BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Irmgard Bock

* 1937

 

Religion und Politik - ein Versuch

 

2007/2021

 

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6. Religion und Politik im Bereich der Schule

 

Als ein Beispiel das die Problematik verdeutlichen soll, kann die Frage der Bildung herangezogen werden. Allgemeine Bildung im Sinne von Bildung für alle ist ein Anliegen des Staates und der Religionsgemeinschaften bzw. weltanschaulichen Gruppierungen, die Inhaltlichkeit, das wurde oben schon angesprochen, darf sich nicht widersprechen, sondern muss sich im Idealfall ergänzen. Der moderne Bildungsbegriff im Sinne der Mündigkeit und Selbstbestimmung hat wie die Ethik weitgehend religiöse Wurzeln, und selbst die Einführung der allgemeinen Schulpflicht ist nicht nur auf die Interessen der Herrschenden zurückzuführen, sondern auch auf den deutschen Protestantismus. Seine Betonung des Worts und der Predigt setzt Kenntnis des Worts und den Umgang mit den Schriften voraus. Dass Luther schon vor der Aufklärung einen allgemeinen Unterricht für alle gefordert hat, ist nur konsequent.

Wenn das stimmt, dann ist die Frage nach der Gestaltung des Religionsunterrichts ein wichtiges Kriterium für die jeweilige Zusammenarbeit in beiden Praxen. Bei den Pla­nungen Europas hatten bildungspolitische Fragen keinen besonderen Stellenwert. Sie tauchen erstmals im „Vertrag über die Europäische Union“, den sog. Maastrichter Ver­trägen (1992) in Artikel 3b, 126, 127 ausdrücklich auf, und der Akzent wird auf die För­derung einer qualitativ hochstehenden Bildung und die Vergleichbarkeit der Abschlüsse gelegt. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass die Bildungshoheit bei den Mitglieds­ländern verbleibt bzw. wie in der Bundesrepublik bei den einzelnen Bundesländern. Zusammenarbeit wird begrüßt. Harmonisierung ausdrücklich abgelehnt. 1993 wird in der Empfehlung 1202 des Europarats dann besonders auf Toleranz, gegenseitigen Respekt und Menschenwürde 1) hingewiesen, die in allen drei monotheistischen Religionen grund­gelegt seien. Als Konsequenz ist die Frage des Religionsunterrichts in den verschiedenen Mitgliedsländern unterschiedlich gelöst worden. Grundlage waren nicht nur unterschied­liche Traditionen, sondern auch Einzelverträge zwischen Staat und Kirchen.

Auch heute besteht ein Bildungsanspruch auf beiden Seiten. Gefordert werden reli­giöse und politische Bildung. 2) In unserer Gesellschaft hat der Staat das Unterrichts­monopol. Es besteht staatliche Schulpflicht, sog. freie Schulen bedürfen der Anerkennung durch den Staat. Die Kirchen haben dagegen den staatlich garantierten Anspruch auf Unterweisung in ihren Lehren, aber keine Institutionen, die pflichtgemäß besucht werden müssen. Die sog. Katechese, d.h. die Hinführung zu einem Glauben im Unterschied zum Religionsunterricht, ist eine Unterweisung, die freiwillig besucht und von den Reli­gionsgemeinschaften in eigener Verantwortung geleistet wird. In laizistischen Staaten wie Frankreich gibt es ein gut ausgebautes Privatschulwesen, eine Information über die verschiedenen Religionen gibt es praktisch überall. Bei uns ist das Problem so gelöst, dass der Religionsunterricht (der großen christlichen Konfessionen) in den Schulen garantiert wird. 3) Daneben besteht als Folge der zunehmenden Säkularisation aber auch der Ethikunterricht, den man als Derivat des Religionsunterrichts ansehen kann, der aber neben dem Religionsunterricht auch im Interesse des Staates ist.

Die Muslime, die inzwischen die drittgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland sind, können nach Art 7,3 GG ebenfalls eine schulische religiöse Unterweisung ihrer Kinder einfordern. Die Frage des Islamunterrichts wird in den verschiedenen Bundes­ländern unterschiedlich gehandhabt 4) und weiter – in den Ländern unterschiedlich – dis­kutiert, was bedeutet, dass zwar Religion als für die Erziehung und Bildung notwendiges Fach anerkannt wird, nicht aber mehr vom Christentum in seinen verschiedenen Ausprä­gungen allein ausgegangen wird. Die Kirchen legen Wert darauf, dass ein islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen denselben Bedingungen unterworfen sein müsse wie ein christlicher: Deutsch als Unterrichtssprache, in Deutsch­land ausgebildete Lehrer, genehmigte Lehrpläne. Unterrichtsmaterialien usw.

Auch der Religionsunterricht hat sich in seinen Zielen vielfach verändert. Gründe sind die zunehmende Säkularisierung der Bevölkerung der einzelnen europäischen Staaten, die Wanderungsbewegungen, die eine Durchmischung der Bevölkerung mit Menschen ganz anderer Religionen und kultureller Traditionen gefördert haben, aber auch eine Reli­gionspädagogik, die verstärkt zur Kenntnis nimmt, dass „die Aneignung von Religion und Glaube vermehrt subjektive Leistungen erfordert und nicht mehr in erster Linie über vermittelte Tradition erfolgt“. 5) Kinder und Jugendliche kennen die multikulturelle Viel­falt oft eher als das sog. Eigene und müssen lernen, dieses in Auseinandersetzung mit dem sie Umgebenden zu gewinnen. 6)

Der Religionsunterricht spiegelt die Entwicklung in den einzelnen Staaten wider. Man kann festhalten, dass je stärker der Einfluss des Staates ist, umso mehr wird der Reli­gionsunterricht zu einer kulturellen und ethischen Unterweisung oder verstärkten Wissensvermittlung. Menschenrechte und Toleranz stehen ganz hoch auf der Skala der zu realisierenden Werte, und die Verbindung zu den multikulturellen Erfahrungen der Schüler wird immer wieder betont. Das entspricht eher den Bedürfnissen derjenigen, die sich von den Institutionen der Religionsgemeinschaften entfernt haben, während die Bedürfnisse derjenigen, die fest an eine solche gebunden sind, eher über Privatschulen befriedigt werden. Insofern kann man behaupten, dass die Religionen zwar in der öffentlichen Erziehung durchaus präsent sind, dass jedoch eine starke Tendenz zur Interkulturalität besteht. Religionsunterricht, der sich nur einer Religion oder Konfession zuwendet und nicht Verständigungsfähigkeit zu fördern sucht, wird eher abgelehnt.

 

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1) Vgl, Wittenbruch, Wilhelm (1998): „Christentum und Europa“ – Schulpädagogische Anmerkungen zu einer „delikaten“ Verbindung und einem „schwierigen“ Unterrichtsthema. In: Kirche und Schule, 24. Jg./1998, Nr. 107, S. 1-14. 

2) Das Interesse des Staates an der Bildung zeigt sich besonders deutlich an den Umerziehungs­bemühungen der Besatzungsmächte nach 1945. Zu rechtlichen Fragen bezüglich des Religionsunterrichts in Deutschland vgl. Lott, Jürgen (2006): Religionsunterricht in Deutschland. In: Religion – Staat – Bildung. Jahrbuch für Pädagogik 2005. Frankfurt u.a.O.: Peter Lang, S. 143-162. 

3) Die sog. „hinkende Trennung von Kirche und Staat“ umfasst nicht nur die Garantie des Religions­unterrichts in den Pflichtschulen, sondern auch die Militärseelsorge und das Kirchensteuerwesen. 

4) Vgl. Schreiner, Peter (1997): Islamischer Religionsunterricht in der Diskussion – Deutschland. In: Schreiner, Peter/Spinder, Hans (Hrsg.): Identitatsbildung im pluralen Europa. Perspektiven für Schule und Religionsunterricht. Münster u.a.O.: Waxmann, S. 131-141. 

5) Schreiner. Peter/Spinder, Hans (1997): Einleitung, In: Dies. (Hrsg.): a.a.O., S. 1-5; 4.  

6) Vgl. Gossmann, Klaus (1997): Identität und Identitätsbildung. In: Schreiner, Peter/Spinder, Hans (Hrsg.): a.a.O., S. 9-16;12.