Ludwig Uhland
1787 – 1862
Das Wesen der Poesie
1807
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Die Nachforschungen des Menschen über sich und die Außenwelt sind weit fortgeschritten auf der Bahn des Verstandes. Er kann große Systeme der theoretischen und praktischen Vernunft aufweisen. Dies ist der Weg des Formellen, der Abstraktion, und je abstrakter, desto vollkommener. Allein in diesen Formen und Regeln bewegt sich die Materie, die Fülle des Wesens, das Leben. Diese wird durch Gefühl und Phantasie erkannt. Wenn sich auch hier wie bei jeder Erkenntnis, der Trieb zur Darstellung regt, wie wird diese Darstellung sein? Sie kann sich nicht mit Form und Abstraktion begnügen, das widerspricht dem Begriff des Darzustellenden, aber sie übt sich (. . .)llen. Die Materie oder das Leben, ein für [sich unendli]ches Universum, stellt sich uns selbst nur individuell dar. Wir können also nur ein ewig sich vermehrendes Aggregat von Individualitäten erhalten und auch unsere Darstellung ist darum individuell. Aber wir werden aus dieser Masse nur das Wichtigere darstellen, d. h. dasjenige, welches die größten Wirkungen hervorbringt, diese Wirkungen mögen entweder unmittelbar in uns selbst oder außer uns vorgehen. Findet der Geist die Gegenstände nicht so, daß sie befriedigende Wirkungen auf ihn hervorbringen, so bearbeitet er sie, er gibt ihnen die Gestalt wie sie sein sollten, er macht Ideale. Das Ideal kann mit der Wirklichkeit zusammenfallen, wenn diese selbst auf der höchsten Stufe steht. Wie diese Wirkungen empfangen und zur Darstellung zubereitet werden, ist ein Rätsel, denn Stoff trifft hier auf Stoff und bildet ihn. Hier ist das geheime Leben der Gefühle und der Phantasie. Der idealisierende Darsteller der inneren und äußeren Welt ist der Dichter. Poesie ist die Bearbeitung der Materie durch Materie. Wenn die Poesie sich darstellt, so ist ihre Regel die Kunst. Von der mächtigsten Erscheinung, vom lebendigsten Genuß bis zur leisesten Ahndung dessen, was fern ist, und dessen, was künftig ist, besonders des künftigen höheren Lebens, geht das Gebiet der Poesie. |