BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Irmgard Bock

* 1937

 

Religion und Politik - ein Versuch

 

2007/2021

 

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2. Institutionalisierungen

 

Menschen sind lernende Wesen, die ihre Erfahrungen mittels der Sprache an die nächste Generation weitergeben. Das heißt, sowohl die Weisen des Tuns als auch die Ergebnisse gehen nicht mit dem Individuum verloren, sondern werden „aufgehoben“ in dem Sinne, den Hegel meinte: nicht negiert, sondern verwahrt, auf eine höhere Stufe transferiert. Auch Derbolav betont, dass die Praxen „im Hinblick auf ihre historische Kontinuität einen Lehrzusammenhang, im Hinblick auf ihr Leistungsniveau eine Art professionelles Bewußtsein entwickeln“. 1)

Dies geschieht auf der einen Seite durch immer wiederholte Abläufe (Rituale), in denen das Gemeinte gegenwärtig ist, und auch durch Zusammenschlüsse der Individuen: Es entstehen Institutionen und Interessenverbände. Für die religiöse Praxis sind das Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften, die eine Strukturierung mit unter­schiedlichen Schwerpunkten aufweisen, für die Politik Parteien, Arbeitgeber­verbände, Gewerkschaften, um nur wenige zu nennen. Sie haben auf der einen Seite eine Entlastungsfunktion, schränken auf der anderen aber auch die Freiheit des Einzelnen in gewisser Weise ein. Ein guter Sportler wird durch seine Mitgliedschaft in einem Verein unterstützt und gefördert, er kann aber ohne eine solche Mitgliedschaft und das Erreichen bestimmter Leistungsziele, die von Funktionären festgesetzt werden, auch niemals an olympischen Spielen teilnehmen.

Institutionen sind auf Dauer angelegt und haben ein Interesse daran, neue Mitglieder zu gewinnen. Das tun sie durch die sog. Nachwuchsförderung. Es gibt nicht nur die allgemeine Schulpflicht, die sich auf alle Praxen beziehen muss, sondern auf dieser Grundlage auch Religionsunterricht. Während von der Politik nicht nur eine Einführung in das Wissen einer Zeit gefordert wird, sondern auch politische Bildung, hat der Religionsunterricht die Einführung in die Glaubenswahrheiten und die Übermittlung der mit ihnen tradierten ethischen Grundeinstellungen zum Ziel, die letztlich auch das Weiterbestehen der politischen Praxis garantieren – in der Form, wie wir sie heute für richtig halten.

 

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1) Derbolav. Josef (1975): a.a.O., S. 91.