum Abschied wiederum fragend und mißtrauisch anschaute, schob er ihm die Zigaretten in die Hand, während der uniformierte Wärter so tat, als sähe er es nicht, oder auch wirklich nichts gesehen hatte. Dann ließ Martin sich abführen.Auf dem Heimweg zur Stadt klang Esch die Drohung Martins in den Ohren und vielleicht hatte sich die Drohung bereits verwirklicht, denn plötzlich konnte er sich Martin nicht mehr vorstellen, weder sein Hinken, noch sein Lächeln, noch daß der Krüppel je wieder in die Wirtsstube eintreten würde. Er war fremd geworden. Esch marschierte mit langen ungelenken Schritten, als müßte er die Entfernung zwischen sich und dem Gefängnis, als müßte er die Entfernung zwischen sich und allem, was hinter ihm lag, möglichst rasch vergrößern. Nein, der wird ihm nicht mehr nachlaufen, ihn von rückwärts mit der Krücke zu stoßen; weder kann einer dem andern nachlaufen, noch kann er ihn wegschicken, ein jeder dazu verdammt, seinen eigenen einsamen Weg zu gehen, entfremdet aller Gemeinschaft: es galt sich loszulösen aus der Verstrickung des Vergangenen, auf daß man nicht leide. Man mußte bloß rasch genug marschieren. Martins Drohung war merkwürdig wesenlos geworden, war wie ein bescheidener irdischer Abklatsch eines höheren Sachverhaltes, an dem man schon längst teilhatte. Und wenn man Martin zurückließ, wenn man ihn sozusagen opferte, so war auch dies wie eine irdische Wiederholung einer höheren Opferung, notwendig auch sie, um das Vergangene endgültig zu vernichten. Zwar waren die Straßen Mannheims noch wohlvertraut, aber es ging in die Fremde und in die Freiheit; man ging wie auf höherer Stufe, und wenn man morgen in Köln eintreffen wird, so wird man der Stadt und ihrem Bilde nicht mehr unterworfen sein, man wird sie fügsam und demütig finden, fügsam sich zu verändern. Esch machte eine wegwerfende Bewegung mit seinen schlenkernden Händen, und eine ironische Grimasse gelang ihm desgleichen.Er war so sehr in Gedanken, daß er Korns Wohnungstür übersah; erst vor dem Dachbodeneingang merkte er, daß er ein Stockwerk wieder hinunterzusteigen hatte. Und er erschrak, als Fräulein Erna öffnete. Er hatte sie vergessen gehabt, und da schaute sie nun aus dem Türspalt, zeigte ihr gelbliches Lächeln und forderte ihr Teil. Es war der Teufel der Vergangenheit selber, der das Tor der Sehnsucht verstellte, Fratze des Irdischen, unbesiegbarer und höhnischer denn je, fordernd, daß man stets aufs neue hinabsteige in die Verstrickung des Gewesenen. Und da half kein gutes Gewissen, da half es nichts, daß es ihm jederzeit freistand nach Köln und nach Amerika weiterzureisen, einen Herzschlag lang war es, als hätte Martin ihn nun dennoch eingeholt, als wäre es Martins Rache, die ihn hinab und zu Fräulein Erna stieß. Fräulein Erna aber schien zu wissen, daß es kein Entrinnen für ihn gab, denn gleich Martin lächelte sie vielwissend und wie in geheimer Kenntnis einer noch dunklen irdischen Bindung, die unentrinnbar und drohend und doch von äußerster Wichtigkeit war. Er sah Fräulein Erna prüfend ins Antlitz, es war das eines welken Antichrist und gab keine Antwort. Wann kommt Lohberg?“ Esch fragte es unvermittelt und wie in vager Hoffnung, hier eine Lösung zu finden; und als Fräulein Erna listig bedeutete, daß sie den Bräutigam absichtlich nicht verständigt habe, war's wohl eine erregende Bevorzugung und war trotzdem empörend. Ohne ihr böses Gesicht zu beachten, lief er aus dem Haus, um Lohberg für den Abend einzuladen.Und es war in der Tat beruhigend, den Idioten anzutreffen, so beruhigend, daß Esch ihn sogleich mit sich nahm und nicht nur allerlei Lebensmittel, sondern überdies noch zwei Blumensträuße einhandelte, von denen er einen Lohberg in die Hand steckte. Kein Wunder, daß bei ihrem Anblick Fräulein Erna die Hände zusammenschlug und Das nenne ich zwei Kavaliere!“ ausrief. Esch erwiderte stolz: Ein Abschiedsfest“, und während sie den Tisch rüstete, saß er mit seinem Freunde Lohberg auf dem Kanapee und sang Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus“, was ihm von sehen Fräulein Ernas mißbilligende und traurige Blicke eintrug. Ja, es war vielleicht wirklich ein Abschiedsfest, ein Fest der Loslösung aus dieser irdischen Gemeinschaft, und am liebsten hätte er Erna verboten, das Gedeck für Ilona aufzulegen. Denn auch Ilona sollte losgelöst und schon am Ziele sein. Und dieser Wunsch war so stark, daß Esch allen Ernstes hoffte, Ilona würde nun fernbleiben, für ewig fernbleiben. Und nebenbei freute er sich ein wenig auf Korns Enttäuschung.Nun, Korn zeigte sich wirklich enttäuscht; allerdings äußerte sich seine Enttäuschung in unflätigem Geschimpfe über das ungarische Weibsbild, sowie in starker Ungeduld nach sofortiger Fütterung. Dabei bewegte er seine breite Masse mit seltsamer Hurtigkeit durch das Zimmer; er wandte sich zur Likörflasche, wandte sich zum Tisch, von dem er sich mit dickem Finger Wurstschnitten holte, und weil Erna ihm dies untersagte, wandte er sich gegen Lohberg und scheuchte ihn mit erhobenen Fäusten vom Kanapee, das er als angestammten Platz für sich beanspruchte. Der Lärm, den der Mann Korn hiebei verursachte, war außerordentlich groß, sein Leib und seine Stimme erfüllten den Raum immer mehr und mehr, erfüllten ihn bis zum Rande, ja all das Irdische und Fleischliche von Korns heißhungrigem Gehaben, es quoll über das Zimmer hinaus, drohte die ganze Welt übermächtig zu erfüllen, aufquoll das Vergangene und Unabänderliche, alles andere verdrängend, die Hoffnung erstickend; finster wird die erhöhte und lichtere Bühne, und vielleicht existierte sie überhaupt nicht. Na, Lohberg, wo bleibt jetzt Ihr Reich der Erlösung?“ schrie Esch, als könnte er damit sein Grausen übertäuben, schrie es aus Wut, weil weder Lohberg noch sonst jemand Antwort zu geben vermochte: warum mußte Ilona herabsteigen in die Berührung des Irdischen und Toten? Korn aber saß da mit breitem Hintern und kommandierte wild: Essen auftragen!“ – Nein“, schrie Esch zurück, erst bis Ilona hier ist!“ Denn fürchtete er sich auch beinahe, Ilona wiederzusehen, es war jetzt alles in Frage gestellt, und plötzlich war Esch voller Ungeduld, daß Ilona käme, – gewissermaßen als Prüfstein der Wahrheit.Ilona trat ein. Sie beachtete kaum die Anwesenden, folgte bloß dem Wink des schweigsam kauenden Korn, setzte sich zu ihm aufs Kanapee, und ebenso schweigsamem Befehl gehorchend, legte sie den weichen Arm lässig um seine Schulter. Doch im übrigen sah sie bloß die guten Dinge, die sie zu essen bekommen würde. Erna, die alles beobachtete, sagte: Ich, wann ich du wär', Ilona, ich tät' schon die Hand wegnehmen vom Balthasar, beim Essen.“ Freilich war's ins Leere geredet, denn Ilona begriff offenbar noch immer nichts von der deutschen Sprache, durfte wohl auch nie etwas davon begreifen, sowenig sie von den Opfern wissen durfte, die für sie gebracht worden waren. Keiner Sprache mächtig, war sie kaum Gast mehr zu nennen am Tische der Fleischgebundenen, eher ein Besuch im Gefängnis des Irdischen oder eine freiwillig Gefangene. Und Erna, die heute manches zu wissen schien, erwähnte nichts weiter von irdischen Dingen, und es war wie Zeugnis einer entrückteren Verständigung, daß sie den Blumenstrauß vom Tische nahm und ihn Ilona unter die Nase hielt: Da riech' mal, Ilona“, sagte sie, und Ilona sagte: Ja, danke schön“, und es klang wie aus einer Ferne, an die der kauende Korn niemals reichen wird, klang wie von höherer Stufe, bereit sie aufzunehmen, ließ man nur nicht nach im Opfer. Esch war leicht zumute. Jeder muß seinen Traum erfüllen, böse und heilig zugleich, dann wird er der Freiheit teilhaftig. Und so schade es war, daß der Tugendbold die Erna bekommen sollte, und sowenig Ilona je ahnen würde, daß nun eines Kontos Abschlußstrich gezogen wurde, es war Abschluß und Wendung, war Zeugenschaft und neues Wissen, da Esch sich erhob, der Runde zutrank, und mit kurzer herzlicher Gratulation das Brautpaar hochleben ließ, so daß alle, mit Ausnahme Ilonas, für die es eigentlich geschehen war, sehr überrascht taten. Aber da es auch in ihrer aller Wünschen gelegen hatte, waren sie nun dankbar, und Lohberg schüttelte ihm mit feuchten Augen viele Male die Hände. Dann gab sich das Brautpaar über sein Geheiß den Verlobungskuß.Nichtsdestoweniger erschien ihm das Geschehene noch nicht endgültig, und als es zum Aufbruch ging und Korn sich schon mit Ilona zurückgezogen hatte, und Fräulein Erna den Hut schon annadeln wollte, um gemeinsam mit Esch ihren neuen Verlobten nach Hause zu begleiten, da weigerte sich Esch: nein, er halte es nicht für anständig, daß er, ein Junggeselle, im Hause von Lohbergs Braut übernachte, er sei gerne bereit, für heute bei Herrn Lohberg Domizil zu nehmen oder mit ihm zu tauschen, im übrigen sollten sie es sich noch überlegen, denn als neues Brautpaar würden sie sich ja noch allerhand zu sagen haben: und damit schob er die beiden in Ernas Zimmer und begab sich in sein eigenes.Solcherart endete der Tag seiner ersten Loslösung und die erste Nacht des ungewohnten, unangenehmen Verzichtes brach für ihn an.
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Der Schlaflose
Der Schlaflose, der mit angefeuchteter weicher Fingerspitze die stille Kerze neben seinem Bett verlöscht hat und in dem nun kühler gewordenen Raume auf die Kühle des Schlafes wartet, lebt mit jedem Herzschlag zum Tode hin, denn so sonderbar der Raum kühl sich um ihn geweitet hat, so atemlos heiß und eilend ist die Zeit in seinem Kopfe, so atemlos, daß Anfang und Ende, Ursprung und Tod, Gestern und Morgen zusammenfallen in dem einzigen und einsamen Jetzt, es ausfüllen bis zum Rande, ja fast es sprengen.Esch hatte einen Augenblick lang überlegt, ob Lohberg ihn nicht doch zum Heimweg abholen würde. Aber mit einer ironischen Grimasse entschied er, daß man zu Bette gehen dürfe, und immer noch grinsend begann er sich zu entkleiden. Beim Schein der Kerze überlas er den Brief Mutter Hentjens; die vielen Mitteilungen über die Wirtschaft waren langweilig; hingegen gab es eine Stelle, die ihn freute: Und vergesse nicht, lieber August, daß du meine einzige Liebe auf der Welt warst und sein wirst und daß ich es sonst nicht überleben kann, und dich, lieber August, mitnehmen muß in das kühle Grab.“ Ja, das freute ihn, und nun war er auch Mutter Hentjens halber zufrieden, daß er Lohberg zu Erna geschickt hatte. Dann benetzte er seine Fingerspitze, löschte die Kerze und streckte sich lang aus.Eine schlaflose Nacht beginnt mit banalen Gedanken, etwa wie ein Jongleur erst banale und leichte Kunststücke zeigt, ehe er zu schwierigeren und atemraubenderen vorschreitet. Noch im Dunkeln mußte Esch grinsen, weil Lohberg zu der, kichernden Erna unter die Decke schlüpfen wird, und er war froh, daß er auf den Tugendbold so gar nicht eifersüchtig zu sein brauchte. Freilich, die Lust auf Erna war einem jetzt gründlich vergangen, aber das war nur gut und in Ordnung. Und eigentlich denkt er an die Dinge dort drüben bloß um zu erproben, wie gleichgültig sie ihn lassen, gleichgültig, daß Erna mit ihren Händen den dürftigen Körper des Idioten entlangschmeichelt und daß sie so eine Mißgeburt bei sich duldet, und daß es überhaupt so vollkommen gleichgültig war, welche Eindrücke und welche Phallusbilder – er verwendete ein anderes Wort – sie in ihrem Geiste herumtrug. So leicht war es, sich dies alles vorzustellen, daß es wie ohne Gewicht schien, und überdies war man bei dem keuschen Josef nicht einmal sicher, ob die Dinge wirklich in dieser Weise vor sich gingen. Leicht wäre das Leben, wenn ihn dies alles bei Mutter Hentjen ebenso gleichgültig ließe, – allein schon die Berührung mit dem Gedanken war so schmerzlich, daß er aufzuckte, nicht viel anders als Mutter Hentjen in gewissen Momenten. Und gerne wäre er mit seinen Gedanken zu Erna zurückgeflüchtet, hätte nicht etwas den Weg verstellt, ein Unsichtbares, von dem er bloß weiß, daß es das Drohende, Unentrinnbare vom Nachmittag ist. Da will er noch lieber an Ilona denken, bei der es, damit Ordnung werde, lediglich darauf ankommt, die Erinnerung an die sausenden Messer aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Gleichsam als Vorübung zu schwierigeren Aufgaben will er daran denken, aber es gelingt nicht. Doch wie er endlich mit Zorn und Widerwillen sich vor Augen führt, daß sie jetzt lässig und weich den Korn, dieses tote Stück Vieh, erduldet, unachtsam ihrer selbst, so wie sie lächelnd zwischen den Messern gestanden hat, wartend, daß eines sie ins Herz träfe, – oh, da erblickt er plötzlich auch schon die Lösung der Aufgabe: Selbstmord ist es, den sie auf sonderlich komplizierte und weibliche Art begeht, Selbstmord, der sie hinabzieht in die Berührung des Irdischen. Davor also muß sie errettet werden! Lösung der Aufgabe, dennoch neue Aufgabe! Wahrlich, versperrte das Drohende nicht den Weg, man würde Ilona einfach beiseite lassen, würde zu Erna hinübergehen, den Lohberg beim Kragen nehmen und ihn kurzerhand an die Luft befördern. Daraufhin könnte man ruhig und traumlos schlafen.Doch da er eben daran ist, sich auszumalen, wie friedlich die Welt dann wäre, und schlichtestes Begehren nach einem Weibe sich bereits wieder eingefunden hat, wird der Schlaflose von einem Gedanken ergriffen, der gleichzeitig ein wenig komisch und ein wenig furchtbar ist: er durfte ja nicht zu Erna zurückkehren, denn nun wäre ja nicht mehr zu entscheiden, wer der Vater des Kindes sein wird. Das also war die unerklärliche, tiefere irdische Bindung, das also war das Drohende, das ihn heute vor Erna hatte zurückschrecken lassen! Die Rechnung mochte schon stimmen; denn einer war gegangen, um Platz zu machen für den, nach dem die Zeit gezählt werden soll, und es wird schon auch stimmen, daß eines Erlösers Vater ein keuscher Josef sein muß. Der Schlaflose versucht wieder, seine ironische Grimasse zu ziehen, aber es gelingt ihm nicht mehr; seine Lider sind zu fest geschlossen und niemand vermag im Dunkeln zu lachen. Denn die Nacht ist die Zeit der Freiheit, und Lachen ist die Rache des Unfreien. Oh, es war gerecht, daß er hier schlaflos und überwach lag, in einer kalten und fremdartigen Erregung, die nicht Lust mehr war, ein Scheintoter in seiner Gruft, da jener traumlos und starr in der seinen ruhte. Jedoch wie konnte man annehmen, daß jener deshalb geopfert ward, damit aus dem kümmerlichen irdischen Gefäß, das Fräulein Erna hieß, das neue Leben sprieße. Der Schlaflose flucht, wie Schlaflose dies manchmal zu tun pflegen, aber indem er flucht, fällt ihm ein, daß es trotzdem nicht stimmte, soferne die magische Stunde des Todes die Stunde der Zeugung zu sein hatte. Man kann nicht zu gleicher Zeit in Badenweiler und in Mannheim sein; es war also ein voreilig gezogener Schluß, und es ist wohl alles komplizierter und würdiger.Das Zimmer war kühl in seiner Dunkelheit. Esch, ein Mensch impetuoser Haltungen, lag regungslos in seinem Bette, sein Herz hämmerte die Zeit zu einem dünnen Nichts zusammen, und kein Grund war einzusehen, warum man den Tod in eine Zukunft verlegen sollte, die ohnehin schon Gegenwart ist. Dem Wachenden mag solches unlogisch erscheinen, aber er vergißt, daß er selber zumeist in einer Art Dämmerzustand sich befindet und daß bloß der Schlaflose in seiner Überwachheit wahrhaft logisch denkt. Der Schlaflose hält die Augen geschlossen, als wolle er die kühle Grabesfinsternis, in der er liegt, nicht sehen, dennoch fürchtend, daß die Schlaflosigkeit in ganz gewöhnliches Wachsein umschlagen könnte angesichts der Gardinen, die wie Weiberröcke vor dem Fenster hängen, und all der Gegenstände, die aus der Finsternis sich lösen würden, wenn er den Blick öffnete. Doch er will schlaflos sein und nicht wach, sonst könnte er nicht mit Mutter Hentjen hier abgeschieden von der Welt und geborgen im Grabe liegen, voll Begehren, das nicht Begierde mehr war: ja, beraubt des Begehrens war er, und auch das war gut. Im Tode vereint, denkt der Schlaflose, scheinbar Getötete, ja, im Tode vereint, und eigentlich wäre das beruhigend gewesen, hätte man nicht an Erna und Lohberg denken müssen, die jetzt auch irgendwie im Tode vereint waren. Aber wie! Nun, der Schlaflose hat keine Lust mehr zu zynischen Witzen, er will sozusagen den metaphysischen Gehalt der Ereignisse auf sich wirken lassen und will die außerordentlich große Entfernung richtig abschätzen, die sein Lager von den übrigen Räumen des Hauses trennt, will in aller Ernsthaftigkeit über die erreichbare Gemeinschaft nachdenken, über des Traumes Erfüllung, die zur Vollendung führen soll; und da er all dies nicht mehr versteht, wird er mürrisch und vergrämt, wird zornig, und er denkt nur mehr darüber nach, wie es möglich ist, daß aus Totem das Lebendige entstehen könne. Der Schlaflose streicht mit seiner Hand über das kurz geschorene Haar, ein kühles und prickelndes Gefühl bleibt im Handteller; es ist wie ein gefährliches Experiment, das er nicht wiederholen wird.Und wie er solcherart zu schwierigeren und würdigeren Übungen vorgeschritten ist, wächst sein Zorn, und vielleicht ist es der Zorn machtlosen, lustlosen Begehrens. Ilona begeht auf eine sonderlich komplizierte und weibliche Art Selbstmord, erduldet Nacht für Nacht ein Stück Tod, so daß ihr Gesicht jetzt schon aufgedunsen ist, als hätte Verwesung sie berührt. Und jede Nacht, die die unzüchtigen Bilder neu in sie einprägt, muß solche Aufgedunsenheit vergrößern. Darum also hatte er heute den Anblick Ilonas gefürchtet! das Wissen des Schlaflosen wird zum hellsichtigen Vortraum des Todes, und er erkennt, daß Mutter Hentjen schon tot ist, daß sie, die Tote, kein Kind von ihm haben durfte, daß sie darum, statt nach Mannheim zu kommen, bloß einen Brief hatte schreiben dürfen, geschrieben unter dem Bilde dessen, von dem sie sich hatte töten lassen, genau so wie sich Ilona jetzt von dem Vieh, dem Korn, töten läßt. Auch Mutter Hentjens Wangen sind aufgedunsen, die Zeit und das Sterben liegen in ihrem Gesicht, und die Liebe ihrer Nächte ist tot, ist tot wie der Musikautomat, der mechanisch abschnurrt, es braucht bloß einer hineinzugreifen. Und Esch wird zornig.Der Schlaflose weiß nicht, daß sein Bett an einer bestimmten Stelle steht, in einem Hause in bestimmter Straße, und er lehnt es ab, daran erinnert zu werden. Es ist bekannt, daß schlaflose Menschen zornigen Regungen leicht ausgesetzt sind; das Rollen einer einsamen Trambahn auf der nächtlichen Straße vermag sie zur Raserei zu bringen. Um wieviel stärker wird da wohl die Wut über einen Widerspruch sein, der so groß und furchtbar ist, daß er kaum mehr als Buchungsfehler bezeichnet werden darf. In größter Eile hetzt der Schlaflose seine Gedanken, um den Sinn der Frage zu finden, die von irgendwo, von fernher, vielleicht aus Amerika kommend, sich ihm aufgedrängt hat. Er spürt, daß es in seinem Kopfe eine Gegend gibt, die Amerika ist, eine Gegend, die nichts anderes ist, als der Platz der Zukunft in seinem Kopf, und die doch nicht existieren kann, solange die Vergangenheit so hemmungslos sich in die Zukunft stürzt, das Vernichtete in das Neue. In diesem Sturm des Hineinstürzens wird er selbst mitgerissen, doch nicht er allein, sondern sie alle um ihn herum werden mit ihm dahingeweht im Orkan des Eisigen, sie alle dem folgend, der sich als erster in den Sturm geworfen hat, weggefegt, auf daß die Zeit wieder Zeit werde. Nun war keine Zeit mehr, nur außerordentlich viel Raum: der Schlaflose, Überwache, hört ihrer aller Sterben, und wenn er die Lider auch noch so stark zusammenpreßt, um es nicht zu sehen, er weiß, daß der Tod immer Mord ist.Nun war das Wort wieder da, doch nicht einhergehuscht wie ein Schmetterling, sondern rasselnd wie ein Trambahnwagen in der nächtlichen Straße war das Wort Mörder da und schrie. Der Tote gibt den Tod weiter. Keiner darf überleben. Als wäre der Tod ein Kind, hat Mutter Hentjen ihn von dem toten Schneidermeister empfangen, und Ilona bekommt ihn von Korn. Vielleicht ist Korn ebenfalls ein Toter; er ist feist wie Mutter Hentjen und von der Erlösung weiß er nichts. Oder, wenn er noch nicht tot ist, wird er sterben – kleine beglückende Hoffnung –, wird sterben wie der Schneidermeister, nachdem er den Mord vollbracht hat. Mord und Gegenmord, Zug um Zug, stürzen Vergangenheit und Zukunft ineinander, stürzen hinein in den Augenblick des Todes, der die Gegenwart ist. Sehr scharf und sehr ernst will es durchdacht werden, denn nur zu bald schleicht sich wieder so ein Buchungsfehler ein. Wo es schon über alle Maßen schwierig ist, Opfer und Mord voneinander zu unterscheiden! Muß alles vernichtet werden, ehe die Welt zum Stande der Unschuld erlöst wird? Mußte die Sintflut hereinbrechen, genügte es nicht, daß einer sich opferte, einer Platz machte? Noch lebt der Schlaflose, obwohl er wie jeder Schlaflose scheintot ist, noch lebt Ilona, obwohl sie der Tod schon berührt hat, und bloß einer trägt das Opfer für das neue Leben und für die Ordnung einer Welt, in der nicht mehr mit Messern geschmissen werden darf. Das Opfer war nicht mehr ungeschehen zu machen. Und da alle abstrakten und allgemeingültigen Erkenntnisse im Zustand schlafloser Überwachheit gefunden werden, kam Esch zu dem Ergebnis: die Toten sind die Mörder der Frauen. Er aber war nicht tot und ihm oblag es, Ilona zu retten.Wieder taucht der Wunsch in ihm auf und die Ungeduld, den Tod von Mutter Hentjens Hand zu empfangen, der Zweifel, ob es nicht schon geschehen sei. Wenn er sich dem Tode unterwindet, der von den Toten kommt, versöhnt er die Toten und sie beruhigen sich bei dem einen Opfer. Das wäre nun wohl ein tröstlicher Gedanke! Und wie der Schlaflose heftiger vom Zorn übermannt werden kann als der Wachende in seinem Dämmerzustand, so empfindet er auch das Glück viel beseligter, man könnte fast sagen, in einer Art wilder Leichtigkeit. Ja, dieses leichte und erlöste Gefühl des Glückes kann so hell werden, daß die Dunkelheit unter seinen geschlossenen Lidern zu strahlen beginnt. Denn nun war kein Zweifel mehr, daß er, der Lebende, von dem die Frauen das Kind empfangen durften, daß er, sich hingebend an Mutter Hentjen und an ihren Tod, daß er durch diese außergewöhnliche Maßnahme nicht nur die Erlösung Ilonas vollendet, nicht nur auf ewig sie den Messern entrückt, nicht nur ihre Schönheit ihr wiedergewinnt und alles Sterben rückgängig macht, rückgängig bis zu neuer Jungfrauschaft, sondern daß er notwendig damit auch Mutter Hentjen vom Tode errettet, lebend wieder ihr Schoß, jenen zu gebären, der die Zeit aufrichten wird.Da ist es ihm nun, als käme er mit seinem Bett aus weitester Ferne angefahren, und als stünde es nun wieder an einer bestimmten Stelle in einem bestimmten Alkoven, und der Schlaflose, wiedergeboren in neuerwachtem Verlangen, weiß, daß er am Ziele ist, zwar noch nicht an jenem letzten, in dem Sinnbild und Urbild wieder zur Einheit werden, aber doch an jenem vorläufigen Ziel, mit dem der Irdische sich begnügen muß, Ziel, das er Liebe nennt und das wie ein letzterreichbarer fester Punkt der Küste vor dem Unerreichbaren steht. Und gleichsam im Widerspiel zu Sinnbild und Urbild sind die Frauen seltsam vereint und dennoch getrennt; wohl sitzt Mutter Hentjen in Köln und harret seiner, das weiß er, wohl ist Ilona ins Unerreichbare und Unsichtbare entrückt, und er weiß, daß er sie nimmer wiedersehen wird, – aber dort draußen an jener Küste, wo Sichtbares mit dem Unsichtbaren sich vereint, das Erreichbare mit dem Unerreichbaren, dort wandeln die beiden und die beiden Silhouetten verschwimmen ineinander und werden eins, und selbst wenn sie sich voneinander lösen, sie bleiben vereint in nie erfüllter Hoffnung; Mutter Hentjen in vollkommener Liebe zu umfangen, ihr Leben als das seine tragend, sie, die Tote, in seiner Umarmung erlösend zu erwecken, wird er, wenn er die Alternde liebend umarmt, die Last des Alterns und der Erinnerung von dem Körper Ilonas nehmen, wird Ilonas neuer jungfräulicher Schönheit die erhöhte Stufe seiner Sehnsucht errichtet haben; ja, so sehr waren die beiden Frauen voneinander geschieden und doch eins geworden, Spiegelbild des Einen, jenes Unsichtbaren, nach dem man sich nicht umwenden darf und der doch die Heimat ist.Der Schlaflose war am Ziel. Hatte er in seiner Überwachheit die Lösung auch schon vorausgewußt, so begreift er, daß er bloß einen logischen Faden um sie herum geführt hat und bloß darum schlaflos bleiben mußte, damit der Faden desto länger werde; nun aber erlaubt er sich, den letzten Knoten zu binden, und es ist wie eine verzwickte Buchungsaufgabe, die er endlich zur Lösung gebracht hat, und es ist sogar mehr als eine Buchungsaufgabe: die wahre Aufgabe der Liebe hatte er in ihrer vollkommenen Entscheidung auf sich genommen, da er sein irdisches Leben Mutter Hentjen unterwarf. Er hätte Ilona von diesem Ergebnis gern in Kenntnis gesetzt, aber wegen ihrer mangelhaften Beherrschung der deutschen Sprache mußte er es wohl unterlassen.Der Schlaflose öffnet die Augen, erkennt sein Zimmer, und dann schläft er zufrieden ein.
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Er hatte sich für Mutter Hentjen entschieden. Endgültig. Esch schaute nicht zum Coupéfenster hinaus. Und wie er seine Gedanken auf die vollkommene unbedingte Liebe richtet, ist's wie ein gewagtes Experiment: Freunde und Gäste würden in dem hellerleuchteten Lokale zechen; eintreten wollte er, und ungeachtet der vielen Augenzeugen würde Mutter Hentjen ihm entgegeneilen und an seine Brust sich werfen. Doch als er in Köln einlangte, da hatte sich das Bild sonderbar verschoben; denn das war nicht mehr eine Stadt, die er kannte, und der Weg durch die abendlichen Straßen dehnte sich meilenweit und fremd. Unbegreiflich, daß er bloß sechs Tage fortgewesen sein sollte. Es gab keine Zeit mehr, und unbestimmbar war das Haus, das sich ihm öffnete, unbestimmbar der Raum in undeutlicher Weite. Esch stand an der Tür, sah hinüber zu Mutter Hentjen. Sie thronte hinter der Theke. Über dem Spiegel brannte ein Licht in bunter Tulpe, Schweigen hing in der Luft, und kein Gast war in dem düstern Raum. Es geschah nichts. Warum war er hierher gekommen? Es geschah nichts; Mutter Hentjen blieb hinter der Theke und endlich sagte sie in gewohnt gleichmütiger Weise Guten Tag“. Dabei sah sie sich scheu im Lokal um. Zorn stieg in ihm auf, und mit einem Male begriff er nicht, warum er sich für diese Frau entschieden hatte. Also sagte er ebenfalls nur Guten Tag“, denn wenn er ihre stolze Kühle auch irgendwie bejahte, und auch wußte, daß es ihm nicht zukam, mit gleicher Münze zurückzuzahlen, so war er doch zornig: wer die Entscheidung zur unbedingten Liebe im Herzen trägt, der ist immerhin berechtigt, sich gleichzustellen, – er trumpfte auf: Danke dir für deinen Brief.“ Sie sah sich wütend indem leeren Lokal um: Wenn Sie jemand hörte?“ und Esch, völlig aufgebracht, sagte besonders vernehmlich: Und wenn schon … laß doch diese dumme Geheimnistuerei endlich sein!“ sagte es ohne Sinn und Zweck, denn das Lokal war leer und er selber wußte nicht, warum er hier saß. Mutter Hentjen schwieg entsetzt, machte sich an ihrer Frisur zu schaffen. Seitdem sie ihn an die Bahn begleitet hatte, war sie voller Reue, sich zu weit vorgewagt, zu sehr sich hingegeben zu haben, und gar seit jenem unbedachten Brief nach Mannheim war Mutter Hentjen in eine richtige Panik geraten; sie wäre Esch dankbar gewesen, wenn er den Brief nicht erwähnt hätte. Jetzt aber, wie er mit hölzern unerbittlichem Gesicht offenbar auf seinen Schein pochte, fühlte sie sich wieder mit eiserner Klammer gefaßt und wehrlos. Esch sagte: Ich kann ja auch gehen“, und nun wäre sie wirklich hinter ihrem Tische hervorgekommen, wären nicht gerade die ersten Gäste eingetreten. So blieben sie beide stehen und schwiegen eine Weile; dann flüsterte Mutter Hentjen und deutete mit einem verächtlichen Tonfall an, daß es lediglich geschah, um der Szene ein Ende zu bereiten: Du kommst heute nacht.“ Esch antwortete nichts, setzte sich mit einem Glas Wein an einen Tisch. Er fühlte sich verwaist. Seine gestrige Rechnung, die so eindeutig gewesen war, war ihm undurchsichtig geworden: warum sollte er sich Ilonas wegen für diese Frau entscheiden? er sah sich in dem Lokale um und fand es noch immer fremd; es ging ihn nichts mehr an, er war zu weit von alledem entfernt. Was hatte er überhaupt noch in Köln zu schaffen? er sollte ja schon längst in Amerika sein. Doch da traf sein Blick auf das Konterfei des Herrn Hentjen, das dort droben über den Insignien der Freiheit hing, und es war, als kehrte nun jählings sein Gedächtnis zurück; er ließ sich Tinte und Papier geben und schrieb mit seiner schönsten Buchhalterschrift:
Anzeige!Ich bringe einem löbl. Polizeipräsidium zur Kenntnis, daß Herr Eduard v. Bertrand in Badenweiler, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Mittelrheinischen Reederei AG. zu Mannheim, leider mit Personen männlichen Geschlechtes in unzüchtigen Beziehungen steht, und bin bereit, meine Angaben als Zeuge zu beweisen.
Als er seine Unterschrift anbringen wollte, stockte er, denn er wollte zuerst schreiben: Für die tief trauernden Hinterbliebenen“, und obgleich er darüber lachen wollte, erschrak er. Schließlich aber setzte er seinen Namen und seine Adresse auf das Papier, und sorglich zusammengefaltet verwahrte er es in der Brieftasche. Bis morgen, sagte er sich, Galgenfrist. In der Brieftasche steckte auch die Karte aus Badenweiler. Er überlegte, ob er sie heute nacht schon Mutter Hentjen geben dürfte. Fühlte sich verwaist. Doch da sah er den Alkoven, sah sie wieder in ihrer aufwühlend schmerzlichen Geschlechtsbereitschaft, und als er beim Büfett vorbeikam, war seine Stimme heiser: Also nachher.“ Sie saß steif auf ihrem Stuhle und schien nichts gehört zu haben, so daß er voll neuen Zornes, der doch ein anderer war als der frühere, zurückkam und rücksichtslos laut sagte: Das Bild dort oben nimmst du freundlichst weg.“ Sie rührte sich noch immer nicht, und er ließ die Türe krachend hinter sich zufallen.Als er dann kam und aufschließen wollte, fand er die Haustüre von innen verriegelt. Ohne Rücksicht darauf, ob ihn die Magd hören könne, schellte er, und als nichts sich rührte, läutete er Sturm. Das nützte; er hörte Schritte; fast hoffte er, daß es die kleine Magd sein würde: der könnte er sagen, er habe etwas in der Gaststube vergessen, außerdem aber würde ihn die Kleine auch nicht verschmähen, und das wäre eine gute Lektion für Muttern. Doch es war nicht die kleine Magd, sondern Frau Hentjen in eigener Person; sie war noch völlig bekleidet und weinte. Beides erhöhte seine Wut. Sie stiegen schweigend hinauf und droben überfiel er sie kurzerhand. Als sie unterlag und ihre Küsse weich wurden, fragte er drohend: Kommt das Bild weg?“ Sie wußte zuerst nicht, wovon er sprach und als sie es verstand, begriff sie erst recht nicht: Das Bild … ja das Bild, warum? gefällt es dir nicht?“ Er antwortete, verzweifelt vor ihrem Unverständnis: Nein, es gefällt mir nicht … es gefällt mir überhaupt vieles nicht.“ Sie sagte willfährig und höflich: Wenn es dir nicht gefällt, so kann ich es ja anderswohin hängen.“ Sie war so unsäglich dumm, daß man wohl nur mit Schlägen etwas ausrichten konnte. Nun, Esch bezähmte sich: Das Bild wird verbrannt.“ – Verbrannt?“ – Ja, verbrannt. Und wenn du dich noch weiter so dumm stellst, zünde ich die ganze Bude an.“ Sie rückte erschrocken von ihm ab, und mit der Wirkung zufrieden, sagte er: Könnte dir ja nur recht sein; du magst ja die Wirtschaft sowieso nicht.“ Sie antwortete nicht, und wenn sie auch wahrscheinlich gar nichts dachte, sondern bloß die Flammen über ihrem Dach emporzüngeln sah, so war es doch, als wollte sie etwas verheimlichen. Er fuhr sie an: Warum sagst du nichts?!“ Der scharfe Ton machte sie vollends erstarren. War dieses Weib nicht zu bewegen, ihre Maske endlich fallen zu lassen? Esch hatte sich erhoben und stand nun drohend am Eingang des Alkovens, wie um zu verhindern, daß sie flüchte. Man mußte die Dinge beim rechten Namen nennen, sonst kam man mit diesem Stück Fleisch überhaupt nicht weiter. Aber bloß heiser und stockend vermochte er zu fragen: Warum hast du ihn geheiratet?“, denn mit der Frage wühlte sich so viel Wildes und Hoffnungsloses in ihm auf, daß er mit seinen Gedanken zur Erna flüchtete. Die hatte er verlassen, trotzdem bei ihr nichts ihn quälte und es bei ihr völlig belanglos gewesen war, welche Phallusbilder sie in ihrer Erinnerung trug. Und egal war es ihm, ob Erna Kinder gehabt oder durch Kunststücke verhütet hatte. Er fürchtete die Antwort, wollte nichts hören, dennoch schrie er: Na, wird's?“ Frau Hentjen hingegen in neuerwachter Angst, sich zu sehr preiszugeben, vielleicht auch in der Angst, es könnte der Nimbus, um dessentwillen sie sich geliebt glaubte, verloren gehen, raffte sich zu einer Antwort auf: Es ist so lange her … das kann dir doch gleichgültig sein.“ Esch schob den Unterkiefer vor, entblößte das Pferdegebiß: Gleichgültig soll es mir sein … mir soll es gleichgültig sein, …“ er schrie, ja, es ist mir schon gleichgültig … wurscht ist es mir!“ So lohnte sie also seine absolute und restlose Hingabe und seine Qual. Sie war dumm und verstockt; ihm, der ihr Schicksal als das seine auf sich genommen hatte, ihm, der ihr Leben aufnehmen wollte, obwohl es vom Tode selber alt gemacht und besudelt worden war, ihm, August Esch, der bereit war, in vollkommener Entscheidung sich ihr hinzugeben, der seine ganze Fremdheit in ihr aufgehen lassen wollte, um damit auch all ihre Fremdheit und ihre Gedanken, und seien sie für ihn noch so schmerzhaft, sozusagen im Tauschwege zu erwerben: ihm also sollte es gleichgültig sein!! Oh, sie war dumm und verstockt und weil sie es war, mußte er sie schlagen; er war zum Bett hingetreten und holte aus und hatte ihre dicke unbewegte Wange getroffen, als könnte er auch die Unbeweglichkeit ihres Geistes damit treffen. Sie wehrte sich nicht und blieb starr liegen, und wenn er mit Messern nach ihr geworfen hätte, sie hätte sich auch nicht gerührt. Ihre Wange rötete sich und als eine Träne über die Rundung her absickerte, besänftigte sich sein Zorn. Er setzte sich aufs Bett und sie rückte zur Seite, ihm Platz zu machen. Dann befahl er: Wir werden heiraten.“ Sie sagte bloß Ja“, und Esch war nahe daran, neuerdings in Wut zu verfallen, weil sie nicht sagte, daß sie glücklich sei, den verhaßten Namen endlich ablegen zu dürfen. Sie aber wußte nichts anderes mehr zu antworten, als daß sie ihre Arme um ihn legte und ihn an sich zog. Er war müde und ließ es geschehen; vielleicht war es gerecht so, vielleicht war es gleichgültig, denn angesichts des Reichs der Erlösung ist ohnehin alles unsicher, unsicher jede Zeit, unsicher jede Zahl und jede Addition. Zwar war er von neuem erbittert, was wußte sie vom Reich der Erlösung? was wollte sie überhaupt davon wissen? wahrscheinlich so wenig wie der Korn! es wird wohl eine Zeit brauchen, bis man's ihr einbläut. Aber vorderhand muß man sich damit abfinden, mußte warten, bis sie es begreifen wird, mußte sie ihr Wirtschaftsbuch führen lassen, wie sie es eben tat. Im Lande der Gerechtigkeit, in Amerika, wird es anders werden, dort wird das Vergangene abfallen wie Zunder. Und als sie gepreßt fragte, ob er sich in Ober-Wesel aufgehalten habe, ärgerte er sich nicht, sondern schüttelte ernsthaft den Kopf und brummte: Ach, woher.“ So feierten sie ihre Hochzeitsnacht, besprachen, die Wirtschaft zu verkaufen, und Mutter Hentjen war ihm dankbar, daß er nichts anzünden würde. In einem Monat könnten sie schon auf hoher See sein. Morgen werde er sich daran machen, das amerikanische Geschäft mit Teltscher wieder in Gang zu bringen.Er blieb länger als sonst. Sie gingen auch nicht mehr auf Fußspitzen die Treppe hinab. Und als sie ihn hinausließ, gab es schon Leute auf der Straße. Das erfüllte ihn mit Stolz.
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Am nächsten Morgen begab er sich in die Alhambra. Natürlich war noch niemand da. Er stöberte in den Briefschaften auf Gernerths Tisch. Fand einen uneröffneten Umschlag, der seine eigene Handschrift trug, und war darob so verblüfft, daß er ihn im ersten Augenblick nicht erkannte: es war Ernas Brief, den er selber in Mannheim geschrieben hatte. Hm, die wird wieder ein schönes Gezeter anheben, wenn sie so lange keine Antwort erhält. Eigentlich nicht mit Unrecht. Unordentliches Gesindel beim Theater.Endlich kam Teltscher dahergeschlendert. Esch freute sich beinahe, ihn wiederzusehen. Teltscher war gnädig: No, höchste Zeit, daß Sie wieder da sind, – jeder macht seine Privatgeschäfte und der Teltscher soll die lausige Arbeit allein besorgen.“ Wo Gernerth sei? No, in München bei der werten Familie … schwere Krankheitsfälle in der Familie, Schnupfen wer'n sie haben.“ Er wird schon zurückkommen, meinte Esch. Bald müßt' er kommen, der Herr Direktor, gestern waren keine fufzig Leut' im Saal. Man muß das mit dem Oppenheimer besprechen.“ – Schön“, sagte Esch, gehen wir zu Oppenheimer.“Mit Oppenheimer kamen sie überein, daß die Schlußrunden angesetzt werden sollten. Hab' ich Sie gewarnt oder nicht“, sagte Oppenheimer, Ringkämpfe gut, aber ewig Ringkämpfe! wen interessiert das?“ Esch konnte es recht sein; er brauchte sich ja bloß seinen Nutzen bei Gernerths Rückkunft auszahlen zu lassen, und je eher Schluß gemacht würde, desto eher kämen sie nach Amerika.Diesmal nahm er Teltscher freiwillig zum Mittagessen mit, denn jetzt galt es, das amerikanische Projekt in Angriff zu nehmen. Kaum auf der Straße, zog Esch die gewisse Liste aus der Tasche und zählte die Mädchen zusammen, die er für die Reise vorgemerkt hatte. Ja, ich hab' auch schon welche“, sagte Teltscher, aber vorher muß mir der Gernerth mein Geld zurückgeben.“ Esch wunderte sich, denn Teltscher hätte doch aus Lohbergs und Ernas Einschüssen befriedigt werden sollen. Teltscher sagte ärgerlich: Und mit welchem Geld, glauben Sie, haben wir die Ringkämpfe finanziert? Er war doch passiv, verstehen Sie das nicht? Den Fundus hat er mir verpfändet, aber was fang' ich mit dem Fundus in Amerika an?“ Dies war zwar etwas erstaunlich, aber immerhin, wenn das Ringkampfgeschäft liquidiert war, würde Gernerth flüssig werden und Teltscher konnte reisen. Die Ilona kommt mit“, entschied Teltscher. Da wirst du dich irren, mein Lieber, dachte Esch, Ilona hatte mit diesen Dingen nichts mehr zu tun; mochte sie auch jetzt noch bei Korn liegen, es wird nicht lange währen, in Bälde wird sie auf einem fernen, unerreichbaren Schloß wohnen, in dessen Park die Rehe äsen. Er sagte, daß er noch zum Polizeipräsidium müsse, und sie machten den kleinen Umweg. In einem Papierladen kaufte Esch Zeitungen und einen Briefumschlag; die Zeitungen steckte er ein, und den Briefumschlag versah er sogleich mit einer schlingenreichen Anschrift. Dann entnahm er der Brieftasche die sorglich gefaltete Anzeige, tat sie in den Umschlag und ging zum Präsidium hinüber. Als er aus dem Gebäude zurückkam, setzte er das Gespräch fort: es sei überflüssig, daß Ilona mitführe. Keine Red'“, sagte Teltscher, erstens die glänzenden Engagements, die wir drüben finden, und zweitens, falls aus der Reise nichts wird, muß man hier an die Arbeit. Genug hat sie gefaulenzt; ich hab' ihr auch schon geschrieben.“ – Unsinn“, sagte Esch grob, wenn man Mädchenhändler ist, nimmt man keine Frau mit.“ Teltscher lachte: No, wenn Sie der Meinung sind, daß ich es lassen soll, dann kaufen Sie mir die Chancen drüben ab. Sie sind ja jetzt Großkapitalist … von einer Geschäftsreise bringt man meistens Geld heim?“ Esch stutzte; es war, als zwinkerte Teltscher zum Polizeipräsidium hinüber, – was sollte das heißen? Was wußte der jüdische Taschenspieler? wußte er selber doch nichts von dieser Reise; er fuhr Teltscher an: Scheren Sie sich zum Teufel, ich habe kein Geld mitgebracht.“ – Nix für ungut, Herr Esch, nehmen Sie mir's nicht übel, das war nur nebenbei.“Sie traten bei Mutter Hentjen ein, und Esch war es wieder, als besäße Teltscher irgendeine Mitwisserschaft und könnte etwa Mörder“ zu ihm sagen. Er wagte nicht, sich im Lokale umzusehen. Endlich hob er die Augen und fand an der Stelle von Hentjens Bild einen weißen Fleck, an dessen Rand Spinnweben hingen. Er schaute zu Teltscher hinüber, und der sagte nichts, weil er offenbar nichts bemerkt hatte, nein, gar nichts hatte er bemerkt! Esch wurde fast übermütig; teils aus Übermut, teils um Teltscher von dem Bilde abzulenken, ging er zum Musikautomaten und ließ ihn sein lärmendes Stück spielen; auf den Lärm hin erschien Mutter Hentjen, und es gelüstete Esch, sie mit lauter und vertrauter Herzlichkeit zu begrüßen: er hätte sie gerne als Frau Esch vorgestellt, und wenn er solch liebevollen Scherz unterdrückte, so geschah es nicht nur, weil er ihr dankbar war und bereit, sie in ihrer Zurückhaltung zu schonen, sondern auch weil der Herr Teltscher-Teltini eines solchen Vertrauens durchaus unwürdig war. Hingegen fühlte sich Esch keineswegs bemüßigt, diese Diskretion allzu weit zu treiben, und als Teltscher sich nach Tisch zu gehen anschickte, begleitete er ihn nicht wie sonst, um dann auf Umwegen zurückzukommen, vielmehr sagte er offen, daß er noch bleiben und seine Zeitungen lesen wolle. Er nahm die Zeitungen aus der Tasche, aber er steckte sie wieder ein. Blieb sitzen. Friedlich ruhten seine Hände auf den Knien. Er mochte nicht lesen. Betrachtete den hellen Fleck an der Wand. Und wie es still geworden war, ging er hinauf. Er war Mutter Hentjen dankbar und sie hatten einen angenehmen Nachmittag. Sie sprachen wieder vom Verkauf der Wirtschaft und Esch meinte, daß vielleicht Oppenheimer einen Käufer finden würde. Und sprachen zärtlich von ihrer Heirat. An der Decke des Alkovens war ein Fleck, der wie ein dunkler Schmetterling aussah; aber es war bloß Schmutz.Abends wollte er sich pflichtgemäß auf die Mädchensuche begeben. Indes er überlegte sich's, mußte erst mal schauen, was der Junge, der Harry trieb. Er suchte ihn vergebens und wollte das Saulokal schon verlassen; da kam Alfons. Der Dicke war in einem komischen Zustand; seine fettigen Haare klebten in Unordnung am Schädel, sein Seidenhemd stand offen, ließ die haarlose weiße Brust sehen und irgendwie war man an zerwühlte Polster gemahnt. Esch mußte lachen. Der Dicke ließ sich an einem Tisch beim Eingang nieder und ächzte. Esch stand vor ihm und lachte noch immer, doch es war, als wollte er damit etwas betäuben: Hallo, Alfons, was gibt es?“ Der Musiker sah ihn aus seinem Fett heraus glanzlos und feindselig an. Laß dir was zu trinken geben und sag', was los ist.“ Alfons trank einen Kognak und schwieg. Endlich: Heiliger Gott … das ist unerhört … ist dran schuld und fragt, was los ist!“ – Red' keinen Unsinn, was ist los?“ – Heiliger Gott! er ist tot!“ Alfons stützte das Gesicht in die Hände und stierte vor sich hin; Esch setzte sich an den Tisch. Also, wer ist tot?“ Alfons stammelte: Er hat ihn zu sehr geliebt.“ Nun war es wieder komisch: Wer? wen?“ Alfons' Stimme kippte um: Stellen Sie sich doch nicht so; Harry ist tot …“ So so, Harry war tot, Esch wollte es eigentlich nicht verstehen, schaute etwas verständnislos auf den Dicken; dem liefen die Tränen über die Backen: Mit Ihren Reden haben Sie ihn damals ganz irrsinnig gemacht … er hat ihn zu sehr geliebt … wie er es in der Zeitung gelesen hat, hat er sich eingeschlossen … heute mittags … und jetzt haben wir ihn gefunden … Veronal.“ So so, Harry war tot; das hatte irgendwo seine Richtigkeit, es hatte so kommen müssen. Esch wußte nur nicht, welche Richtigkeit es damit hatte. Er sagte Armer Kerl“, und plötzlich wußte er es, war voll eines befreiten Glückes, weil er mittags den Brief beim Polizeipräsidium abgegeben hatte; hier hoben sich endlich einmal Mord und Gegenmord, Post und Gegenpost kontomäßig auf, hier war einmal ein korrekt glattgestelltes Konto gefunden! Komisch nur, daß er trotzdem an etwas schuld sein sollte; er sagte nochmals: Armer Kerl … warum hat er es getan?“ Alfons glotzte ihn entgeistert an: Er hat es doch in der Zeitung gelesen …“ – Was?“ Da“, Alfons deutete auf den Pack Zeitungen, die aus der Rocktasche Eschs hervorlugten. Esch zuckte die Achseln, – die Zeitungen hatte er vergessen. Er zog sie heraus: da stand nun schwarzumrandet und groß und in vielen Wiederholungen auf der letzten Seite, denn keine seiner Unternehmungen, noch die Beamten, noch die Arbeiter hatten sich die Wehmut nehmen lassen, die Trauernachricht auszugeben, daß Herr Eduard v. Bertrand, Vorsitzender des Aufsichtsrates, Ritter hoher Orden usw., nach kurzem schwerem Leiden heimgegangen sei. Im Texte vorne aber war neben ehrenvollen Nachrufen zu lesen, daß der Verblichene mutmaßlich in plötzlicher geistiger Umnachtung durch einen Revolverschuß seinem Leben ein Ende bereitet habe. Dies alles las Esch und es interessierte ihn wenig. Er stellte bloß fest, wie richtig es gewesen war, daß man das Bild heute entfernt hatte. Komisch, daß ein so völlig Unbeteiligter wie dieser Musiker solches Aufhebens davon machen konnte. Mit einer kleinen ironischen Grimasse klopfte er dem Dicken wohlwollend und beruhigend auf den schwammigen Rücken, zahlte ihm den Schnaps und ging zu Frau Hentjen. Lang und bequem ausschreitend, denkt er an Martin und daß ihm der nun nicht mehr mit seinen harten Krücken nachlaufen und ihn bedrohen würde. Und auch das war gut.
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Allein gelassen, legte der Musiker Alfons die Fäuste an die Schläfen und schaute ins Leere. Esch schien ihm ein böser Mann zu sein, wie alle Männer, die zu Frauen gingen, um sie zu besitzen. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß alle diese Männer Unheil stiften. Sie schienen ihm wie Amokläufer, die durch die Welt rasen und bei deren Nahen man nichts anderes tun konnte, als sich ducken. Er verachtete diese Männer, die dumm und gehetzt dahergerannt kommen, gierig, nicht nach dem Leben, das sie offenbar überhaupt nicht sahen, sondern nach irgend etwas, das außerhalb davon lag und für das sie im Namen einer Art Liebe das Leben zerstörten. Der Musiker Alfons war zu traurig, um dies ausdrücklich durchzudenken; aber er wußte, daß diese Männer zwar mit großer Leidenschaft von der Liebe sprechen, jedoch nur Besitz meinen, oder was man sonst so darunter versteht. Auf ihn hatte man natürlich nichts zu geben, denn er war bestenfalls ein gedankenloser Mensch und ein verkommener Orchesterspieler; aber er wußte, daß man das Absolute noch lange nicht erreicht, indem man sich für eine Frau entscheidet. Und er entschuldigte auch die bösartige Wut der Männer, denn er wußte eben auch, daß sie aus der Angst und aus der Enttäuschung entspringt, wußte, daß jene leidenschaftlichen und bösartigen Männer hinter einem Stück Ewigkeit her sind, damit es sie vor der Angst beschütze, die in ihrem Rücken steht und ihnen den Tod verkündet. Ein dummer und gedankenloser Orchestergeiger war er, aber er konnte Sonaten auswendig spielen, und vielerlei wissend, durfte er trotz seiner Traurigkeit darüber lächeln, daß die Leute in ihrer angstvollen Sucht nach dem Absoluten sich ewig lieben wollen, vermeinend, ihr Leben werde dann kein Ende nehmen und ewig währen. Mochten sie ihn geringschätzen, weil er auch Potpourris und Polka-schnell spielen mußte, er hatte trotzdem erkannt, daß diese Gehetzten, die das Unvergängliche und Absolute im Irdischen suchen, immer nur Sinnbild und Ersatz finden für das, was sie suchen, ohne daß sie es benennen könnten: denn sie sehen den Tod des andern ohne Bedauern und ohne Traurigkeit, so sehr sind sie von dem eigenen besessen; sie jagen nach dem Besitz, um von ihm besessen zu werden, weil sie in ihm das Feste und Unwandelbare erhoffen, das sie besitzen und behüten soll, und sie hassen die Frau, für die sie sich in Blindheit entschieden haben, hassen sie, weil sie bloßes Sinnbild ist, das sie voll Wut zerschlagen, wenn sie sich wieder der Angst und dem Tode preisgegeben finden. Der Musiker Alfons empfand Mitleid mit den Frauen; denn wollen sie es auch nicht besser haben, so sind sie doch nicht dieser zerstörend stupiden Besitzleidenschaft verfallen und sie sind weniger von Angst gejagt, sind verzückter, wenn sie Musik vorgesetzt bekommen, stehen mit dem Tode in innigerer und vertrauterer Beziehung: darin gleichen die Frauen den Musikern, und mag man selber auch nur ein fetter homosexueller Orchestermusiker sein, man darf sich ihnen verwandt fühlen, darf ihnen ein Stück der Ahnung zugestehen, daß der Tod etwas Trauriges und Schönes sei, wissend, daß sie nicht deshalb weinen, weil man ihnen einen Besitz weggenommen hat, sondern etwas, was zu benützen und anzusehen, gut und sanft war. Oh, welche Wirrseligkeit ist das Leben, unverstanden von den Besitzsüchtigen, kaum verstanden von den anderen, und doch geahnt von der Musik, die klingendes Sinnbild alles Gedachten, die Zeit aufhebt, um sie in jedem Takte zu bewahren, den Tod aufhebt, um im Klange neu ihn erstehen zu lassen. Wer dies, gleich den Frauen und den Musikern, erahnt hat, der durfte es auf sich nehmen, gedankenlos und dumm zu sein, und der Musiker Alfons befühlte die Fettwülste seines Leibes, als wären sie eine gute weiche Decke, durch die hindurch man etwas Wertvolles und Liebenswertes tasten konnte: mochten die Leute ihn verachten und als weibisch beschimpfen, ja, er war bloß ein armer Hund, aber nichtsdestoweniger war er der Vielfalt der Ewigkeit seliger und lässiger und weicher hingegeben, als jene die ihn beschimpften und die dennoch nur einen kleinen irdischen Ausschnitt zum Sinnbild und Ziel ihres traurigen Strebens machen. Er war es, der die anderen verachten durfte. Auch Esch tat ihm leid, und er mußte an die heroischen Kampfesklänge denken, die die Ringer beim Betreten der Arena begleiten, damit der Kämpfer angestachelter Mut den Tod vergäße, der hinter ihnen steht. Er überlegte, ob er bei Harry Totenwache halten sollte, aber es graute ihm vor dem wachsenen Antlitz und er zog vor, sich zu betrinken und die Gäste und Kellner zu betrachten, die sich bewegten und doch den Stempel des Todes in ihren Gesichtern trugen.Ilona aber erhob sich zur nämlichen Stunde dieser Nacht vom Lager und betrachtete beim Schein des kleinen roten Öllichtes unter dem Muttergottesbild den schlafenden Balthasar Korn. Er schnarchte, und wenn das Dröhnen aussetzte, war es wie das Verstummen der Musik im Theater vor ihrer Nummer; in das Pfeifen seines Atems klang dann das dünne Sausen geschleuderter Messer. Freilich daran dachte sie nicht, obwohl der Brief Teltschers sie zur Arbeit zurückrief. Sie betrachtete Korn und versuchte sich vorzustellen, wie er ohne den schwarzen Schnauzbart und als kleiner Junge ausgesehen haben mochte. Sie wußte nicht genau, warum sie dies tat, aber es schien ihr, als würde die Muttergottes an der Wand ihr die Sünde dann eher vergeben. Denn Sünde war es, daß vor der Jungfrau heiligen Augen sie ihn zu unheiliger Lust benützt hatte, und wäre sie nicht frühzeitig mit der Krankheit angesteckt worden, so hätte auch sie Kinder gehabt. Korn verlassen zu müssen, war ihr gleichgültig, sie wußte, daß ein anderer nachfolgen werde, und es war ihr gleichgültig zu Teltscher zurückzukehren; sie machte sich keine Gedanken darüber, daß der in Köln auf sie wartete und daß er ihr verfallen war, sondern sie wußte bloß, daß er sie brauchte, damit er seine Messer nach ihr werfen könne. Auch daß sie nach Amerika fahren sollte, war ihr gleichgültig. Sie war schon allzuviel herumgereist, und Amerika war eine Stadt wie jede andere. Sie lebte ohne Hoffnung und ohne Angst. Sie hatte gelernt, Menschen zu verlassen, aber für heute fühlte sie sich noch als Besitz Korns. Sie trug eine Narbe am Halse, und sie hatte dem Mann, dem sie damals untreu war, recht gegeben, als er sie töten wollte. Wäre Korn ihr untreu geworden, so hätte sie ihn nicht getötet, sondern mit Vitriol begossen. Ja, eine solche Verteilung dünkte ihr in der Eifersucht angemessen, denn wer besitzt, will vernichten, doch wer bloß benützt, kann sich begnügen, das Objekt unbrauchbar zu machen. So gilt es für alle Menschen und auch für die Königin von England. Denn die Menschen sind alle gleich und keiner vermag dem andern etwas Gutes zu tun. Stand sie auf der Bühne, so war es licht, und lag sie bei einem Manne, so war es dunkel. Leben bedeutete essen und Essen bedeutete leben. Einmal hatte sich einer ihrethalben umgebracht: es hatte sie nicht sehr berührt, aber sie dachte gerne daran. Alles übrige versank im Schatten und in dem Schatten bewegten sich die Menschen wie dunklere Schatten, die ineinander verflossen und wieder auseinander strebten. Alle taten nur Unheil, als ob sie sich strafen müßten, wenn sie Lust aneinander suchten. Sie war ein wenig stolz, weil auch sie Unheil brachte, und als jener sich getötet hatte, war es wie eine Sühne und eine Entschädigung, die ihr von Gott für ihre Unfruchtbarkeit zuerkannt worden war. Vieles war unbegreiflich, eigentlich alles. Man konnte über den Sinn der Geschehnisse nicht nachdenken; nur wenn Kinder zur Welt kamen, schien sich das Schattenhafte zu verdichten und körperlich zu werden und dann war es, als ob eine süße Musik die Welt der Schatten ewiglich erfülle. Deshalb trägt Maria wohl auch den Jesusknaben dort droben über dem roten Lichte. Erna wird heiraten und Kinder bekommen: warum nahm Lohberg nicht sie, statt der spitzigen gelblichen Kleinen. Sie betrachtete Korn und fand in seinem Gesicht nichts von dem, was sie suchte; seine behaarten Fäuste lagen auf der Decke und waren niemals zart und jung gewesen. Es graute ihr vor seinem rotbeleuchteten fleischigen Antlitz, in dem der Schnurrbart stand, und sie ging mit ihren nackten Füßen leise zu Erna hinüber, glitt weich und lässig neben sie, schmiegte sich zärtlich an ihren eckigen Körper, und in dieser Lage schlief sie ein.
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Nun benahm sich Esch schon fast wie ein Bräutigam oder richtiger wie ein Beschützer, denn sie hatten von ihrer Verbindung zwar noch nichts verlauten lassen, Esch hingegen wußte, was sich einer schwachen Frau gegenüber ziemt, und sie gestattete, daß er ihre Interessen wahrte. Nicht nur mit dem Mann, der das Mineralwasser und das Eis brachte, durfte er unterhandeln, sondern auch mit Oppenheimer, der auf seine Anregung hin mit der Veräußerung der Wirtschaft betraut worden war. Der rührige Oppenheimer nämlich betrieb nebst seinem Theatergeschäft, wenn es darauf ankam, auch die Vermittlung von Realitäten und sonst noch allerhand Agenturen, und war selbstverständlich gerne bereit, diesem Geschäft alle Aufmerksamkeit zuzuwenden. Für den Augenblick allerdings hatte er andere Sorgen im Kopfe. Er war gekommen, um das Haus zu besichtigen, aber mitten auf der Stiege blieb er stehen und sagte: Nicht zu erklären, die Sache mit dem Gernerth; es wird ihm doch Gott behüt' nichts zugestoßen sein … übrigens, was kümmert's mich, ist ja nicht mein Geschäft.“ Und wenn er sich damit auch immer wieder selber zu beruhigen trachtete, er kam ebenso oft darauf zurück, daß Gernerth jetzt schon acht Tage ausgeblieben sei, jetzt eben, wo Ihr die Kämpfe abschließen wollt und das Geld doch brauchen werdet für die Honorar' und für die rückständige Pacht. Daß der Gernerth, so ein anständiger Mensch, mit Pacht rückständig werden könnte, hätte er sich auch nie gedacht. Und dabei ist das Geschäft bis zuletzt glänzend, geradezu glänzend gegangen. Jetzt natürlich reicht's nicht, die Spesen zu decken. Na, höchste Zeit, daß Schluß gemacht wird. Und das Pferd, der Teltscher, läßt ihn wegfahren und hat keine Kassaschlüssel und kann über nichts verfügen. Er hat doch Geld bei der Darmstädter gehabt! … zu erhaben, der Herr Teltscher, um sich darum zu kümmern, der Herr Künstler.“Esch hatte bisher unbeteiligt zugehört, um so mehr als es ihm ganz begreiflich erschien, daß Teltscher lieber an Amerika dachte als an die absterbende Ringkämpferei. Nun aber horchte er auf: Geld bei der Darmstädter? Er fuhr Oppenheimer an: In dem Geld bei der Darmstädter steckt die Einlage meiner Freunde; das Geld muß her!“ Oppenheimer wiegte den Kopf: Eigentlich kümmert's mich blutwenig“, sagte er, auf alle Fälle werd' ich dem Gernerth nach München telegraphieren. Er soll kommen, Ordnung machen. Recht haben Sie, was soll man die Sache herumziehen.“ Esch billigte die Maßnahme, und das Telegramm wurde abgeschickt; sie erhielten keine Antwort. Beunruhigt sandten sie zwei Tage später eines mit Rückantwort an Frau Gernerth und mußten erfahren, daß Gernerth gar nicht daheim gewesen sei. Das war verdächtig. Und am Wochenende hatten die Zahlungen zu erfolgen! Man war genötigt, die Polizei zu verständigen; die Polizei eruierte bei der Darmstädter, daß schon vor etwa drei Wochen der ganze Rest des Kontos von Gernerth abgehoben worden sei, und nun gab es keinen Zweifel mehr: Gernerth war mit dem Gelde durchgebrannt! Teltscher, welcher bis zum letzten Augenblick Gernerth verteidigt hatte, und sich nun den dümmsten Juden auf Erden nannte, weil er wieder so einem schlechten Menschen aufgesessen war, Teltscher wurde verdächtigt, Gernerth in die Hände gearbeitet zu haben. Angesichts des verpfändeten Fundus hatte er alle Mühe, seine Unschuld zu beweisen; freilich, was nützte es, daß ihm dies gelang, – er behielt kaum so viel Geld in der Tasche, um die nächsten Tage sein Leben fristen zu können. Hilflos wie ein Kind, beschuldigte er sich und die Welt, sprach nur immer wieder davon, daß Ilona kommen solle, und tagtäglich lag er Oppenheimer mit dem Wunsche nach einem sofortigen Engagement in den Ohren. Oppenheimer hatte es leichter, den Kopf oben zu behalten, denn es ging nicht um sein Geld; er tröstete Teltscher: es sei doch nicht so arg, ein Teltscher-Teltini als Besitzer des Fundus werde einen prächtigen Theaterdirektor abgeben; wenn er nur etwas Betriebskapital aufbrächte, wäre alles in schönster Ordnung und er werde mit dem alten Oppenheimer noch manches Geschäft abschließen. Dies leuchtete Teltscher ein, er gewann seine Regsamkeit so sehr und so geschwind zurück, daß er alsbald einen neuen Plan ausgeheckt hatte, und spornstreichs lief er damit zu Esch.Esch aber war durch die eingetretene Wendung mehr als gereizt. Obwohl er stets geahnt, ja sogar gewußt hatte, daß es zu der Reise niemals kommen würde, und obwohl er vielleicht auch deshalb die Anwerbung der Mädchen bloß in so beiläufiger und laxer Weise betrieben hatte, und obwohl er sogar eine gewisse Befriedigung empfand, weil sein inneres Wissen recht behalten hatte: sein Leben war dennoch auf das amerikanische Projekt gerichtet gewesen und er war nun aufs tiefste erschüttert, schien es ihm doch, als ob seiner Beziehung zu Mutter Hentjen der Boden abgegraben worden sei. Wohin sollte er mit ihr? und wie stand er vor der Frau da?! Als Herrn über diese ganze Künstlerbande hatte sie ihn sehen wollen, und so schmählich war er der Bande auf den Leim gekrochen! Er schämte sich vor Mutter Hentjen.In diese Stimmung platzte Teltscher mit seinem Projekt: Hören Sie, Esch, jetzt sind Sie ja Großkapitalist, Sie könnten mein Kompagnon werden.“ Esch starrte ihn an wie einen Irrsinnigen: Kompagnon? Sie sind wohl verrückt? Sie wissen ebensogut wie ich, daß es mit Amerika Essig ist.“ – Man kann auch in Europa verdienen“, sagte Teltscher, und wenn Sie Ihr Geld fruchtbringend doch anlegen wollen …“ – Welches Geld?!“ schrie Esch. No, no, deshalb brauche er nicht zu schreien; es sei angeblich vorgekommen, daß jemand etwas geerbt hätte, sagte Teltscher und machte Esch damit vollends wütend: Sie sind komplett verrückt geworden“, brüllte er, was soll das Gefasel? Nicht genug, daß ich Ihnen einmal 'reingefallen bin …“ – Wenn Gernerth, der Schuft, durchgeht, können Sie mich nicht verantwortlich machen …“, sagte Teltscher gekränkt, ich bin mehr geschädigt als Sie, und weil es mir elendig geht, brauchen Sie mich nicht zu beleidigen, wo ich Ihnen ein loyales Geschäft bringe.“ Esch brummte: Es handelt sich nicht um meinen Schaden, sondern um den meiner Freunde …“ – Ich bringe Ihnen die Möglichkeit, das Geld wieder hereinzubekommen.“ Das war natürlich eine Hoffnung, und Esch fragte, wie Teltscher sich die Sache vorstelle. Nun, mit dem Fundus kann man schon etwas anfangen, das sagt auch Oppenheimer, und Esch habe doch selber gesehen, daß sich etwas verdienen lasse, sobald man es mit einiger Geschicklichkeit anpacke. Und wenn nicht?“ Dann allerdings gäbe es keinen anderen Ausweg, als den Fundus zu versteigern und irgendein Engagement mit Ilona anzunehmen. Esch wurde nachdenklich: so? dann müßte Teltscher wieder mit Ilona in Engagement gehen … Messer werfen? … so, so..., er wollte es sich überlegen …Am nächsten Tage erkundigte er sich bei Oppenheimer, denn Teltscher gegenüber war alle Vorsicht geboten. Oppenheimer bestätigte Teltschers Angaben. So? … er müßte also dann wieder mit Ilona ein Engagement annehmen …“ – An mir soll's nicht fehlen, ich werd' ihm schon ein Engagement verschaffen“, sagte Oppenheimer, was soll er denn sonst beginnen, der Teltscher?“ Esch nickte: Und wenn er selber eine Pachtung übernimmt, braucht er Geld …?“ – Sie haben also die paar Tausender nicht zur Verfügung?“ fragte Oppenheimer. Nein, die hatte er nicht. Oppenheimer wiegte den Kopf hin und her: ohne Geld ging es nicht; vielleicht könnte man jemanden andern für das Geschäft interessieren … wie wäre es zum Beispiel mit Frau Hentjen, welche, so sagt man, ihre Wirtschaft verkaufen wolle und eine Menge Geld freibekäme. Darauf habe er keinen Einfluß, sagte Esch, aber er werde es Frau Hentjen vortragen.Er tat es nicht gerne, es war eine neue Aufgabe, doch sie war nicht zu umgehen. Esch fühlte sich in hinterhältiger Weise angegriffen. Möglich, daß trotz allem der Oppenheimer mit Teltscher unter einer Decke steckte; die beiden Juden! Warum sollte so einem Kerl nichts anderes übrig bleiben wie Messerschmeißen? als ob es keine ehrliche und anständige Arbeit gäbe! Und was hatte der von Tod und Erbschaft zu faseln? In eine Sackgasse hatten sie ihn hineingetrieben, als wüßten sie, daß nichts mehr ungeschehen gemacht werden durfte, sollte Ilona vor den Messern und die Welt vor dem Unrecht bewahrt bleiben, sollte Bertrand nicht umsonst geopfert und das Bild Herrn Hentjens nicht umsonst entfernt worden sein! Nein, es konnte und durfte nichts mehr rückgängig gemacht werden, denn um die Gerechtigkeit und um die Freiheit ging es, um die Freiheit, die man den Demagogen und den Sozialisten und den feilen Zeitungsschmierern nicht länger überantworten durfte. Das war die Aufgabe. Und daß er das Geld für Lohberg und Erna zu retten hatte, das schien wie ein Teil und wie ein Sinnbild jener höheren Aufgabe. Und falls Teltscher seine Pachtung nicht bekam, war das Geld endgültig verloren! Es gab kein Entrinnen. Esch wog die Konti gegeneinander ab, rechnete nach, und aus der Rechnung ergab sich die eindeutige Lösung: er mußte Mutter Hentjen bewegen, sich gleich ihm in den Dienst der Aufgabe zu stellen.Nachdem er klar gesehen hatte, wichen Unsicherheit und Zorn von ihm. Er setzte sich auf sein Rad, fuhr nach Hause und schrieb an Lohberg einen ausführlichen Bericht über das unglaubwürdige und empörende Verbrechen des Herrn Direktor Gernerth, hinzufügend, daß er für die Rettung der Einlage sofort zuverlässige Vorsorge getroffen habe, und er bitte das werte Fräulein Erna, beruhigt zu sein.
✻ ✻ ✻
Mit Amerika war's also Essig. Endgültig. Jetzt hieß es in Köln bleiben. Die Käfigtür war zugefallen. Man war eingesperrt. Die Fackel der Freiheit war erloschen. Sonderbarerweise konnte er Gernerth nicht böse sein. Viel eher war die Schuld einem Größeren anzulasten, einem, der trotz Verlockung und Hoffnung vornehm es verschmäht hat, nach Amerika zu flüchten. Ja, so war wohl das Gesetz, wenn auch nicht die Gerechtigkeit: wer sich opfert, der muß eben zuerst seine Freiheit hergeben. Nichtsdestoweniger blieb es eine unwahrscheinliche Lage. Esch wiederholte: Eingesperrt“, als müßte er sich's selber bestätigen. Und beinahe guten Glaubens und nur zu einem geringen Teil mit schlechtem Gewissen erzählte er Mutter Hentjen, daß sie die Amerikareise bis auf weiteres verschieben müßten, da Gernerth vorausgefahren sei, das Geschäft drüben in Angriff zu nehmen.Mutter Hentjen freilich durfte man erzählen, was man wollte; sie hatte sich weder für die Ringkämpferei, noch für den Herrn Direktor Gernerth je interessiert, und von den äußeren Geschehnissen nahm sie überhaupt bloß das auf, was ihr in den Kram paßte. So hörte sie auch jetzt nichts anderes, als daß es zu der gefürchteten Fahrt ins Abenteurerland nicht kommen werde, und es war wie ein laues Bad der Beruhigung, in das ihre Seele unverhofft gesetzt worden war, und das sie erst schweigend genießen mußte, ehe sie sagte: Morgen lasse ich den Maler holen, sonst wird's Winter und die Wände trocknen nicht ordentlich.“ Esch war bestürzt: Malen? Du willst die Wirtschaft ja verkaufen!“ Mutter Hentjen stemmte die Arme in die Hüften: Nee, bis wir reisen hat es gute Weile, – ich lasse malen, das Haus soll schön sein.“ Esch gab nach, zuckte die Achseln: Möglich, daß wir's im Kaufpreis wieder hereinbringen.“ Ja“, sagte Mutter Hentjen. Trotzdem konnte sie einen Rest Unsicherheit nicht abschütteln – wer wußte schon, ob das amerikanische Gespenst wirklich gebannt war –, und sie befand es für durchaus angemessen, sich ihre Bleibe und Sicherheit was kosten zu lassen. Daher waren Esch und Oppenheimer höchst angenehm überrascht, als es bloß wenigen Zuredens bedurfte, um Frau Hentjen zu der Einsicht zu bringen, daß das Theatergeschäft während Gernerths Abwesenheit finanziert werden müßte; und ebenso rasch war ihre Zustimmung zu einem Hypothekarisierungsantrag auf das Haus zu erlangen, den Oppenheimer vorsichtshalber gleich mitgebracht hatte. Das Geschäft wurde perfekt gemacht und Oppenheimer verdiente 1 % Provision.Solcherart wurde Mutter Hentjen Teilhaberin an Teltschers neuem Theaterunternehmen; kraft Oppenheimers Vermittlung wurde es in dem betriebsamen Duisburg eingepachtet und berechtigte zu der Hoffnung, daß Mutter Hentjen an reichlichen Gewinnen partizipieren würde. Esch hatte drei Bedingungen gesetzt: erstens behielt er sich das buchhalterische Kontrollrecht vor, zweitens waren vor Auslösung des Fundus die Kapitalrückstände an Lohberg und Erna auszubezahlen (das war nur recht und billig, wenn auch Mutter Hentjen nichts davon zu wissen brauchte), und drittens legte er den verwunderten Herren Teltscher und Oppenheimer die vertragliche Verpflichtung auf, die Glanznummer des Messerwerfens aus den allfälligen Jongleurvorführungen zu streichen. Meschugge“, sagten die beiden Herren; aber Esch kehrte sich nicht daran.Soweit hatten sich die Dinge eigentlich in eine recht anständige Ordnung gefügt. Das von Mutter Hentjen gebrachte Opfer hatte ihn nur auf ewig ihr verpflichtet und seine Entscheidung unwiderruflich gemacht. Zwar war die verhaßte Wirtschaft noch nicht verkauft, doch war die Hypothek gleichsam ein erster Schritt zur Vernichtung der Vergangenheit. Und auch in Mutter Hentjens Verhalten gab es manches, was als Beginn eines neuen Lebens deutbar gewesen wäre. Sie widersprach nicht seinen Heiratsplänen, sowenig sie der Hypothek widersprochen hatte, und ihre Seele war von einer Weichheit erfüllt, die bisher niemand an ihr gekannt hatte. Der Herbst war frühzeitig und kühl gekommen, und sie trug wieder das graue Barchentzeug und war oft ohne Mieder. Sogar ihre starre Frisur schien sich zu lockern; kein Zweifel, sie wandte nicht mehr die alte, adrette Sorgsamkeit an ihre äußere Erscheinung, und auch darin schied sich Vergangenes von Gegenwärtigem.Esch stapfte durch das Haus. War man schon beschäftigungslos und eingesperrt, so sollte es sich wenigstens verlohnen. Allerdings, ein neues Leben war dies nicht zu nennen. Er saß beim Frühstück in der Wirtsstube und zum Abendbrot saß er noch immer dort. Mutter Hentjen äußerte Verschiedenes über einen Tunichtgut und Müßiggänger, der sich hier breit machte, aber sie fütterte ihn gern. Esch ließ sich beides gefallen. Studierte seine Zeitung, und manchmal betrachtete er die Ansichtskarten im Spiegelrahmen; war froh, daß es keine mit seiner eigenen Handschrift darunter gab. Und schandenhalber beaufsichtigte er die Maler und Anstreicher. Mutter Hentjen hatte leicht reden. Was die sich schon um das neue Leben kümmerte! Frauen haben es überhaupt einfacher – Esch mußte lachen – die können das neue Leben überall tragen, speziell unterm Herzen. Deshalb wohl mögen sie nicht raus in die neue Welt, haben schon alles in ihren vier Wänden, meinen, daß sie bloß im Käfig zu sitzen brauchen, um unschuldig zu werden! Da putzen und scheuern sie und glauben, daß es mit dem bißchen Maschinen-Ordnung getan sei! Das neue Leben im Käfig? als ob das so einfach wäre!Nein, mit kleinen Mittelchen, mit kleinen Veränderungen war das neue Leben, war der Stand der Unschuld im Kerker nicht zu errichten. Dem Unveränderlichen, dem Gewesenen, dem Irdischen ist nicht so leicht beizukommen. Unverändert stand das Haus, und von der lausigen Hypothek war ihm nichts anzumerken. Unverändert standen die Straßen, standen die Türme, um die der Herbstwind pfiff, und vom Hauch der Zukunft war nichts mehr zu spüren. Und eigentlich wäre es notwendig, Köln an allen vier Enden anzuzünden, es dem Erdboden gleichzumachen, damit kein Stein auf dem andern bliebe, die Vergangenheit und die Erinnerungen Mutter Hentjens wachzurufen. Denn was half's, daß Mutter Hentjen ihre Haare jetzt weniger adrett gebürstet trug: unverändert stolzierte sie durch die Straßen, und die Leute lüpften den Hut und jeder wußte, wessen Namen sie führte. Weiß Gott, so war es nicht gedacht gewesen, als man um des Opfers willen ihr Altern und das Verlöschen ihrer Reize auf sich genommen hatte. Ja, würden ihre Haare über Nacht erbleichen, würde sie mit einem Schlage zu einer ganz alten Frau werden, die sich an nichts erinnert, unkenntlich jedem, eine Fremde, der gewohnten Umgebung durch nichts mehr verknüpft, – ja, das wäre das neue Leben! Und Esch mußte daran denken, daß jedes Kind die Mutter altern macht, und daß kinderlose Frauen nicht altern: unverändert und tot sind sie, besitzen keine Zeit. Aber wenn sie das neue Leben erwarten, so sind sie voll Hoffnung, daß ihre Zeit wieder gezählt werde, und es ist Altern und neue Jungfrauschaft zugleich, ist Hoffnung auf den Stand der Unschuld alles Lebendigen, Vortraum des Todes, dennoch neues Leben, Reich der Erlösung in der alten Welt. Süße nie erfüllte Hoffnung.Freilich, Mutter Hentjens Geschmack wäre das kaum gewesen. Anarchistische Ideen würde sie's nennen. Vielleicht sogar mit Recht. Man hat eben revolutionäre Gedanken, führt revolutionäre Reden, wenn man in einen Kerker gerät. Weiß selber nicht, daß man's tut. Esch stieg treppauf, treppab, fluchte auf das Haus, fluchte auf die Stufen, fluchte auf die Handwerker. Schön sah das neue Leben hier aus! Der helle Fleck an der Wand, wo des Schenkwirts Bild gehangen hatte, war jetzt übermalt, so daß man meinen konnte, das Bild sei lediglich der Ausmalung wegen entfernt worden. Aus keinem andern Grunde. Esch starrte zur Wand hinauf. Nein, es war überhaupt kein neues Leben, das da begonnen wurde, sondern im Gegenteil, die Zeit sollte zurückgedreht werden. Diese Frau hatte es ja förmlich darauf angelegt, alles rückgängig und ungeschehen zu machen. Und eines Tages kam sie von der Putzarbeit ins Lokal herunter, atemlos und schwitzend und dennoch befriedigt: Uff, man sollte es nicht glauben, wie dringend das Haus diese Arbeit schon gebraucht hat.“ Esch sagte zerstreut: Wann ist's denn zuletzt hergerichtet worden?“ doch plötzlich dämmerte es ihm, daß dies anläßlich ihrer Verheiratung mit Hentjen gewesen sein mußte; er schlug auf den Tisch, daß die Teller klirrten, schrie: Der Käfig wird eben nur dann ausgemalt, sooft ein neuer Vogel hineingesetzt wird!“ Nicht viel hätte gefehlt, daß er sie mitten im Lokal geprügelt hätte. Er hatte es satt, sich den Kopf in den Nacken drehen zu lassen, immer wieder in die Vergangenheit schauen zu müssen. Dabei verlangte sie noch, daß er um sie werbe; denn mit der Heirat schien's ihr durchaus nicht dringend. Allenthalben, unabweisbar drängte sich das Gewohnte wieder auf. Und sichtbarlich genug floß in all ihrer neuen Bequemlichkeit und Weichheit ein breiter Streifen Seßhaftigkeit, und alles sprach dafür, daß sie nicht nur ihr altes Leben wieder aufzunehmen und für alle Ewigkeit fortzusetzen gedachte, sondern es war auch, als wollte sie die Liebe mitsamt dem Liebhaber zum Range einer nebensächlichen Verzierung, zu einer Art Malerei im Hause ihres Lebens herabdrücken. Und sogar jene halboffizielle Vertrautheit, die sie ihm gewissermaßen als Unterpfand ihres Bundes gewährt hatte, trachtete sie wieder einzuschränken. Fuhr er nach Duisburg, Teltschers Abrechnungen zu überprüfen, so fand sie kein Wort der Anerkennung, und lud er sie ein, vielleicht mal mitzukommen, so nannte sie dies eine Zumutung und stellte es ihm anheim, gleich dort zu bleiben: dort nämlich passe er hin.Mutter Hentjen hatte recht! Auch diesmal! Zeigte ihm mit Recht, daß er in ihrem Hause nichts weiter als ein eben noch geduldeter fremder Waisenknabe war, einer, mit dem es keinerlei Gemeinschaft geben durfte. Und trotzdem hatte sie nicht recht! Und das war vielleicht das ärgste. Denn hinter der scheinbar berechtigten Ablehnung, hinter der scheinbar gerechten Strafe blickte stets aufs neue die alte blöde Furcht hervor, auch er – er, August Esch! – könnte es mit der Heirat bloß auf ihr Geld abgesehen haben. Das wurde wieder einmal sehr deutlich, als die Hypothekardokumente eintrafen; da schnüffelte Mutter Hentjen eine Zeitlang beleidigt herum, und sagte schließlich vorwurfsvoll: Schade um die hohen Zinsen … ich könnte das ganz gut aus meinem Sparkassageld zurückzahlen“, womit es denn sonnenklar zutage trat, daß sie stille Reserven besaß und sie lieber verheimlichte, ja lieber eine Hypothek aufnahm, als daß sie ihm Einblick gewährte. Von einer wirklichen buchhalterischen Kontrolle ganz zu schweigen. Ja, so war diese Frau. Sie hatte nichts zugelernt, wußte nichts vom Reich der Erlösung, wollte nichts davon wissen. Und das neue Leben war ihr ein taubes Wort. Oh, sie strebte wieder zu jener geschäftlichen und magistralen Form der Liebe, der er verfallen war und die er doch nicht mehr ertrug; es war ein Kreislauf, dem er nicht entrinnen konnte. Unentrinnbar, unabänderlich stand das Gewesene. Unangreifbar. Und würde man sogar die ganze Stadt vernichten, – übermächtig bleiben die Toten.Nun tauchte auch noch Lohberg auf. Zeigte sich mißtrauisch, weil bloß das Kapital, nicht aber der in Aussicht gestellte Gewinstanteil ausbezahlt worden war. Solche Forderungen hatten Esch gerade noch gefehlt. Allerdings, als der Idiot ein wenig verlegen und doch mit einigem Stolz andeutete, daß ihnen jeder Groschen wichtig wäre, weil Erna nun bald so weit sei und daher mit der Heirat ernst gemacht werden müsse, da klang es für Esch wie eine Stimme aus dem Jenseits, und er wußte, daß das Opfer noch nicht vollendet war. Die kleine und schäbige Hoffnung, es könnte dieses Kind, von dem er sich schon freigesprochen hatte, dennoch das Kind Lohbergs sein, erstickte in der unirdischen Gewißheit einer Sühne, verhängt über die vollkommene Liebe, zu der er sich entschieden hatte, verhängt zur Sühnung eines Frevels, in dem drohend der Mord rasselte, den Fluch der Unfruchtbarkeit über sie verhängend, während das sündig und ohne Liebe gezeugte Kind unweigerlich geboren werden würde. Und obwohl er voll Zorn war gegen Mutter Hentjen, die von nichts wußte und bloß an die Malerei in ihrem Hause dachte, statt sein Entsetzen zu teilen, sehnte er sich nach solcher Sühne, und der Wunsch, Mutter Hentjen möge den Arm heben, ihn zu töten, wurde wieder sehr stark. Dessenungeachtet mußte er Lohberg beglückwünschen, und indem er ihm die Hände schüttelte, sagte er: Die Gewinne sollen möglichst nachgezahlt werden … als Tauftaler.“ Was blieb ihm sonst zu tun übrig? Er strich sich über das kurze steife Haar, und ein kühles prickelndes Gefühl haftete im Handteller. Von Lohberg erfuhr er auch, daß Ilona in Kürze nach Duisburg übersiedeln werde. Und er beschloß, daß ab nächstem Ersten allmonatlich Teltschers Bücher per Post nach Köln zur Kontrolle gesendet werden müßten.Ja, was blieb sonst zu tun übrig? Es war ja alles in Ordnung. Erna wird ein eheliches Kind kriegen, und er wird Mutter Hentjen heiraten, und das Lokal wird frisch gemalt und mit braunem Linoleum bespannt. Und niemand ahnte, was sich hinter den schönen glatten Aspekten alles verbarg, keiner wußte, von wem das Kind gemacht worden war, das nun Lohbergs Namen tragen würde, und daß die vollkommene Liebe, in die er sich hatte retten wollen, nichts als Lug und Trug war, nackter Schwindel, um zu vertuschen, daß er hier als ein x-beliebiger Nachfolger des Schneidermeisters herumlief, in diesem Käfig herumlief als einer, der an Flucht und weite Freiheit dachte und doch nur an den Gitterstäben rütteln konnte. Immer dunkler wurde es, und niemals wird sich der Nebel jenseits der Ozeane lichten.Oft mied er jetzt das Haus, es war eng und unvertraut geworden. Er trieb sich an den Ufern umher, besah die Reihe der Schuppen, schaute den Schiffen nach, die langsam den Strom hinabschwammen. Kam zu der Rheinbrücke, schlenderte weiter zum Polizeipräsidium, zum Opernhaus, gelangte in den Volksgarten. Auf einer Bank zu stehen – die Mädchen mit den Tamburins vor sich – und zu singen, ja, das war vielleicht das Richtige, von der gefangenen Seele zu singen, die durch die Kraft der erlösenden Liebe befreit wird. Sie mochten schon recht haben, die Heilsarmeeidioten, daß man vor allem den Weg zur wahren vollkommenen Liebe finden muß. Selbst die Fackel der Freiheit vermag wohl nicht zur Erlösung zu leuchten, war doch auch jener trotz aller möglichen Amerika- und Italienreisen nicht erlöst worden. Mit Schwindeleien läßt sich eben nichts ausrichten, man bleibt verwaist, bleibt frierend im Schnee stehen, wartend, daß die Gnade der Liebe weich sich herabsenke. Dann, ja dann, mag sich auch das Wunder herabsenken, das Wunder der vollkommenen Erfüllung. Heimkehr des Waisenkindes. Wunder einer Verdopplung der Welt und des Schicksals, – und das Kind, für das jener fortgegangen war, würde nicht das Kind Ernas sein, sondern das ihre, die trotz allem das wahre neue Leben tragen wird! Bald werden wir Schnee haben, weichen flaumigen Schnee. Und die gefangene Seele wird erlöst sein, hallelujah, wird auf der Bank stehen, höher als der, der sonst so viel höher stand. Und in seinem Geiste nannte er die, die durch ihn zur Mutter werden sollte, zum ersten Male bei ihrem Vornamen: Gertrud.Kam er heim, so sah er in ihr Gesicht. Das Gesicht war freundlich und ihr Mund zählte getreulich auf, was sie am Vormittag gekocht hatte. Und wenn August Esch nicht eben großen Appetit verspürte, so wandte er sich ab. Es schauderte ihn, und unentrinnbar wußte er, daß ihr Schoß getötet war, oder schlimmer noch, eine Mißgeburt zu gewärtigen hatte. Allzu gewiß war er des Fluches, allzu gewiß des Mordes, der von dem Toten an der Frau verübt wurde, verübt wird. Wieder schmerzte die Frage so sehr, daß er sie nicht zu stellen wagte … waren ihnen Kinder versagt gewesen oder hatten sie bloß ihrer Lust gefrönt? Sein gieriger Zorn gegen Mutter Hentjen stieg, und wieder war er außerstande, sie mit dem Namen zu nennen, mit dem der Tote sie rief, ja, er verschwor sich, den Namen nicht eher in den Mund zu nehmen, ehe sie nicht begriffen hätte, um was es ging. Sie aber begriff nicht. Sie empfing ihn weich und sachlich und ließ ihn allein in seiner Einsamkeit. Er bemühte sich, dem Schicksal nachzugeben: es kam vielleicht nicht auf das Kind an, sondern das Wesentliche sollte ihre Bereitschaft sein, und er wartete auf diese Bereitschaft. Aber auch hier ließ sie ihn allein und wenn er, um sie zu ermuntern, in Andeutung sprach, daß sie nach ihrer Heirat Kinder haben wollten, sagte sie bloß trocken und sachlich Ja“, aber was er erwartete, gab sie ihm nicht und in ihren Nächten schrie sie nicht, daß er ihr ein Kind machen solle. Er schlug sie, aber sie begriff nicht und blieb stumm. Bis er zu der Einsicht gelangte, daß auch dies nichts genützt hätte; wäre doch dann der Zweifel aufgestiegen, unabweisbar, ob sie nicht ebensowohl Herrn Hentjen um ein Kind angefleht hätte, und das Kind, dessen Vater zu sein er sich ersehnte, wäre in ihrem Schöße der gleiche Zufall gewesen wie eines aus Hentjens Samen. Keine Hilfe vermag die Frau dem Manne zu gewähren in der zweifelnden Pein des Unbeweisbaren. Und je mehr er sich peinigte, verständnislos mußte sie es geschehen lassen: nichtsdestoweniger war es nur mehr ganz schwach, war es sozusagen nur mehr Symbol und Andeutung, wenn er sie prügelte. Seine Auflehnung erlahmte.Denn er erkannte, daß im Realen niemals Erfüllung sein könne, erkannte immer deutlicher, daß auch die weiteste Ferne im Realen lag, sinnlos jede Flucht, dort die Rettung vor dem Tod und die Erfüllung und die Freiheit zu suchen, – und sogar das Kind, kommt es auch lebendig aus dem Leib der Mutter, es bedeutet nicht mehr als der zufällige Schrei der Lust, in dem es empfangen wurde, verhallender und längst verwehter Schrei, der nichts für die Existenz des Liebenden beweist, dem er gegolten hat. Fremd das Kind, so fremd wie der vergangene Laut, fremd wie das Vergangene, fremd wie der Tote und der Tod, hölzern und ausgeleert. Denn unabänderlich ist das Irdische, mag es sich auch scheinbar verändern, und würde selbst die ganze Welt aufs neue geboren, sie würde trotz des Erlösers Tod den Stand der Unschuld im Irdischen nicht erlangen, nicht ehe das Ende der Zeit erreicht ist.Zwar war solche Erkenntnis nicht sehr deutlich, allein sie genügte, um Esch zu veranlassen, daß er sich in seinem irdischen Kölner Leben einrichtete, eine anständige Stellung suchte und seinem Geschäfte nachging. Dank der guten Zeugnisse, die er besaß, fand er einen stolzeren und verantwortungsvolleren Posten als je vorher und erwarb nun wieder all den Stolz und die Bewunderung, die Mutter Hentjen für ihn bereitliegen hatte. Sie ließ die Gaststube mit braunem Linoleum bespannen, und jetzt, da die Gefahr der Auswanderung wohl endgültig gebannt war, begann sie selber von den amerikanischen Luftschlössern zu sprechen. Er ging darauf ein, teils weil er fühlte, daß sie ihm mit solchen Gesprächen eine Freude zu machen glaubte, teils aus Pflichtgefühl: denn wird er Amerika auch kaum mehr zu Gesicht bekommen, er wird den Weg dorthin nicht mehr verlassen, wird sich nicht umwenden, trotz des Unsichtbaren, der mit der Lanze folgt, bereit zuzustoßen, und ein Wissen, schwebend zwischen Wunsch und Ahnung, sagt ihm, daß der Weg nur mehr Symbol und Andeutung eines höheren Weges ist, den man in Wirklichkeit zu gehen hat und für den jener bloß das irdische Spiegelbild ist, schwankend und unsicher wie das Bild im dunklen Teich. Es war ihm dies alles nicht völlig klar, ja selbst das Wort vom Geistigen, in dem die Erfüllung und das Absolute zu suchen wäre, stand ihm nicht zu Gebote. Aber er erkannte, daß es bloßer Zufall war, wenn die Addition der Kolonnen stimmte, und so durfte er das Irdische immerhin wie von einer höheren Stufe aus betrachten, wie von einem lichteren Schloß, das über der Ebene sich erhebt, abgeschlossen gegen die Welt und doch spiegelnd ihr geöffnet, und oft war es, als ob das Getane und das Gesprochene und Geschehene nichts wäre als ein Vorgang auf mattbeleuchteter Bühne, eine Darbietung, die vergessen wird und nie vorhanden war, Gewesenes, an das niemand sich klammern kann, ohne das irdische Leid zu vergrößern. Denn immer versagt die Erfüllung im Realen, aber der Weg der Sehnsucht und der Freiheit ist unendlich und niemals ausschreitbar, ist schmal und abseitig wie der des Schlafwandlers, wenn es auch der Weg ist, der in die geöffneten Arme der Heimat führt und an ihre atmende Brust. So war Esch fremd in seiner Liebe und doch mit dem Irdischen vertrauter als früher, so daß es nichts verschlug und eigentlich im Unirdischen blieb, wenn um der Gerechtigkeit willen noch manches Irdische für Ilona zu erledigen war. Er sprach mit Mutter Hentjen von dem freien Amerika und von dem Verkauf der Wirtschaft und von der Heirat wie mit einem Kinde, dem man gern seinen Willen tut, und manchmal konnte er sie nun wieder Gertrud nennen, mochte sie auch in den Nächten, da er in sie versank, ihm namenlos sein. Sie gingen Hand in Hand, gleichwohl ein jeder auf seinem andern und unendlichen Weg. Als sie dann geheiratet hatten, und die Wirtschaft um einen viel zu billigen Preis verschleudert worden war, da waren es Stationen auf dem Wege des Sinnbilds, dennoch Stationen auf dem Wege der Annäherung an das Höhere und Ewige, das man, wäre Esch kein Freigeist gewesen, sogar das Göttliche hätte nennen können. Aber er wußte trotzdem, daß wir hier auf Erden alle auf Krücken unsern Pfad zu gehen haben. |