BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Walter Benjamin

1892 - 1940

 

Einbahnstraße

 

1928

 

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REISEANDENKEN

 

 

ATRANI. Die sacht ansteigende geschweifte Barocktreppe zur Kirche. Das Gitter hinter der Kirche. Die Litaneien der alten Frauen beim Ave Maria: Einschulung in die erste Sterbeklasse. Wenn man sich umwendet, grenzt dann die Kirche wie Gott selber ans Meer. Allmorgendlich bricht die christliche Ära den Fels an, aber zwischen den Mauern darunter zerfällt immer wieder die Nacht in die vier alten römischen Viertel. Gassen wie Luft­schächte. Auf dem Marktplatz ein Brunnen. Am Spätnachmittag Weiber herum. Dann einsam: archaisches Plätschern.

 

MARINE. Die Schönheit großer Segelschiffe ist einziger Art. Denn sie sind nicht allein in ihrem Umriß durch Jahrhunderte unver­ändert geblieben, sondern erscheinen in der unwandelbarsten Landschaft: auf der See gegen den Horizont abgehoben.

 

VERSAILLES FASSADE. Es ist, als habe man dies Schloß verges­sen, wo man es vor so und soviel hundert Jahren Par Ordre Du Roi nur auf zwei Stunden als das Versatzstück einer Féerie hingestellt hat. Von seinem Glanz behält es nichts für sich, es gibt ihn ungeteilt an jene [53] königliche Lage, die mit ihm abschließt. Vor diesem Hintergrund wird sie zur Bühne, auf der die absolute Monarchie als allegorisches Ballett tragiert ward. Doch heute ist es nur die Wand, deren Schatten man aufsucht, um den Fernblick ins Blau zu genießen, das Le Nôtre erschuf.

 

HEIDELBERGER SCHLOSS. Ruinen, deren Trümmer gegen den Himmel ragen, erscheinen bisweilen doppelt schön an klaren Tagen, wenn der Blick in ihren Fenstern oder zu Häupten den vorüberziehenden Wolken begegnet. Die Zerstörung bekräftigt durch das vergängliche Schauspiel, das sie am Himmel eröffnet, die Ewigkeit dieser Trümmer.

 

SEVILLA ALCAZAR. Eine Architektur, die dem ersten Zuge der Phantasie folgt. Sie ist durch praktische Bedenken ungebrochen. Nur Träume und Feste, deren Erfüllung, sind in den hohen Gemächern vorgesehen. Darinnen werden Tanz und Schweigen Leitmotiv, weil alle menschliche Bewegung vom stillen Getümmel des Ornamentes eingesogen wird.

 

MARSEILLE KATHEDRALE. Auf dem menschenleersten, son­nigsten Platz steht die Kathedrale. Hier ist es ausgestorben, trotzdem im Süden, zu ihren Füßen, La Joliette, der Hafen, im Norden ein Proletarierviertel dicht anstößt. Als Umschlagplatz für ungreifbare, undurchschaubare Ware steht da das öde Bauwerk zwischen Mole und Speicher. An vierzig Jahre hat man darangesetzt. Doch als dann 1893 alles fertig war, da hatten Ort und Zeit an diesem Monument sich gegen Architekten und Bauherrn siegreich verschworen und aus den reichen Mitteln des Klerus war ein Riesenbahnhof entstanden, der nie-[54]mals dem Verkehr konnte übergeben werden. An der Fassade sind die Wartesäle im Innern kenntlich, wo Reisende I.–IV. Klasse (doch vor Gott sind sie alle gleich), eingeklemmt wie zwischen Koffer in ihre geistige Habe, sitzen und in Gesangbüchern lesen, die mit ihren Konkordanzen und Korrespondenzen den internationalen Kursbüchern sehr ähnlich sehen. Auszüge aus der Eisenbahn­verkehrsordnung hängen als Hirtenbriefe an den Wänden, Tarife für den Ablaß auf die Sonderfahrten im Luxuszug des Satan werden eingesehen und Kabinette, wo der Weitgereiste diskret sich reinwaschen kann, als Beichtstühle in Bereitschaft gehalten. Das ist der Religionsbahnhof zu Marseille. Schlafwagenzüge in die Ewigkeit werden zur Messezeit hier abgefertigt.

 

FREIBURGER MÜNSTER. Mit dem eigensten Heimatgefühl einer Stadt verbindet sich für ihren Bewohner – ja vielleicht noch für den verweilenden Reisenden in der Erinnerung – der Ton und der Abstand, mit dem der Schlag ihre Turmuhren anhebt.

 

MOSKAU BASILIUS-KATHEDRALE. Was die byzantinische Madonna im Arm hat ist nur eine hölzerne Puppe in Lebens­größe. Ihr Schmerzensausdruck vor einem Christus, dessen Kindsein nur angedeutet, nur vertreten bleibt, ist intensiver, als sie je mit einem lebenswahren Knabenbilde ihn zur Schau tragen konnte.

 

BOSCOTRECASE. Vornehmheit der Pinienwälder: ihr Dach ist ohne Verflechtungen gebildet.

 

NEAPEL MUSEO NATIONALE. Archaische Statuen tragen im Lächeln das Bewußtsein ihres Leibes dem Betrachter entgegen wie ein Kind die frisch gepflückten [55] Blumen ungebunden und zerstreut uns entgegenhebt, während die spätere Kunst strenger die Mienen schürzt, gleich dem Erwachsenen, der mit schneidenden Gräsern den dauernden Strauß flicht.

 

FLORENZ BAPTISTERIUM. Auf dem Portal die „Spes“ Andrea de Pisanos. Sie sitzt und hilflos erhebt sie die Arme nach einer Frucht, die ihr unerreichbar bleibt. Dennoch ist sie geflügelt. Nichts ist wahrer.

 

HIMMEL. Im Traume trat ich aus einem Hause und erblickte den Nachthimmel. Ein wildes Glänzen ging von ihm aus. Denn, ausgestirnt wie er war, standen die Bilder, nach denen man Sterne zusammenfügt, in sinnlicher Gegenwart da. Ein Löwe, eine Jungfrau, eine Wa[a]ge und viele andere starrten, als dichte Sternhaufen, auf die Erde herunter. Kein Mond war zu sehen.