BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Wilhelm Windelband

1848 - 1915

 

Geschichte und Naturwissenschaft

 

1894

 

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Geschichte und Naturwissenschaft.

Rede zum Antritt des Rektorats

der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg

gehalten am 1. Mai 1894

 

Hochansehnliche Versammlung!

Es ist ein wertvolles Vorrecht des Rektors, dass er am Stifungsfeste der Universität das Ohr ihrer Gäste und ihrer Mitglieder für einen Gegenstand aus dem Umkreise der von ihm vertretenen Wissenschaft in Anspruch nehmen darf: die Pflicht aber, welche diesem Recht ent­spricht, verwickelt den Philosophen in ganz besondere Bedenken. Freilich ist es für ihn verhältnismässig leicht ein Thema zu finden, das mit Sicherheit auf allgemeines Interesse rechnen kann. Aber dieser Vorteil wird bedeutend durch die Schwierigkeiten überwogen, welche die Eigenart der philosophischen Untersuchungsweise mit sich bringt. Alle wissenschaftliche Arbeit ist darauf gerichtet, ihren besonderen Gegenstand in einen weiteren Kreis zu rücken und die einzelne Frage aus allgemeineren Gesichtspunkten zu entscheiden. Soweit steht es mit der Philosophie nicht anders als mit den übrigen Wissenschaften: aber während die letzeren mit einer für die Spezialforschung genügenden Zuverlässigkeit solche Prinzipien als fest und gegeben behandeln dürfen, ist es für die Philosophie wesentlich, dass ihr eigentliches Untersuchungsobjekt eben die Prinzipien selbst sind, dass sie also ihre Entscheidungen nicht aus einem Allgemeineren ableiten kann sondern jedesmal im Allgemeinsten selber zu bestimmen hat. Für die Philo­sophie gibt es streng genommen überhaupt keine Spezialuntersuchung; jedes ihre Sonderprobleme dehnt seine Linien von selbst in die höchsten und letzten Fragen aus. Wer über philosophische Dinge philosophisch reden will, muss allemal den Mut haben, im ganzen Stellung zu nehmen, und er muss auch den schwerer zu bewahrenden Mut haben, seine Zuhörer auf das hohe Meer allgemeinster Überlegungen hinauszuführen, wo dem Auge wie dem Fuss das feste Land zu entschwinden droht.

Durch solche Bedenken könnte der Vertreter der Philosophie sich wohl ersucht finden, entweder nur ein historisches Bild aus seiner Wissenschaft zu zeichnen oder seine Zuflucht zu der besonderen Er­fahrungswissenschaft zu nehmen, die ihm nach den noch bestehenden akademischen Einrichtungen und Gewöhnungen ebenfalls obzuliegen pflegt, – der Psychologie. Bietet doch auch sie eine Fülle von Gegenständen, die jeden angehen und deren Behandlung um so sicherer Ausbeute verspricht, je mannigfaltiger die methodischen und sachlichen Gesichtspunkte sind, welche die lebhafte Bewegung dieser Disziplin in den letzten Jahrzehnten hat zutage treten lassen. Ich verzichte auf beide Auswege: ich möchte weder der Meinung Vorschub leisten, dass es nicht mehr Philosophie sondern nur deren Geschichte gebe, – noch der anderen, als könne die Philosophie, wie sie Kant neu begründet hat, jemals wieder in den engen Rahmen derjenigen Spezialwissenschaft zusammenschrumpfen, deren Erkenntniswert er selbst unter den theoretischen Disziplinen am geringsten veranschlagte. Vielmehr er­scheint es mir bei einer Gelegenheit wie der heutigen als Pflicht, dafür Zeugnis abzulegen, dass die Philosophie auch in ihrer jetzigen Form, wo sie alle metaphysische Begehrlichkeit abgelegt hat, sich jenen grossen Fragen gewachsen fühlt, denen sie, wie den bedeutsamen Inhalt ihrer Geschichte, so auch ihren Wert in der Literatur und ihrer Stellung im akademischen Unterricht verdankt. Und so reizt mich das Wagnis der Aufgabe, jene Triebkraft der philosophischen Untersuchung, wodurch jedes Sonderproblem sich in die letzten Rätsel menschlicher Welt- und Lebensansicht ausweitet, Ihnen an einem Beispiel zu veranschaulichen, und daran die Notwendigkeit aufzuzeigen, mit welcher ein jeder Ver­such, das scheinbar klar und einfach Bekannte zu vollem Verständnis zu bringen und schnell und unentfliehbar an die äussersten, von dunklen Geheimnissen umlagerten Grenzen unseres Erkenntnisvermögens drängt.

Wenn ich zu diesem Zwecke ein Thema aus der Logik, insbesondere aus der Methodologie, der Theorie der Wissenschaft wähle, so geschieht es in der Meinung, dass an einem solchen in besonders deutlicher, greifbarer Weise der innige Zusammenhang hervortreten muss, in wel­chem die Arbeit der Philosophie mit derjenigen der übrigen Wis­senschaften steht. Nicht wissensfremd in eigner erdachter Welt, sondern in reichem Wechselverkehr mit aller lebendigen Wirklichkeits­erkenntniss und mit allem Wertgehalte des wirklichen Geisteslebens hat die Philosophie bestanden und besteht sie: wenn ihre Geschichte die der menschlichen Irrthümer gewesen ist, so war der Grund davon der, dass sie guten Glaubens aus den Theorien der besonderen Wissenschaften als fertig und sicher übernahm, was auch in diesen nur höchstens als werdende Wahrheit hätte gelten dürfen. Dieser Lebenszusammenhang zwischen der Philosophie und den übrigen Disciplinen zeigt sich am deutlichsten gerade in der Entwicklung der Logik, welche nie etwas anderes war als die kritische Reflexion auf die vor ihr betätigten Formen des wirklichen Erkennens. Niemals ist eine fruchtbare Methode aus abstracter Konstruktion oder rein formalen Überlegungen der Logiker erwachsen: diesen fällt nur die Aufgabe zu, das erfolgreich am ein­zelnen Ausgeübte auf seine allgemeine Form zu bringen und danach seine Bedeutung, seinen Erkenntnisswert und die Grenzen seiner Anwendung zu bestimmen. Woher – um gleich das vornehmste Beispiel heranzuziehen – hat die moderne Logik, der griechischen Mutter gegenüber, die gereifte Vorstellung vom Wesen der Induction? Nicht aus der programmatischen Emphase, mit der sie Bacon empfohlen und scholastisch beschrieben hat, sondern aus der Reflexion auf die tatkräftige Anwendung, welche diese Denkform in der Einzelarbeit der Naturforschung, von Sonderproblem zu Sonderproblem sich ver­feinernd und steigernd, seit den Tagen Kepler's und Galilei's bewährt hat.

Auf denselben Zusammenhängen aber beruhen selbstverständlich auch die der neueren Logik eigentümlichen Versuche, in dem zu so bunter Mannigfaltigkeit ausgewachsenen Reiche des menschlichen Wissens begrifflich bestimmte Linien zur Grenzabsonderung der einzelnen Provinzen zu ziehen. Die wechselnde Vorherrschaft, welche in den wissenschaftlichen Interessen der neueren Zeit Philologie, Mathematik, Naturwissenschaft, Psychologie, Geschichte ausgeübt haben, spiegele sich in den verschiedenen Entwürfen zum «System der Wissenschaften», wie man früher sagte, zur «Klassifikation der Wissenschaften», wie es heute genannt wird. Viel wurde dabei durch die universalistische Tendenz gefehlt, welche, mit Verkennung der Autonomie der einzelnen Wissensgebiete, alle Gegenstände dem Zwange einer und derselben Methode unterwerfen wollte, sodass für die Gliederung der Wissenschaften nur noch sachliche, das hiess metaphysische Gesichtspunkte übrig blieben. So haben nach einander die mechanistische, die geometrische, die psychologische, die dlalektische, in neuester Zeit die entwicklungsgeschichtliche Methode den Anspruch erhoben, von den engeren Feldern ihrer ursprünglichen fruchtbaren Anwendung ihre Herrschaft möglichst über den ganzen Umfang der menschlichen Erkenntniss zu erweitern. Je grösser der Widerstreit dieser verschiedenen Bestrebungen erscheint, um so mehr erwächst für die Besonnenheit der logischen Theorie die weitausschauende Aufgabe, eine gerechte Abwägung jener Ansprüche und eine ausgleichende Scheidung ihrer Geltungsbereiche durch die allgemeinen Bestimmungen der Erkenntnisslehre zu gewinnen. Die Aussichten dafür stehen nicht ungünstig. Durch Kant ist die methodische Auseinandersetzung der Philosophie mit der Mathematik und im Princip auch mit der Psychologie vollzogen worden. Seitdem hat das neunzehnte Jahrhundert bei einer gewissen Erlahmung des anfangs überreizten philosophischen Triebes eine um so buntere Mannigfaltigkeit von Bestrebungen und Bewegungen in den besonderen Wissenschaften erlebt: in der Bewältigung zahlreicher neuer und neuartiger Probleme ist der methodische Apparat nach allen Seiten hin verändert und in nie vorher dagewesenem Masse zugleich verbreitert und verfeinert worden. Dabei haben sich die verschiedenen Verfahrungsweisen vielfach ineinander verästelt, und wenn dann doch jede einzelne für sich eine herrschende Stellung in der allgemeinen Welt- und Lebensansicht unserer Tage verlangt, so erwachsen gerade daraus der theoretischen Philosophie neue Fragen: und solche sind es, für welche ich, ohne sie irgendwie erschöpfen zu wollen, Ihr Interesse in Anspruch zu nehmen wünsche.

Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Einteilungen wie ich sie hier im Auge habe, sich nicht mit der Gliederung decken können, welche die Wissenschaften in der Abgrenzung der Fakultäten finden. Diese ist aus den praktischen Aufgaben der Universitäten und deren geschichtlicher Entwickelung hervorgegangen. Dabei hat der praktische Zweck häufig vereinigt, was in rein theoretischer Hinsicht zu trennen, und auseinan­dergerissen, was sonst eng zu verbinden wäre: und dasselbe Motiv hat die eigentlich scientifischen mit praktischen und technischen Discipli­nen mehrfach verschmolzen. Doch meine man nicht, dass dies alles zum Schaden der wissenschaftlichen Tätigkeit gewesen wäre: vielmehr haben die praktischen Beziehungen auch hier den Erfolg gehabt, eine reichere und lebendigere Wechselwirkung. zwischen den verschiedenen Arbeitsgebieten hervorzurufen, als es vielleicht bei den abstracteren Zusammenfassungen des Gleichartigen, wie sie in den Akademien vor­liegen, der Fall gewesen wäre. Gleichwohl zeigen die Verschiebungen, welche die Fakultätsordnungen der deutschen Universitäten, insbeson­dere hinsichtlich der ehemaligen facultas artium in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, eine gewisse Neigung den methodischen Motiven der Gliederung grössere Bedeutung einzuräumen.

Geht man diesen Motiven mit nur theoretischem Interesse nach, so darf zunächst als giltig vorausgesetzt werden, dass wir die Philosophie und doch wohl noch immer auch die Mathematik den Erfahrungs­wissenschaften gegenüberstellen. Die beiden ersteren mögen unter dem alten Namen der «rationalen» Wissenschaften zusammengefasst wer­den, wenn auch in sehr verschiedener und hier nicht näher zu erörternder Bedeutung des Wortes. Es genügt für jetzt, ihre Gemein­samkeit in der negativen Form auszusprechen, dass sie selbst nicht unmittelbar auf die Erkenntniss von etwas in der Erfahrung Gegebenen gerichtet sind, wenn auch die von ihnen gewonnenen Einsichten in anderen Wissenschaften für diesen Zweck verwendet wer­den können und sollen. Diesem gegenständlichen Momente entspricht auf der formalen Seite die logische Gemeinschaft, dass beide – Philosophie wie Mathematik – ihre Behauptungen niemals auf einzelne Wahrnehmun­gen oder auf Massen von Wahrnehmungen stützen, so sehr auch der tatsächliche, psychogenetische Anlass für ihre Untersuchungen und Ent­deckungen in empirischen Motiven liegen mag. Unter Erfahrungs­wissenschaften dagegen verstehen wir diejenigen, deren Aufgabe es ist, eine irgendwie gegebene und der Wahrnehmung zugängliche Wirk­lichkeit zu erkennen: ihr formales Merkmal besteht somit darin, dass sie zur Begründung ihrer Resultate neben den allgemeinen axiomatischen Voraussetzungen und der für alles Erkennen gleichmässig erforder­lichen Richtigkeit des normalen Denkens durchweg einer Feststellung von Tatsachen durch Wahrnehmung bedürfen.

Für die Einteilung dieser auf die Erkenntniss des Wirklichen gerich­teten Disziplinen ist gegenwärtig die Scheidung von Naturwissen­schaften und Geisteswissenschaften geläufig: ich halte sie in dieser Form nicht für glücklich. Natur und Geist – das ist ein sachlicher Gegensatz, der in den Ausgängen des antiken und den Anfängen des mittel­alterlichen Denkens zu beherrschender Stellung gelangt und in der neueren Metaphysik von Descartes und Spinoza bis zu Schelling und Hegel mit voller Schroffheit aufrecht erhalten worden ist. Sofern ich die Stimmungen der neuesten Philosophie und die Nachwirkungen der erkenntnisstheoretischen Kritik richtig beurteile, so würde diese in der allgemeinen Vorstellungs- und Ausdrucksweise haften gebliebene Schei­dung jetzt nicht mehr als so sicher und selbstverständlich aner­kannt werden, dass sie unbesehen zur Grundlage einer Klassifikation gemacht werden dürfte. Dazu kommt, dass dieser Gegensatz der Objekte sich nicht mit einem solchen der Erkenntnissweisen deckt. Denn, wenn Locke den cartesianischen Dualismus auf die subjektive Formel brachte, äussere und innere Wahrnehmung – sensation und reflection – als die beiden gesonderten Organe für die Erkenntniss einerseits der körperlichen Aussenwelt, der Natur, andererseits der inneren Geisteswelt einander gegenüberzustellen, so hat wiederum die Erkenntnisskritik der neuesten Zeit diese Auffassung mehr als je in's Schwanken gebracht und die Berechtigung zur Annahme einer «inneren Wahrnehmung» als besonderer Erkenntnissart wenigstens stark in Zweifel gezogen. Auch würde weiterhin keineswegs zugegeben wer­den, dass die Tatsachen der sogenannten Geisteswissenschaften ledig­lich durch innere Wahrnehmung begründet wären. Vor allem aber zeigt sich die Incongruenz des sachlichen und des formalen Einteilungs­prinzips darin, dass zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissen­schaft eine empirische Disciplin von solcher Bedeutsamkeit wie die Psychologie nicht unterzubringen ist: ihrem Gegenstand nach ist sie nur als Geisteswissenschaft und in gewissem Sinne als die Grundlage aller übrigen zu charakterisiren; ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom Anfang bis zum Ende dasjenige der Naturwissen­schaften. Daher sie denn es sich hat gefallen lassen müssen, gelegentlich als die «Naturwissenschaft des inneren Sinnes» oder gar als «geistige Naturwissenschaft» bezeichnet zu werden.

Eine Einteilung, welche solche Schwierigkeiten aufweist, hat keinen systematischen Bestand: indessen bedarf sie vielleicht, um ihn zu gewin­nen, nur geringer Veränderungen der Begriffsbestimmung. Worin besteht denn die methodische Verwandtschaft der Psychologie mit den Naturwissenschaften? Offenbar darin, dass jene wie diese ihre Tatsa­chen feststellt, sammelt und verarbeitet nur unter dem Gesichtspunkte und zu dem Zwecke, daraus die allgemeine Gesetzmässigkeit zu verstehen, welcher diese Tatsachen unterworfen sind. Dabei bringt es freilich die Verschiedenheit der Gegenstände mit sich, dass die besonderen Methoden zur Feststellung der Tatsachen, die Art und Weise ihrer inductiven Verwertung und die Formel, auf welche die gefundenen Gesetze sich bringen lassen, sehr verschieden sind; und doch ist in dieser Hinsicht der Abstand der Psychologie z. B. von der Chemie kaum grösser, als etwa der der Mechanik von der Biologie: aber – worauf es hier ankommt – alle diese sachlichen Differenzen treten weit zurück hinter der logischen Gleichheit, welche alle diese Disciplinen hinsichtlich des formalen Charakters ihrer Erkenntnissziele besitzen: es sind immer Gesetze des Geschehens, welche sie suchen, mag dies Geschehen nun eine Bewegung von Körpern, eine Umwandlung von Stoffen, eine Entfaltung des organischen Lebens oder ein Process des Vorstellens, Fühlens und Wollens sein.

Demgegenüber ist die Mehrzahl derjenigen empirischen Disciplinen, die man wohl sonst als Geisteswissenschaften bezeichnet entschieden darauf gerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Ge­schehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschöpfender Darstellung zu bringen. Auch auf dieser Seite sind die Gegenstände und die besonderen Kunstgriffe, wodurch man sich ihrer Auffassung versichert, von äusserster Mannigfaltigkeit. Da handelt es sich etwa um ein einzelnes Ereigniss oder um eine zusammen­hängende Reihe von Taten und Geschicken, um das Wesen und Leben eines einzelnen Mannes oder eines ganzen Volkes, um die Eigenart und die Entwickelung einer Sprache, einer Religion, einer Rechtsordnung, eines Erzeugnisses der Litteratur, der Kunst oder der Wissenschaft: und jeder dieser Gegenstände verlangt eine seiner Besonderheit entspre­chende Behandlung. Immer aber ist der Erkenntnisszweck der, dass ein Gebilde des Menschenlebens, welches in einmaliger Wirklichkeit sich dargestellt hat, in dieser seiner Tatsächlichkeit reproducirt und verstanden werde. Es ist klar, dass hiermit der ganze Umfang der historischen Disciplinen gemeint ist. Hier haben wir nun eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften vor uns. Das Einteilungsprincip ist der formale Charakter ihrer Erkenntnissziele. Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen: in der Sprache der formalen Logik ausgedrückt, ist das Ziel der einen das generelle, apodiktische Urteil, das der anderen der singuläre, assertorische Satz. Und so knüpft sich dieser Unterschied an jenes wichtigste und entscheidende Verhältniss im menschlichen Verstande, das von Sokrates als die Grundbeziehung alles wissenschaftlichen Denkens erkannt wurde: das Verhältniss des Allgemeinen zum Besonderen. Die antike Metaphysik spaltete sich von hier aus, indem Platon das Wirkliche in den unveränderlichen Gattungsbegriffen, Aristoteles dasselbe in den zweckvoll sich entwickelnden Einzelwesen suchte. Die moderne Naturwissenschaft hat uns gelehrt, das Seiende zu definiren durch die dauernden Notwendigkeiten des an ihm stattfindenden Geschehens: sie hat das Naturgesetz an die Stelle der platonischen Idee gesetzt.

So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntniss des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereignisswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist – wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf – in dem einen Falle nomothetisch, in dem andern idiographisch. Wollen wir uns an die gewohnten Ausdrücke halten, so dürfen wir ferner in diesem Sinne von dem Gegensatz naturwissenschaftlicher und historischer Disciplinen reden, voraus­gesetzt dass wir in Erinnerung behalten, in diesem methodischen Sinne die Psychologie durchaus zu den Naturwissenschaften zu zählen.

Überhaupt aber bleibt dabei zu bedenken, dass dieser methodische Gegensatz nur die Behandlung, nicht den Inhalt des Wissens selbst classificirt. / Es bleibt möglich und zeigt sich in der Tat dass dieselben Gegenstände zum Object einer nomothetisclen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden können. Das hängt damit zusammen, dass der Gegensatz des Immergleichen und des Einmaligen in gewissem Betracht relativ ist. Was innerhalb sehr grosser Zeiträume keine unmittelbar merkliche Veränderung erleidet und deshalb auf seine unveränderlichen Formen hin nomothetisch behandelt werden darf, kann sich darum doch vor einem weiteren Ausblick als etwas nur für einen immerhin begrenzten Zeitraum Giltiges, d. h. als etwas Einmaliges erweisen. So ist eine Sprache in allen ihren einzelnen Anwendungen durch ihre Formgesetze beherrscht, die bei allem Wechsel des Ausdrucks dieselben bleiben: aber andererseits ist diese selbe ganze besondere Sprache mitsammt ihrer ganzen besonderen Formgesetzmäßigkeit doch nur eine einmalige, vorübergehende Erscheinung im menschlichen Sprachleben überhaupt. Ähnliches gilt für die Physiologie des Leibes, für die Geologie, in gewissem Sinne sogar für die Astronomie; und damit wird das historische Princip auf das Gebiet der Naturwissenschaften hinübergetrieben

Das klassische Beispiel dafür bildet die Wissenschaft der organi­schen Natur. Als Systematik ist sie nomothetischen Charakters insofern als sie die innerhalb der paar Jahrtausende bisheriger menschlicher Beobachtung sich stets gleichbleibenden Typen der Lebewesen als deren gesetzmässige Form betrachten darf. Als Entwicklungsgeschichte, wo sie die ganze Reihenfolge der irdischen Organismen als einen im Laufe der Zeit sich allmählich gestaltenden Process der Abstammung oder Umwandlung darstellt, für dessen Wiederholung auf irgend einem andern Weltkörper nicht nur keine Gewähr, sondern nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, – da ist sie eine idiographische, historische Disciplin. Schon Kant nannte, als er den Begriff der mo­dernen Descendenztheorie im voraus entwarf denjenigen welcher sich dieses «Abenteuers der Vernunft» erkühnen würde den zukünftigen «Archäologen der Natur».

Fragen wir, wie sich zu diesem entscheidenden Gegensatze unter den Specialwissenschaften bisher die logische Theorie verhalten hat, so stossen wir genau auf den Punkt, an welchem diese am meisten reformbedürftig bis auf den heutigen Tag ist. Ihre ganze Entwicklung zeigt die entschiedenste Bevorzugung der nomothetischen Denkformen. Das ist freilich überaus erklärlich. Da alles wissenschaftliche Forschen und Beweisen in der Form des Begriffs von Statten geht, so bleibt für die Logik immer die Untersuchung über Wesen, Begründung und An­wendung des Allgemeinen das nächste und bedeutendste Interesse. Dazu kommt die Wirkung des historischen Verlaufs. Die griechische Philosophie ist aus naturwissenschaftlichen Anfängen, aus der Frage nach der φύσις; d. h. nach dem bleibenden Sein im Wechsel der Erscheinungen hervorgewachsen, und in einem parallelen Verlauf, der auch der causalen Vermittlung durch historische Tradition in der Re­naissance nicht entbehrte, ist die moderne Philosophie zu ihrer Selbständigkeit ebenfalls an der Hand der Naturwissenschaft empor­gediehen. So konnte es nicht anders sein, als dass die logische Reflexion sich in erster Linie den nomothetischen Denkformen zuwandte und dauernd ihre allgemeinen Theorien von diesen abhängig machte. Dies gilt noch immer. Unsere ganze traditionelle Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss ist noch immer auf das aristotelische Princip zugeschnitten, nach welchem der generelle Satz im Mittelpunkte der logischen Untersuchung steht. Man braucht nur irgend ein Lehrbuch der Logik aufzuschlagen, um sich zu überzeugen, dass nicht nur die grosse Mehrzahl der Beispiele aus den mathematischen und naturwissen­schaftlichen Disciplinen gewählt wird, sondern dass auch solche Logiker, welche vollen Sinn für die Eigenart historischer Forschung zeigen, doch die letzten Richtpunkte ihrer Theorien auf der Seite des nomothetischen Denkens suchen. Es wäre zu wünschen, aber es sind noch sehr wenige Ansätze dazu vorhanden, dass die logische Reflexion der grossen geschichtlichen Wirklichkeit, welche im historischen Denken selbst vorliegt, ebenso gerecht werde, wie sie die Formen der Naturforschung bis in das Einzelne hinein zu begreifen verstanden hat.

Einstweilen lassen Sie uns das Verhältniss zwischen nomotheti­schem und idiographischem Wissen etwas näher betrachten. Gemeinsam ist, wie gesagt, der Naturforschung und der Historik der Charakter der Erfahrungswissenschaft: d. h. beide haben zum Ausgangspunkte – logisch gesprochen, zu Prämissen ihrer Beweise – Erfahrungen, Tatsachen der Wahrnehmung; und auch darin stimmen sie überein, dass die eine so wenig wie die andere sich mit dem begnügen kann, was der naive Mensch so gewöhnlich zu erfahren meint. Beide bedürfen zu ihrer Grundlage einer wissenschaftlich gereinigten, kritisch geschulten und in begrifflicher Arbeit geprüften Erfahrung. In demselben Masse wie man seine Sinne sorgfältig erziehen muss, um die feinen Unterschiede in der Gestaltung nächstverwandter Lebewesen festzustellen, um mit Erfolg durch ein Mikroskop zu sehen, um mit Sicherheit die Gleichzeitigkeit eines Pendelschlages und der Einstellung einer Nadel aufzufassen, – ebenso will es mühsam gelernt sein, die Eigenart einer Handschrift zu bestimmen, den Stil eines Schriftstellers zu beobachten oder den geistigen Horizont und den Interessenkreis einer historischen Quelle zu erfassen. Das eine kann man von Natur meist so unvollkommen wie das andere: und wenn nun die Tradition der wissenschaftlichen Arbeit nach beiden Richtungen eine Fülle feiner und feinster Kunstgriffe hervorgebracht hat, welche der Jünger der Wissenschaft sich praktisch aneignet, so beruht jede solche. Spezialmethode einerseits auf sachlichen Einsichten, die schon gewon­nen oder wenigstens hypothetisch angenommen sind, andererseits aber auf logischen Zusammenhängen oft sehr verwickelter Art. Hier ist nun wiederum zu bemerken, dass sich bisher das Interesse der Logik weit mehr der nomothetischen als der idiographischen Tendenz zugewendet hat. Über die methodische Bedeutung von Präcisionsinstrumenten, über die Theorie des Experiments, über die Wahrscheinlichkeitsbestimmung aus mehrfachen Beobachtungen desselben Objekts und ähnliche Fragen liegen eingehende logische Untersuchungen vor: aber die parallelen Probleme der historischen Methodologie haben von Seiten der Philo­sophie nicht entfernt gleiche Beachtung gefunden. Es hängt dies damit zusammen, dass, wie es in der Natur der Sache liegt und wie die Geschichte bestätigt, sich philosophische und naturwissenschaftliche Begabung und Leistung sehr viel häufiger zusammenfinden, als philosophische und historische. Und doch würde es vom äussersten Interesse für die allgemeine Erkenntnisslehre sein, die logischen Formen herauszuschälen, nach denen sich in der historischen Forschung die gegenseitige Kritik der Wahrnehmungen vollzieht, die «Interpolations­maximen» der Hypothesen zu formuliren und so auch hier zu bestimmen, welchen Anteil an dem sich in allen seinen Momenten gegenseitig stützenden Gebäude der Welterkenntniss einerseits die Tatsachen und andererseits die allgemeinen Voraussetzungen haben, nach denen wir sie deuten.

Doch hier kommen schliesslich alle Erfahrungswissenschaften an dem letzten Princip überein, welches in der widerspruchslosen Über­einstimmung aller auf denselben Gegenstand bezüglichen Vorstellungs­elemente besteht: der Unterschied zwischen Naturforschung und Geschichte beginnt erst da, wo es sich um die erkenntnissmässige Verwertung der Tatsachen handelt. Hier also sehen wir: die eine sucht Gesetze, die andere Gestalten. In der einen treibt das Denken von der Feststellung des Besonderen zur Auffassung allgemeiner Beziehungen, in der andern wird es bei der liebevollen Ausprägung des Besonderen festgehalten. Für den Naturforscher hat das einzelne gegebene Objekt seiner Beobachtung niemals als solches wissenschaftlichen Wert, es dient ihm nur soweit, als er sich für berechtigt halten darf, es als Typus, als Spezialfall eines Gattungsbegriffs zu betrachten und diesen daraus zu entwickeln; er reflectirt darin nur auf diejenigen Merkmale, welche zur Einsicht in eine gesetzmässige Allgemeinheit geeignet sind. Für den Historiker besteht die Aufgabe, irgend ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwärtigkeit neu zu beleben. Er hat an Demjenigen was wirklich war, eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen wie der Künstler an Demjenigen was in seiner Phantasie ist. Darin wurzelt die Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen, und die der historischen Disciplinen mit den belles lettres.

Hieraus folgt, dass in dem naturwissenschaftlichen Denken die Neigung zur Abstraction vorwiegt, in dem historischen dagegen diejenige zur Anschaulichkeit. Diese Behauptung wird nur demjenigen unerwartet kommen, der sich gewöhnt hat, den Begriff der Anschauung in materialistischer Weise auf das psychische Aufnehmen des sinnlich Gegenwärtigen zu beschränken, und der vergessen hat, dass es Anschaulichkeit, d. h. individuelle Lebendigkeit der ideellen Gegenwart für das Auge des Geistes ganz ebenso gibt, wie für das des Leibes. Freilich ist jene materielle Auffassung heutzutage weit verbreitet und sie ist nicht ohne ernste Bedenken. Je mehr man sich gewöhnt, überall wo Vorstellungen erregt werden sollen, möglichst Vieles zum Betasten und Besehen vorzuzeigen, um so mehr setzt man durch das Übermass des receptiven Anschauens die spontane Anschauungsfähigkeit der Gefahr aus, ungeübt zu verkümmern, und dann wundert man sich hinterher, wenn die sinnliche Phantasie träge und leistungsunfähig ist, sobald sie nicht leiblich tasten und sehen kann. Das gilt für die Pädagogik ebenso wie für die Kunst, insbesondere für die dramatische, in der man sich gegenwärtig alle Mühe gibt, die Augen so zu beschäftigen, dass für die innere Anschauung der dichterischen Gestalten nichts mehr übrig bleibt.

Dass aber die Stärke der Naturforschung nach der Seite der Abstrac­tion, diejenige der Geschichte nach der der Anschaulichkeit liegt, wird noch mehr einleuchten, wenn man ihre Forschungsergebnisse ver­gleicht. So fein gesponnen auch die begriffliche Arbeit sein mag, deren die historische Kritik beim Verarbeiten der Überlieferung bedarf, ihr letztes Ziel ist doch stets, aus der Masse des Stoffes die wahre Gestalt des Vergangenen zu lebensvoller Deutlichkeit herauszuarbeiten: und was sie liefert, das sind Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichthum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer vollen individuellen Lebendigkeit. So reden zu uns durch den Mund der Geschichte, aus der Vergessenheit zu neuem Leben erstan­den, vergangene Sprachen und vergangene Völker, ihr Glauben und Gestalten, ihr Ringen nach Macht und Freiheit, ihr Dichten und Denken. Wie anders ist die Welt, welche die Naturforschung vor uns aufbaut! So anschaulich ihre Ausgangspunkte sein mögen, – ihre Erkenntnissziele sind die Theorien, in letzter Instanz mathematische Formulirungen von Gesetzen der Bewegung: sie lässt – echt platonisch – das einzelne Sinnending, das entsteht und vergeht, in wesenlosem Scheine hinter sich und strebt zur Erkenntniss der gesetzlichen Notwendigkeiten auf, die in zeitloser Unwandelbarkeit über alles Geschehen herrschen. Aus der farbigen Welt der Sinne präparirt sie ein System von Konstruktions­begriffen heraus, in denen sie das wahre, hinter den Erscheinungen liegende Wesen der Dinge erfassen will, eine Welt von Atomen, farblos und klanglos, ohne allen Erdgeruch der Sinnesqualitäten, – der Triumph des Denkens über die Wahrnehmung. Gleichgiltig gegen das Vergängliche, wirft sie ihre Anker in das ewig sich selbst gleich Bleibende; nicht das Veränderliche als solches sucht sie, sondern die unveränderliche Form der Veränderung.

Geht aber so tief der Gegensatz zwischen beiden Arten der Erfah­rungswissenschaft, so begreift es sich, weshalb zwischen ihnen der Kampf um den bestimmenden Einfluss auf die allgemeine Welt- und Lebensansicht des Menschen entbrennen muss und entbrannt ist. Es fragt sich: was ist für den Gesammtzweck unserer Erkenntniss wert­voller, das Wissen um die Gesetze oder das um die Ereignisse? das Verständniss des allgemeinen zeitlosen Wesens oder der einzelnen zeitlichen Erscheinungen? Und es ist von vornherein klar, dass diese Frage nur aus einer Besinnung auf die letzten Ziele der wissen­schaftlichen Arbeit entschieden werden kann.

Nur flüchtig streife ich hier die äusserliche Beurteilung nach der Utilität. Vor ihr sind beide Denkrichtungen gleichmässig zu recht­fertigen. Das Wissen allgemeiner Gesetze hat überall den praktischen Wert, die Voraussicht künftiger Zustände und ein zweckmässiges Eingreifen des Menschen in den Lauf der Dinge zu ermöglichen. Das gilt für die Bewegungen der Innenwelt ebenso wie für diejenigen der materiellen Aussenwelt, in der letzteren namentlich gestattet die durch das nomothetische Denken erworbene Kenntniss die Herstellung derjenigen Werkzeuge durch welche die Herrschaft des Menschen über die Natur in stetig zunehmendem Masse erweitert wird. Nicht minder aber ist alle zweckvolle Tätigkeit im gemeinsamen Menschenleben auf die Erfahrungen des historischen Wissens angewiesen. Der Mensch ist, um ein antikes Wort zu variiren, das Thier, welches Geschichte hat. Sein Kulturleben ist ein von Generation zu Generation sich verdichtender historischer Zusammenhang: wer in diesen zu lebendiger Mitwirkung eintreten will, muss das Verständniss seiner Entwicklung haben. Wo dieser Faden einmal abreisst, da muss er – das hat die Geschichte selbst bewiesen – nachher mühsam wieder aufgesucht und angesponnen werden. Sollte dereinst durch irgend ein elementares Ereigniss, sei es in der Aussengestaltung unseres Planeten, sei es in der Innengestaltung der Menschenwelt, die heutige Kultur verschüttet werden – wir können sicher sein, dass die späteren Geschlechter nach ihren Spuren ebenso eifrig graben werden, wie wir nach denen des Altertums. Schon aus diesen Gründen muss die Menschheit ihren grossen historischen Schulsack tragen, und wenn er im Laufe der Zeit immer schwerer und schwerer zu werden droht, so wird es der Zukunft an Mitteln nicht fehlen, ihn vorsichtig und ohne Schaden zu erleichtern.

Aber nicht solcher Nutzen ist es, wonach wir fragen: hier handelt es sich um den inneren Wissenswert.

Freilich auch nicht um die persönliche Befriedigung, welche der Forscher an seinem Erkennen lediglich um dessen selbst willen hat. Denn dieser subjektive Genuss des Herauskriegens, des Entdeckens und Feststellens ist schliesslich bei allem Wissen in gleicher Weise vorhanden. Sein Mass wird viel weniger durch die Bedeutung des Gegenstandes, als durch die Schwierigkeit der Untersuchung bestimmt.

Zweifellos jedoch gibt es daneben objektive und doch rein theoretische Unterschiede im Erkenntnisswert der Gegenstände: ihr Mass aber ist kein anderes als der Grad, in welchem sie zur Gesamterkenntniss beitragen. Das Einzelne bleibt ein Objekt müssiger Kuriosität, wenn es kein Baustein in einem allgemeineren Gefüge zu werden vermag. So ist im wissenschaftlichen Sinne schon «Tatsache» ein teleologischer Begriff. Nicht jedes beliebige Wirkliche ist eine Tatsache für die Wissenschaft, sondern nur das, woraus sie – kurz gesagt – etwas lernen kann. Das gilt vor allem für die Geschichte. Es geschieht gar Vieles, was keine historische Tatsache ist. Dass Goethe im Jahre 1780 sich eine Hausglocke und einen Stubenschlüssel, sowie am 22. Februar ein Billetkästchen hat anfertigen lassen, ist durch eine völlig echt überlieferte Schlosserrechnung urkundlich erwiesen: es ist demnach enorm wahr und gewiss also geschehen, und doch ist es keine historische Tatsache, weder eine litteraturgeschichtliche noch eine biographische. Indessen ist andrerseits zu bedenken, dass es innerhalb gewisser Grenzen unmöglich ist, von vornherein zu entscheiden, ob dem Einzelnen, was sich der Beobachtung oder der Ueberlieferung darbietet, dieser Werth einer «Tatsache» zukommt oder nicht; daher es die Wissenschaft machen muss, wie Goethe im späten Alter: einhamstern, aufspeichern, wessen sie habhaft werden kann, froh des Gedankens, nichts zu verabsäumen von dem, was sie einmal verwenden könnte, und des Vertrauens, dass die Arbeit der kommenden Geschlechter, soweit sie nicht durch die äussern Zufälle der Ueberlieferung beeinträchtigt wird, wie ein grosses Sieb das Brauchbare bewahren und das Nutzlose versinken lassen wird.

Aber dieser wesentliche Zweck alles Einzelwissens, sich einem grossen Ganzen einzufügen, ist nun keineswegs auf die induktive Unterordnung des Besonderen unter den Gattungsbegriff oder unter das allgemeine Urteil beschränkt: er erfüllt sich ebenso da, wo das einzelne Merkmal sich als bedeutsamer Bestandteil einer lebendigen Gesammtanschauung einordnet. Jenes Haften am Gattungsmässigen ist eine Einseitigkeit des griechischen Denkens, fortgepflanzt von den Eleaten zu Platon, der, wie das wahre Sein so auch die wahre Erkenntniss nur im Allgemeinen fand, und von ihm bis zu unseren Tagen, wo sich Schopenhauer zum Sprecher dieses Vorurtheils gemacht hat, wenn er der Geschichte den Wert echter Wissenschaft absprach, weil sie stets nur das Besondere und nie das Allgemeine erfasse. Wohl ist es richtig, dass der menschliche Verstand Vieles auf einmal nur dadurch vorzustellen vermag, dass er den gemeinsamen Inhalt des zerstreuten Einzelnen auffasst: aber je mehr er dabei zum Begriff und Gesetz strebt, umsomehr muss er das Einzelne als solches hinter sich lassen, vergessen und preisgeben. Wir sehen das da, wo man in spezifisch moderner Weise versucht «aus der Geschichte eine Naturwissenschaft zu machen», wie es die sogenannte Geschichts­philosophie des Positivismus vorgeschlagen hat. Was bleibt bei einer solchen Induktion von Gesetzen des Volkslebens schliesslich übrig? Es sind ein paar triviale Allgemeinheiten, die sich nur mit der sorgfältigen Zergliederung ihrer zahlreichen Ausnahmen entschuldigen lassen.

Dem gegenüber muss daran festgehalten werden, dass sich alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbestimmung des Menschen auf das Einzelne und das Einmalige bezieht. Bedenken wir nur wie schnell sich unser Gefühl abstumpft, sobald sich sein Gegenstand vervielfältigt oder als ein Fall unter tausend gleichartigen erweist. «Sie ist die erste nicht» – heisst es an einer der grausamsten Stellen des Faust. In der Einmaligkeit, der Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln alle unsere Wertgefühle. Hierauf beruht Spinoza's Lehre von der Überwindung der Gemüthsbewegungen durch die Erkenntniss: denn für ihn ist Erkenntniss Untertauchen des Besonderen ins Allgemeine, des Einmaligen ins Ewige.

Wie aber alle lebendige Wertbeurteilung des Menschen an der Einzigkeit des Objekts hängt, das erweist sich vor Allem in unserer Beziehung zu den Persönlichkeiten. Ist es nicht ein unerträglicher Gedanke, dass ein geliebtes, ein verehrtes Wesen auch nur noch einmal ganz ebenso existire? ist es nicht schreckhaft, unausdenkbar, dass von uns selbst mit dieser unserer individuellen Eigenart noch ein zweites Exemplar in der Wirklichkeit vorhanden sein sollte? Daher das Grauenhafte, das Gespenstige in der Vorstellung des Doppelgängers – auch bei noch so grosser zeitlicher Entfernung. Es ist mir immer peinlich gewesen, dass ein so geschmackvolles und feinfühliges Volk wie das griechische die durch seine ganze Philosophie hindurchgehende Lehre sich hat gefallen lassen, wonach in der periodischen Wiederkehr aller Dinge auch die Persönlichkeit mit allem ihrem Tun und Leiden wiederkehren soll. Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es genau so schon, wer weiss wie oft dagewesen sein und, wer weiss wie oft sich noch wiederholen soll – wie entsetzlich der Gedanke, dass ich als derselbe schon einmal dasselbe gelebt und gelitten, gestrebt und gestritten, geliebt und gehasst, gedacht und gewollt haben soll und dass, wenn das grosse Weltjahr abgelaufen ist und die Zeit wiederkommt, ich dieselbe Rolle auf demselben Theater noch wieder und wieder soll abspielen müssen! Und was so vom individuellen Menschenleben gilt, das gilt erst recht von der Gesammtheit des geschichtlichen Prozesses: er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Dies ist das Princip, welches die christliche Philosophie in der Patristik siegreich gegen den Hellenismus behauptet hat. Im Mittelpunkt ihrer Weltansicht standen von vornherein der Fall und die Erlösung des Menschengeschlechts als einmalige Tatsachen. Das war die erste grosse und starke Empfindung für das unveräusserliche metaphysische Recht der Historik, das Vergangene in dieser seiner einmaligen unwiederholbaren Wirklichkeit für die Erinnerung der Menschheit festzuhalten.

Andererseits bedürfen nun aber die idiographischen Wissenschaften auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze, welche sie in völlig korrekter Begründung nur den nomothetischen Disciplinen entlehnen können. Jede Causalerklärung irgend eines geschichtlichen Vorganges setzt allgemeine Vorstellungen vom Verlauf der Dinge überhaupt voraus, und wenn man historische Beweise auf ihre rein logische Form bringen will, so erhalten sie stets als oberste Prämissen Naturgesetze des Geschehens, insbesondere des seelischen Geschehens. Wer keine Ahnung davon hätte, wie Menschen überhaupt denken, fühlen und wollen, der würde nicht erst bei der Zusammenfassung der einzelnen Ereignisse zur Erkenntniss von Begebenheiten – er würde schon bei der kritischen Feststellung der Tatsachen scheitern. Freilich ist es dabei sehr merkwürdig, wie nachsichtig im Grunde genommen die Ansprüche der Geschichtswissenschaft an die Psychologie sind. Der notorisch äusserst unvollkommene Grad, bis zu welchem bisher die Gesetze des Seelen­lebens haben formulirt werden können, hat den Historikern niemals im Wege gestanden: sie haben durch natürliche Menschenkenntniss, durch Takt und geniale Intuition gerade genug gewusst, um ihre Helden und deren Handlungen zu verstehen. Das gibt sehr zu denken und lässt es recht zweifelhaft erscheinen, ob die von den Neuesten geplante mathematisch-naturgesetzliche Fassung der elementaren psychischen Vorgänge einen nennenswerthen Ertrag für unser Verständniss des wirklichen Menschenlebens liefern wird.

Trotz solcher Unzulänglichkeiten der Ausführung im Einzelnen ist hieraus klar, dass in der Gesammterkenntniss, zu welcher sich alle wis­senschaftliche Arbeit zuletzt vereinigen soll, diese beiden Momente in ihrer methodischen Sonderstellung neben einander bleiben: den festen Rahmen unseres Weltbildes gibt jene allgemeine Gesetzmässigkeit der Dinge ab, welche, über allen Wechsel erhaben, die ewig gleiche Wesenheit des Wirklichen zum Ausdruck bringt; und innerhalb dieses Rahmens entfaltet sich der lebendige Zusammenhang aller für das Menschentum wertvollen Einzelgestaltungen ihrer Gattungserinnerung.

Diese beiden Momente des menschlichen Wissens lassen sich nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückführen. Wohl legt die Causal­erklärung des einzelnen Geschehens mit dessen Reduction auf allge­meine Gesetze den Gedanken nahe, dass es in letzter Instanz möglich sein müsse, aus der allgemeinen Naturgesetzmässigkeit der Dinge auch die historische Sondergestaltung des wirklichen Geschehens zu begreifen. So meinte Leibniz, dass schliesslich alle vérités de fait ihre zureichenden Gründe in den vérités éternelles haben. Aber er vermochte dies nur für das göttliche Denken zu postuliren, nicht für das menschliche auszuführen.

Man kann sich dies an einem einfachen logischen Schema klar machen. In der Causalbetrachtung nimmt jegliches Sondergeschehen die Form eines Syllogismus an, dessen Obersatz ein Naturgesetz, bezw. eine Anzahl von gesetzlichen Notwendigkeiten, dessen Untersatz eine zeit­lich gegebene Bedingung oder ein Ganzes solcher Bedingungen, und dessen Schlusssatz dann das wirkliche einzelne Ereigniss ist. Wie aber logisch der Schlusssatz eben zwei Prämissen voraussetzt, so das Ge­schehen zwei Arten von Ursachen: einerseits die zeitlose Notwendig­keit, in der sich das dauernde Wesen der Dinge ausdrückt, andrerseits die besondere Bedingung, die in einem bestimmten Zeitmomente eintritt. Die Ursache einer Explosion ist in der einen – nomothetischen – Bedeutung die Natur der explosiblen Stoffe, die wir als chemisch-physikalische Gesetze aussprechen, in der anderen – idiographischen – Bedeutung eine einzelne Bewegung, ein Funke, eine Erschütterung oder Ähnliches. Erst beides zusammen verursacht und erklärt das Ereigniss, aber keines von beiden ist eine Folge des anderen; ihre Verbindung ist in ihnen selbst nicht begründet. So wenig, wie der bei der syllo­gistischen Subsumtion angefügte Untersatz eine Folge des Obersatzes selbst ist, so wenig ist beim Geschehen die zu dem allgemeinen Wesen der Sache hinzutretende Bedingung aus diesem gesetzlichen Wesen selbst abzuleiten. Vielmehr ist diese Bedingung als ein selbst zeitliches Ereigniss wiederum auf eine andere zeitliche Bedingung zurückzu­führen, aus der sie nach gesetzlicher Notwendigkeit gefolgt ist: und so fort bis in infinitum. Ein Anfangsglied dieser endlosen Reihe ist begriff­lich nicht zu denken; und auch wenn man versucht es vorzustellen, so ist ein solcher Anfangszustand doch immer ein Neues, was zu dem allgemeinen Wesen der Dinge hinzutritt, ohne daraus zu folgen. Spinoza hat dies durch die Unterscheidung der beiden Causalitäten, der unendlichen und der endlichen, ausgedrückt und damit in genialer Einfachheit viele Bedenken unnötig gemacht, mit denen sich neuere Logiker über das «Problem der Vielheit der Ursachen» beunruhigt haben. In der Sprache der heutigen Wissenschaft liesse sich sagen: aus den allgemeinen Naturgesetzen folgt der gegenwärtige Weltzustand nur unter der Voraussetzung des unmittelbar vorhergehenden, dieser wieder aus dem früheren, und so fort; niemals aber folgt ein solcher bestimmter einzelner Lagerungszustand der Atome aus den allgemei­nen Bewegungsgesetzen selbst. Aus keiner «Weltformel» kann die Be­sonderheit eines einzelnen Zeitpunktes unmittelbar entwickelt werden: es gehörte dazu immer noch die Unterordnung des vorhergehenden Zustandes unter das Gesetz.

Da es somit kein in den allgemeinen Gesetzen begründetes Ende gibt, bis zu welchem die Causalkette der Bedingungen zurückverfolgt werden könnte, so hilft uns alle Subsumtion unter jene Gesetze nicht, um das einzelne in der Zeit Gegebene bis in seine letzten Gründe hinein zu zergliedern. Darum bleibt für uns in allem historisch und individuell Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit – etwas Unaussagbares, Undefinirbares. So widersteht das letzte und innerste Wesen der Persönlichkeit der Zergliederung durch allgemeine Kategorien, und dies Unfasshare erscheint vor unserem Bewusstsein als das Gefühl der Ursachlosigkeit unseres Wesens, d. h. der individuellen Freiheit.

 

Eine Menge metaphysischer Begriffe und Probleme ist an diesem Punkte entsprungen. So unglücklich jene, so verfehlt diese sein mögen: das Motiv bleibt bestehen. Die Gesammtheit des in der Zeit Gegebenen erscheint in unableitbarer Selbständigkeit neben der allgemeinen Gesetzmässigkeit, nach der es sich doch vollzieht. Der Inhalt des Weltgeschehens ist nicht aus seiner Form zu begreifen. Hieran sind alle Versuche gescheitert, das Besondre aus dem Allgemeinen, das «Viele» aus dem «Einen», das «Endliche» aus dem «Unendlichen», das «Dasein» aus dem «Wesen» begrifflich abzuleiten. Dies ist ein Riss, welchen die grossen Systeme der philosophischen Welterklärung nur zu verdecken, aber nicht auszufüllen vermocht haben.

Das sah Leibniz, als er den vérités éternelles ihren Ursprung im göttlichen Verstande, den vérités de fait den ihrigen im göttlichen Willen anwies. Das sah Kant, als er in der glücklichen aber unbegreiflichen Tatsache, dass alles in der Wahrnehmung Gegebene sich unter die Formen des Intellects bringen und danach ordnen und verstehen lässt, eine über unser theoretisches Wissen weit hinausragende Andeutung göttlicher Zweckzusammenhänge fand.

In der Tat kann über diese Fragen kein Denken mehr Aufschluss geben. Die Philosophie vermag zu zeigen, bis wohin die Erkennt­nisskraft der einzelnen Disciplinen reicht; über diese hinaus aber kann sie selbst keine gegenständliche Einsicht mehr gewinnen. Das Gesetz und das Ereigniss bleiben als letzte, incommensurable Grössen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen. Hier ist einer der Grenz­punkte, an denen der wissenschaftliche Gedanke nur noch die Aufgabe bestimmen, nur noch die Frage stellen kann in dem klaren Bewusstsein, dass er nie im Stande sein wird, sie zu lösen.