BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carry Brachvogel

1864 - 1942

 

Die große Gauklerin.

Ein Roman aus Venedig

 

1915

 

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[162]

9.

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Die Zeit ging dahin, beladen mit Festlichkeiten. Niemals hätte Elisabeth geglaubt, daß sie im stande wäre, ein Leben zu führen, in dem es nichts gab als Routs, Bälle und Maskeraden. Es blieb keine Zeit für ein ernstes Buch, für ein nachdenkliches Gespräch, gerade nur, daß man ein paar Modejournale durchblättern und die wichtigsten Neuigkeiten aus der Zeitung ersehen konnte. An den Kopien, die sie dem Vater und den Brüdern zugedacht hatte, war noch kein Pinselstrich getan, denn das Licht in der Galerie war jetzt nur vormittags hell, und vormittags mußten die Priulis ausschlafen, die Nacht für Nacht spät nach Hause kamen und der Erholung bedurften für die Geselligkeit des kommenden Abends.

Zuerst fand Elisabeth an diesem Leben ein gewisses Gefallen. Diese schwarzen Gondeln, die unter nächtlichem Himmel dahinglitten und unter ihrem Baldachin geschmückte Frauen trugen, diese erleuchteten Paläste, die sich im Kanal spiegelten, diese Räume und Menschen voll Prunk und Tradition kamen ihr vor wie ein Bühnenbild, an dem sie selbst teilhaben durfte. Bald aber schwand diese ästhetische Freude vor einem leichten [163] Ueberdruß, vor einer Gewißheit, die sie von jedem dieser Feste heimbrachte. Es war wirklich alles nur Dekoration, alles nur Schaustück und Schein, dahinter nie ein wirklicher Wert sich barg, und es war immerfort das gleiche. Niemals, so sehr der Schauplatz auch wechseln mochte, traf sie einen neuen Menschen, ein neues Wort, einen neuen Gedanken. Es war immerfort der gleiche Kreis, in dem sie sich bewegte, die gleichen Flirts, der gleiche Klatsch und immerfort das gleiche, heftige Interesse für alle Liebesgeschichten, das ihr schon in den italienischen Romanen so wunderlich erschienen war.

Jetzt, im Leben, kam es ihr noch viel wunderlicher vor, weil ja Liebesgeschichten aller Art in dieser Gesellschaft zum Alltäglichen gehörten. Die jungen Mädchen freilich wurden mit fast orientalischer Strenge gehalten und bewacht, aber es gab kaum eine Frau, die nicht ihren allgemein bekannten Verehrer gehabt, kaum einen Ehemann, der ihn nicht höflich geduldet hatte, – was verschlug es also, ob die Marchesa X. mit dem Conte Z. flirtete oder mit dem Cavaliere Y.? Was für einen Unterschied machte es, wenn der Fürst Tassini einer Sängerin vom dal Verme-Theater statt einer Tänzerin vom Trocadero huldigte? Doch all diese Menschen um sie her schienen nichts anderes zu kennen als Liebe oder das, was sie eben Liebe nannten.

Diese Salons waren angefüllt mit Frauen, deren Leben aus Nichtigkeiten bestand, mit Männern, die ihre Tage vertrödelten, wie Ettore es tat. Selten nur traf [164] Elisabeth einen Mann, der im Beruf oder in Geschäften stand, wie etwa den Bankier Lissignolo, und auch er hätte wohl den größten Teil all dieser Feste versäumt, wenn er nicht um Eleonorens willen gekommen wäre. Bei den Frauen aber fand Elisabeth gar keine tieferen Interessen, nicht eine Spur von den großen Bewegungen, die daheim, in Deutschland, die Frauen erregten, zusammenschlossen und vorandrängten. So wenigstens schien es ihr, denn weil sie eine Fremde war, blieb sie auch den Menschen und Seelen fremd und konnte nur sehen, was auf der Oberfläche schwamm. So erschien ihr alles, was sie bis jetzt von Venedig kannte, leer und nichtig, und sie sehnte das Ende des Winters herbei, damit sie endlich leben konnte, wie es ihr gefiel, und nach so langer Zeit wieder an ihrer Staffelei sitzen, nach der sie sich schon sehnte wie nach einem verlornen Paradies.

Weder Ettore noch Eleonore verstanden, warum Elisabeth an der großen Geselligkeit kein dauerndes Gefallen fand. Sie neckten sie zuweilen ob ihrer Gründlichkeit und Schwere und freuten sich des Daseins wie Mädchen, die zum ersten Ball gehen. Ettore nahm alle geselligen Verpflichtungen so ernsthaft, als wären sie ein wichtiges Amt, und der Klatsch, den er aus den Salons oder vom Klub nach Hause brachte, erfüllte ihn wie ein beglückender Beruf. Elisabeth sah ihren Mann, hörte ihm zu und begriff ihn nicht. Viel eher begriff sie schon den Eifer der jungen Schwägerin, denn Eleonore schien sich mit jedem Fest merklicher dem Ziele [165] zu nähern, das ihr und ihrer Mutter als Lebensideal vorschwebte: der reichen Partie. Lissignolo hatte die Scheu überwunden, die ihn, den älteren Mann, zuerst von der jungen Schönheit ferngehalten hatte. Er stand jetzt schon immer lange, ehe die Priulis erschienen, unfern der Tür des Salons, sprach mit allen möglichen Menschen, blickte aber immer wieder verstohlen nach der Tür, durch die das geliebte Mädchen eintreten mußte. Er war beglückt, wenn sie ihm die Hand reichte, ihm zulächelte und ihm zeigte, daß sie sich lieber mit ihm unterhielt als mit den jungen Herren, die sie von ferne umkreisten. Er bemühte sich wohl, seine Huldigungen nicht gar zu auffallend zu machen, aber er schickte Eleonore herrliche Blumen und Bonbonnieren, lud die alte Gräfin mit der Tochter ins Theater ein, kurz, er machte seinen Hof zwar zurückhaltend, aber doch in aller Form, so daß die Familie seine Werbung für die nächste Zeit erwarten konnte. Eleonore war sehr zufrieden. Es kam ihr zuweilen vor, als ob sie schon jetzt das Leben führe, das sie stets ersehnt hatte. Sie lag tagsüber im Bett, stand erst gegen Abend auf, saß dann ungekämmt, vernachlässigt und müßig bei der Mutter, um mit ihr von der Zukunft zu sprechen, aber wenn die Nacht sank, schlüpfte sie in eines ihrer Seidenfähnchen, ließ sich das prächtige Haar kunstvoll frisieren und fuhr lachend ihrem ältlichen Verehrer entgegen. Oft sah Elisabeth sie forschend an und hätte gerne gewußt, ob das Mädchen seine Liebe völlig vergessen habe, oder [166] ob es nur Komödie spiele und der Vernunft nachgab. Aber weder aus Eleonore noch aus der alten Gräfin konnte sie klug werden; Eleonore sprach nie mehr ein Wort über den kleinen Leutnant, und auch die Gräfin erwähnte ihn nie mehr. Doch ihre Stimme blieb immer jammernd, auch wenn sie von dem Reichtum des künftigen Schwiegersohns sprach, und Elisabeth merkte, daß sie auch dem neuen Glück gegenüber ihr Mißtrauen nicht verlor.

„Wer kann sagen, wie alles gehen wird? Er ist so viel älter als Eleonore, das ist nicht gut, das ist wahrhaftig nicht gut!“

Im Frühsommer wurde dann Eleonore Braut. Das Haus Priuli strahlte vor Freude und Glück, und die Damen saßen tagaus, tagein in sehr anmutigen, glitzernden Sorgen, machten Notizen, häuften Bänder, Spitzen, Batist, Seide, liefen von einem Geschäft zum andern, schrieben an römische und Pariser Firmen. Wenn die Brautausstattung auch offiziell von der alten Gräfin geschenkt wurde, so wußten sie doch, daß Lissignolo später alle Rechnungen bezahlen würde, denn er hatte ausdrücklich gewünscht, daß Eleonore alles so reich und schön bekäme, wie es ihr gefiele, – sie brauchten sich also kein Gewissen zu machen, wenn sie von allem das Erlesenste wählten. Auch die Wohnung, die Lissignolo mit seiner ersten Frau bewohnt hatte, wurde ganz nach Eleonorens Wünschen hergerichtet, und der verliebte [167] Mann stellte ihr in Aussicht, daß er späterhin irgendeinen der kleinen Paläste kaufen wollte, die immer wieder zur Veräußerung kommen. Einstweilen, meinte er, genüge ja die Wohnung allen Ansprüchen, und für die mamma wollte er ein kleines, behagliches Appartement mieten, das im Hause frei wurde und durch eine Wendeltreppe mit der Wohnung der Lissignolos verbunden werden konnte. Eleonore war ganz zufrieden mit dem Haus ihres Verlobten, nur von dem Appartement für die Mutter schien sie wenig entzückt. Lissignolo fragte besorgt:

„Meinst Du, daß es ihr nicht gut genug ist?“

Eleonore warf die Lippen auf, zögerte ein wenig mit der Antwort:

„O, gut genug wohl, aber …“

„Was aber? Sage doch, Kind, was Du meinst!“

Eleonore ergriff den Arm ihres Bräutigams, schmiegte sich an ihn.

„Ich weiß nicht … Denk' nur, wenn Du es auch recht garstig findest, ich habe gar keine so große Freude davon, daß die mamma mit uns wohnen soll. Ich weiß doch, wie sie zu Anfang bei meinem Bruder gestört hat …“

Lissignolo lächelte beglückt. Er war dankbar, daß seine Braut darauf sann, mit ihm allein und ungestört zu bleiben. Weil er aber nicht mehr so jung wie sie und auch ein braver Mensch war, meinte er überredend:

„Sie wird uns nicht stören, liebe Liebste! Aber wo soll sie hin, wenn nicht zu uns? Es ist doch Deine Mutter, und die gehört zur Tochter eher als zum Sohn, als zu [168] einer fremden Frau. Und wenn sie auch mitunter da sein wird, wenn man sie gerade nicht wünscht, – ich bin so glücklich, daß ich Dich habe, daß ich drei böse Schwiegermütter willig in den Kauf nähme, geschweige denn die gute, alte Gräfin Priuli!“

Eleonore senkte die Augen. Sie war beschämt von der Güte dieses Mannes und hatte eine Sekunde lang das Verlangen, sich an seine Brust zu werfen, ihm zu sagen: „Halte mich, rette mich, sonst bin ich verloren!“ Es war aber nur eine Sekunde. Im nächsten Augenblick hob sie schon wieder die Augen, lachte und sagte fröhlich:

„Aber natürlich, Du hast ganz recht! Es war nur so eine Idee von mir!“

Das war gleich in den ersten Tagen nach der Verlobung. Im Laufe der Wochen, die nun folgten, wunderte sich Elisabeth zuweilen im stillen, daß gar nie ernsthaft von einer Uebersiedlung der alten Gräfin gesprochen wurde. Sie fragte Ettore einmal:

„Wird Deine Mutter nun bei uns wohnen bleiben, oder zieht sie zu Eleonore?“

Ettore zuckte die Achseln.

„Ich weiß nicht, ich denke wohl, daß sie zu den Lissignolos zieht, aber man kann sie doch nicht direkt fragen! Das sähe aus, als ob man sie vor die Türe setzen wollte. Warten wir's ab, in ein paar Monaten wird sich's von selber klären. L'Italia farà da sè!

Elisabeth, die jetzt schon immer nervös wurde, wenn er ganz sinnlos seinen Spruch zitierte, sagte nichts mehr. [169] Als sie aber an diesem Nachmittag zu ihrer Schwiegermutter kam, die gerade allein war, fing die alte Gräfin selbst von der Uebersiedlung zu sprechen an. Sie sah nicht freudig aus, eher bekümmerter noch als früher, und ihre Stimme jammerte, als wäre das Glück der Priuli nicht neu befestigt, sondern für immer verloren.

„Ja, das ist alles recht schön. Lissignolo ist auch ein guter Mensch, ein Kavalier … Aber hinziehen zu ihnen? Nun ja, wenn es sein muß, dann will ich's wohl tun, aber ich weiß schon, Eleonore hat keine große Freude davon, und ich auch nicht. Ich wahrhaftig auch nicht!“

Elisabeth tat die alte Frau leid, obgleich sie ihre trübe Stimmung nicht begriff. Sie meinte, die Gräfin fühle sich von Eleonore zurückgesetzt, sei eifersüchtig auf den Mann, der ihr plötzlich das Herz der Tochter abwendig machte, und sie wollte begütigen und die alte Frau erheitern:

„Du darfst das alles nicht so tragisch nehmen, liebe Mama! Eleonore hängt doch so sehr an Dir und wäre sicher sehr unglücklich, wenn sie sich von Dir trennen müßte. Aber nicht wahr, jetzt ist sie eben verlobt und, wie es scheint, auch verliebt, und da ist man wohl ein wenig rücksichtslos gegen alle andern Menschen … Aber sie liebt Dich doch ebenso wie früher, und Du wirst sehen, daß es wunderschön ist, wenn Du bei ihr wohnst …“

Die Gräfin schüttelte den Kopf, Tränen traten ihr in die Augen. Sie murmelte:

„Lisa, Du verstehst das nicht!“ Sie machte eine Pause, öffnete wieder die Lippen, als wollte sie mehr sagen, [170] etwas, was sie ängstigte und bedrängte, aber sie bezwang sich, schüttelte nochmals den Kopf und schwieg. Elisabeth streichelte ihr die runzligen Hände, nannte sie mit zärtlichen Worten, die sie über die vermeintliche Lieblosigkeit der Tochter forttrösten sollten. Nach einer Weile hub die Gräfin wieder an, sprach abgerissen, mehr zu sich, als zu der jungen Frau.

„Nein, Lisa, Du verstehst es wirklich nicht. Es ist alles ganz anders als Du meinst. Das ist nun einmal so mit den Kindern, wenn Du erst so alt bist wie ich, wirst Du's auch noch merken … Man sorgt und denkt sein ganzes Leben lang nur für sie, und wenn sie dann groß sind, hat man nichts von ihnen als Kummer und Undank …“

„Aber, Mama, Ettore macht Dir doch wirklich keinen Kummer und hängt so sehr an Dir, daß ich früher beinahe eifersüchtig auf Dich war! Und auch Eleonore –“

Aber die Gräfin beharrte.

„Kummer und Undank, – das ist alles, was sie einem geben. O, man ist nicht umsonst eine Priuli! Die Priuli haben kein Glück mehr! Sie dürfen anfangen, was sie wollen, alles wendet sich zum Schlechten! Du wirst es später noch an Dir und Deinen Kindern sehen!“

Elisabeth schrie auf.

„Sag' solche Sachen nicht, ich kann sie nicht anhören! Wir sind doch alle glücklich, – warum sollte sich auf einmal alles wenden und zum Unglück werden! Du bist zu pessimistisch, Du bist es wohl durch vieles Unglück geworden, [171] aber sprich nicht davon, ich bitte Dich, sprich nicht mehr so, es ist zum Verzweifeln, wenn man Dir zuhört!“

Die Gräfin sah mit abwesenden Blicken auf die junge Frau.

Poverina, nimm Dir meine Worte nicht weiter zu Herzen, vielleicht bist Du die erste Priuli, die wieder Glück hat; ich hab's nicht gehabt und niemand von uns!“

Sie schwieg wieder eine Weile, sagte dann unvermittelt, fast bettelnd:

„Lisa, wenn ich nur hierbleiben dürfte! Ich mag nicht zu den Lissignolos! Behaltet mich hier, Lisa, ich will Dich auch gewiß nicht mehr mit meinen dummen Reden ängstigen. Denk' nur immer, daß ich eine alte, geschlagene Frau bin, und laßt mich in Gottes Namen hier!“

Elisabeth war von der demütigen Bitte so überrascht und gerührt, daß sie nichts weiter fragte. Sie umschlang die alte Frau und entgegnete aus ehrlichem Herzen:

„Selbstverständlich bleibst Du bei uns, wenn es Dir lieber ist. Vielleicht ist es ganz gut, wenn man die Neuvermählten zu Anfang sich selber überläßt! Es ist wohl nicht gar so leicht, die zweite Frau eines älteren Mannes zu werden, und Eleonore dankt Dir's gewiß noch, wenn Du sie jetzt allein läßt! Bleibe bei uns, wir sind beide sehr zufrieden, wenn Du Dich bei uns behaglich fühlst!“

Die alte Gräfin entgegnete nichts. Sie hatte das Gesicht dem Fenster zugewendet, damit Elisabeth nicht sehen sollte, wie es von Sorgen zerwühlt und von [172] Tränen überströmt war. Die junge Frau sah aber doch an den zuckenden Schultern, daß die Gräfin weinte. Da stand sie leise auf und ging, weil sie dachte, daß es unzart wäre, eine Mutter zu stören, die über ihre Tochter weint.

Die Hochzeit war für Oktober festgelegt. Jeder hatte den Wunsch, die Feierlichkeit auf einen ganz kleinen Kreis zu beschränken. Lissignolo, der schon verheiratete Kinder hatte, war zufrieden, daß seine Braut nicht auf einem Hochzeitsfest bestand, zu dem ganz Venedig vor und in der Kirche zusammenlief, die Priulis wiederum wollten kein großes Aufsehen und keine anstrengenden Festlichkeiten, weil Elisabeth ein zweites Kind erwartete und mehr unter ihrem Zustand litt als das erste Mal. Man lud also von beiden Seiten nur die nächsten Verwandten ein, die Kinder Lissignolos und Carlo Priuli, weil er den Namen trug und fast Haus an Haus mit der Familie der Braut wohnte. Ettore hatte zwar gemeint, daß man von ihm absehen könne, denn er sei doch gar nicht sehr nahe verwandt und habe sich auch nie sehr verwandtschaftlich gezeigt oder benommen, aber Elisabeth meinte, daß er doch einmal zur Familie gehöre, und weil auch die alte Gräfin und Eleonore diese Meinung teilten, gab Ettore nach und lud Carlo ein. Wenn Ettore behauptete, daß sein Vetter sich nicht sonderlich verwandtschaftlich benahm, so hatte er insofern recht, als Carlo mit seinen Verwandten nur einen oberflächlichen Verkehr unterhielt. Denn Carlo hatte Ettore nie besonders gemocht und für verliebte Gänse (wie er [173] Elisabeth im stillen nannte) gar kein Interesse. Er kam wohl ab und zu, sah das junge Paar da und dort in Gesellschaft, und da Elisabeth ihm immer ein heiteres Gesicht zeigte, meinte er, daß sie wirklich genau so töricht sei, wie sie ihm erschienen war, da er sie zuerst kennen lernte. Gegen Ende des Winters wollte es ihm freilich etliche Male scheinen, als ob ihr Gesicht, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, müde und unzufrieden aussah, und er hatte dann wohl gedacht:

„Aha, sie merkt endlich, an wen sie sich gebunden hat!“

Kaum aber hatte er's gedacht, so kam er sich schon sentimental vor und spottete sich selbst aus, daß er für den Ausdruck verborgener Empfindungen nahm, was vermutlich nur Festmüdigkeit war. Als er dann noch hörte, daß bei Priulis abermals ein freudiges Ereignis bevorstand, nannte er sich selbst einen Esel und nahm sich fest vor, sich nie mehr auf die Psychologie junger Frauen einzulassen, weil ein Junggeselle sich damit doch nur blamieren konnte.

Es war am Abend vor der Hochzeit. Im Hause Priuli war schon alles still und dunkel, denn man hatte von einer festlichen Veranstaltung für diesen Abend abgesehen. Ettore war wie jeden Abend so auch heute im Klub, die Gräfin und Eleonore hatten sich längst schlafen gelegt, und auch von der Dienerschaft war kaum mehr einer wach, denn Ettore liebte es nicht, daß man seine Heimkehr erwartete. Elisabeth hatte sich sehr [174] früh zu Bett gelegt, um für die Strapazen des kommenden Tages auszuruhen. Sie lag wachend da, versuchte allerlei harmlose Mittel, um einzuschlafen, zählte, stellte sich ein unablässig wogendes Kornfeld vor, sagte sich allerlei Gedichte her, über denen sie sonst einschlief, aber gerade heute, wo sie die Ruhe so sehr ersehnte, wollte nichts helfen. Sie warf sich von einer Seite auf die andere, fand, daß es im Zimmer unerträglich heiß sei, spürte, wie ihr Herz hastiger und lauter klopfte, und sprang schließlich aus dem Bett, um die Fenster zu öffnen. Da drang eine weiche, von sanftem Duft erfüllte Luft herein, daß die junge Frau sie entzückt einschluckte, als wär's ein Trunk frischen Bergwassers, und am offenen Fenster stehen blieb, um die Kühle zu genießen und hinunterzusehen auf den kleinen, schwarzen Kanal, der so dunkel dalag, daß er nicht einmal das Sternenlicht wiedergab, das vom Himmel auf ihn niederfiel.

Elisabeth stand und sah hinaus, obgleich es um diese Stunde hier nichts zu sehen gab. Weit und breit keine Gondel und kein Ruderschlag, verträumt spannte die schmale Eisenbrücke, die ihn überdachte, ihren Bogen über den kleinen Kanal hin, schweigend lagen die Häuser, die ihn besäumten, und auf den Stufen, die zum Wasser hinunterführten, oder auf dem schmalen Pflasterrand, der hier und da zu einem Gäßchen umbog, erging sich niemand als da und dort der Schatten einer Katze. Ganz still und ganz menschenleer war's ringsum, nur jetzt huschte eine weibliche Gestalt um die Ecke der kleinen [175] Gasse, an der die Bank von San Marco lag. Sie trug das große, schwarze Fransentuch der Frauen aus dem Volk, ging aber nicht barhäuptig mit zierlich frisiertem Haar, wie diese es tun, sondern hatte den Kopf und auch fast das ganze Gesicht mit einem dichten Schleier umwunden, so daß nur die Augen hervorsahen, um den richtigen Weg zu erspähen. Die Beleuchtung hier war sehr schlecht, ein Erkennen der Gesichtszüge nur in nächster Nähe möglich, aber dennoch blickte die Gestalt immer wieder nach allen Seiten scheu um, suchte auch mit prüfender Angst den Palazzo Priuli ab, als fürchtete sie, daß jemand ihr nachgegangen sei oder sie erwarte. Elisabeth, die sie zuerst nur für einen Nachtvogel gehalten hatte, wurde durch das seltsame Gebaren aufmerksam, und wie die Gestalt jetzt leichtfüßig und schnell, aus dem Dunkel der Häuser heraustretend, die kleine Brücke hinanlief, beugte sich Elisabeth weiter aus dem Fenster, um ihr ins Gesicht zu sehen. In diesem Augenblick hob die Frau auf der Brücke den Kopf voll empor, ahnte mehr als sie unterscheiden konnte, daß da jemand am Fenster stand und sie ausspähte. Sie zögerte eine Sekunde, überlegte wohl blitzschnell, ob sie den Weg, den sie eben gekommen war, wieder zurücklaufen sollte, machte dann, wie um sich Mut einzuflößen, eine trotzige Bewegung mit den Schultern und lief auf der andern Seite der Brücke hinab, dem schmalen Steinrand zu, der um den Palast herum zu einer Hintertüre für Dienstboten und Lieferanten führte. [176]

Elisabeth stand und traute noch immer ihren Augen nicht. Schon gleich zu Anfang hatte sie gemeint, die Gestalt zu erkennen, hatte sich aber lächerlich und phantastisch gescholten und eben darum mit um so größerer Aufmerksamkeit verfolgt, als was sich die Frau da unten schließlich ausweisen würde. Nun aber, seit sie, beglänzt vom Sternenlicht, zögernd auf der Brücke gestanden war, um schließlich den Weg zu der Hinterpforte so sicher zu nehmen, wie nur jemand, der den Palazzo genau kannte, nun war kein Zweifel mehr möglich. Elisabeth begriff später niemals, daß sie in jenem Augenblick sich gar nicht mit Empfindungen oder Reflexionen abgab, sondern nur dachte:

„Was aber, wenn die Hinterpforte abgeschlossen ist? Dann muß sie jemand herausläuten, und wir haben morgen, am Hochzeitstag, den Skandal!“

Sie ging vom Fenster weg über den Korridor auf die Treppe zu, beugte sich über das Geländer, um zu hören, ob drunten ein Schlüssel vorsichtig eingesteckt würde und sich drehte.

Sie wagte nicht, Licht zu machen, um nicht durch den hellen Schein irgend jemand zu wecken, fürchtete auch, daß sie die Gestalt, die draußen stand, am Ende verscheuchen und zu unberechenbarem Beginnen treiben könnte. Sie horchte, atmete auf, als jetzt ein ganz leiser Schritt die Treppe im Dunkel heraufhuschte, und hatte doch die Kehle zugeschnürt vor Angst und Erregung. Als die Gestalt die schwere Pforte leise wieder ins Schloß [177] gelegt hatte, knipste Elisabeth das Licht auf. Ein halb unterdrückter Schrei, eine Bewegung zur Flucht. – Und Elisabeth, obwohl sie doch genau wußte, wer da stand, fragte, als könne sie's noch immer nicht glauben:

„Du, Eleonore? Wo kommst Du her?“

Eleonore blieb, durch die Treppe von der Schwägerin getrennt, stehen. Jetzt, im elektrischen Licht, sah Elisabeth, daß das Mädchen totenbleich und erregt war, daß unter dem Schleier ihr Haar zerwühlt und nur flüchtig aufgesteckt hing, während in ihren dunklen Augen ein seltsamer, verträumter Glanz lag. Sie zog das schwarze Fransentuch fester um sich, wie sonst ihren Schlafrock, warf den Kopf zurück, preßte die Lippen aufeinander und sah über die Treppe hinauf herausfordernd die Schwägerin an.

Elisabeth winkte sie heran.

„Komm herauf, Eleonore, komm in mein Zimmer. Wir wollen nicht hier stehen bleiben, wo uns jeden Augenblick ein Dienstbote überraschen kann!“

Eleonore entgegnete nichts. Sie folgte Elisabeth, die ihr voranschritt, und wußte selbst nicht, warum sie ging, wohin die andere wollte. In Elisabeths Zimmer stand Eleonore in derselben Haltung an der geschlossenen Tür, wie sie vorhin unten an der Treppe gestanden war. Elisabeth, die sich nicht mehr auf den Füßen halten konnte, ließ sich in einen Stuhl fallen, drückte die Handflächen gegeneinander und fragte noch einmal leise, angstvoll, als scheue sie die Antwort. [178]

„Wo kommst Du her?“

Eleonore reckte sich in die Höhe.

„Ich bin Dir keine Rechenschaft schuldig!“

„Rechenschaft nicht, aber – aber – –“

Die junge Frau wirkte so hilflos und eigentlich so bedauernswert, daß Eleonore sich selbst und alles, was in diesen letzten Stunden geschehen war, mit ungestümer Lebensfreude empfand. Und nicht als ob sie von Unrecht, sondern von Triumph berichtete, brach es aus ihr hervor, wie ein ungestümes Bekenntnis der Lust und der Leidenschaft:

„Gut, ich will Dir sagen, wo ich gewesen bin. Bei meinem Schatz bin ich gewesen, bei meinem Herzliebsten, den ich nicht lassen werde, heut' nicht und morgen nicht und niemals auf der Welt!“

Elisabeth schlug entsetzt die Hände zusammen.

„Um Gott, Eleonore, und Du willst Lissignolo heiraten! Du schämst Dich nicht, den einen Mann zu heiraten und die Geliebte eines andern zu sein?“

Eleonore schüttelte den Kopf und lachte. Es war ein Lachen, das bitter klang und weh tat.

„O nein, Du Siebengescheite! Bis heute bin ich nicht seine Geliebte gewesen, denn ein Mädchen soll geizig mit sich sein und sich nicht verschenken! Aber weil ich morgen Lissignolo gehöre, bin ich heute zu meinem Schatz gelaufen und habe ihm heute noch geschenkt, was ich ihm übermorgen nicht mehr hätte schenken können. Glückselig sind wir gewesen ein paar Stunden lang, und was auch jetzt [179] noch kommen mag, die paar armseligen Stunden voll Glück kann mir kein Mensch mehr nehmen!“

Wie in einer Flamme von Leidenschaft und Hingebung stand das Mädchen da. Bewegt sah Elisabeth sie an, hätte ihr kein hartes Wort mehr sagen können. Sie fragte nur leise:

„Und er? Er hat Dich wieder gehen lassen? Er hat Dich nicht gehalten und alles auf sich genommen, nachdem Du so, so zu ihm gekommen bist?“

Vor dem weichen Ton, in dem Elisabeth sprach, brach sich des Mädchens Auflehnung. Ihre Stimme zitterte, als sie entgegnete:

„O nein, so ist er nicht! Aber glücklich waren wir deswegen doch … Und wenn Du Lissignolo etwas sagst, dann –“

Elisabeth schüttelte müde den Kopf.

„Ich sage nichts, Du brauchst keine Angst zu haben. Du tust mir nur schrecklich leid, so leid, wie ich es Dir gar nicht sagen kann. Und ich möchte Dich auf den Knien bitten: Laß diese unselige Sache mit heute abgetan sein! Versuch's, in Deiner Ehe glücklich zu werden, und hänge weiter keine Gedanken an einen Menschen, der's nicht wert ist, daß er Dir die Schuhbänder löst!“

Eleonore, die sich jetzt wieder gefaßt hatte, sah, daß ihr Spiel gewonnen war, und hielt es darum für klug, ein wenig einzulenken.

„Selbstverständlich ist mit heute alles zu Ende! Ich hätt's nur nicht ertragen, wenn ich ihm nie ganz gehört [180] hätte, nun ist's vorbei, nun will ich Dir folgen und versuchen, so gut es geht, aus meinem Leben noch etwas herauszuholen. Aber Du schweigst, nicht wahr?“ setzte sie mit nochmals aufsteigender Angst hinzu. Elisabeth nickte. Eleonore umarmte und küßte sie.

„Gute Nacht, Lisa, ich bin furchtbar müde und will mich ausschlafen.“

Fort war sie. Elisabeth legte sich wieder zu Bett, konnte aber kein Auge zutun. Unablässig hörte sie wieder das leidenschaftliche Geständnis des Mädchens und die Worte: „Ich lass' ihn nicht heute, nicht morgen und niemals auf der Welt!“ Freilich, das war vielleicht im Ueberschwang gesprochen, und Eleonore hatte ja auch gelobt, daß mit der heutigen Nacht alles zu Ende sein sollte. Hatte es gelobt, hatte vielleicht auch den Willen dazu, aber Elisabeth fragte sich doch voll Bangen, wie die Ehe, die morgen eingesegnet wurde, wohl gehen würde. Ihr Verstand gab eine Antwort, die ihr Herz nicht glauben wollte.