B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Johanna Spyri
1827 - 1901
     
   



H e i d i ' s   L e h r -
u n d   W a n d e r j a h r e .



C a p i t e l   V .
E s   k o m m t   e i n   B e s u c h
u n d   d a n n   n o c h   e i n e r ,
d e r   m e h r   F o l g e n   h a t .


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[72]

Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage, da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte. Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater allerlei Kunstgriffe erlernt; mit den Gaißen wußte es so gut umzugehen als nur Einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zwei Mal vom Schullehrer im Dörfli [73] den Bericht gebracht, der Alm=Oehi solle das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen sollen. Der Oehi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen, wenn er Etwas mit ihm wollte, so sei er daheim, das Kind schicke er nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig überbracht.
      Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Thal und auf der Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Aeste wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her von der Hausthür zum Gaißenstall und von da unter die Tannen und dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei, und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte es nicht erwarten, daß Alles wieder grün und der ganze schöne Sommer mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
      Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt wohl zum zehnten Mal über die Thürschwelle sprang, wäre es vor Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich: «Du mußt nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib mir [74] die Hand! du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?»
      «Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz», erklärte Heidi und machte nun die Thüre wieder auf.
      Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Oehi vor Jahren gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war. Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: «Guten Morgen, Nachbar.»
      Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und entgegnete: «Guten Morgen dem Herrn Pfarrer.» Dann stellte er seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: «Wenn der Herr Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer.»
      Der Herr Pfarrer setzte sich. «Ich habe Euch lange nicht gesehen, Nachbar», sagte er dann.
      «Ich den Herrn Pfarrer auch nicht», war die Antwort.
      «Ich komme heut', um Etwas mit Euch zu besprechen», fing der Herr Pfarrer wieder an; «ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören will, was Ihr im Sinne habt.»
      Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Thüre stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
      [75] «Heidi, geh zu den Gaißen», sagte der Großvater. «Kannst ein wenig Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme.»
      Heidi verschwand sofort.
      «Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter die Schule besuchen sollen», sagte nun der Herr Pfarrer; «der Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?»
      «Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken», war die Antwort.
      Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig aussah.
      «Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?», fragte jetzt der Herr Pfarrer.
      «Nichts, es wächst und gedeiht mit den Gaißen und den Vögeln; bei denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen.»
      «Aber das Kind ist keine Gaiß und kein Vogel, es ist ein Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen Kameraden, so lernt es auch sonst Nichts von ihnen; es soll aber Etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten könnt den Sommer durch. Dieses war der letzte Winter, den das Kind so ohne allen [76] Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es zur Schule, und zwar jeden Tag.»
      «Ich thu's nicht, Herr Pfarrer», sagte der Alte unentwegt.
      «Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Thun beharren wollt?», sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. «Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und Vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut, Nachbar.»
      «So», sagte jetzt der Alte und seine Stimme verrieth, daß es auch in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; «und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und thut, daß Unsereiner fast in Wind und Schnee ersticken müßte, und dann ein Kind wie dieses! Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte Zufälle, soll das Kind auch so Etwas holen mit der Anstrengung? Es soll mir Einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!»
      «Ihr habt ganz Recht, Nachbar», sagte der Herr Pfarrer mit Freundlichkeit; «es wäre nicht möglich, das Kind von [77] hier aus zur Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb; thut um seinetwillen Etwas, das Ihr schon lange hättet thun sollen, kommt wieder in's Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen. Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen Gott und Menschen! Wenn Euch einmal Etwas zustoßen würde hier oben, wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, daß Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie das zarte Kind es nur aushalten kann!»
      «Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem Herrn Pfarrer sagen, und dann noch Eins: Ich weiß, wo es Holz gibt, und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer darf in meinen Schopf hineingehen, es ist Etwas drinn, in meiner Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben von einander, so ist's Beiden wohl.»
      «Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt», sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. «Mit der Verachtung der Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar, sucht Frieden mit Euerm Gott zu machen, bittet um Seine Verzeihung, wo Ihr sie nöthig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann.»
      [78] Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin und sagte nochmals mit Herzlichkeit: «Ich zähle darauf, Nachbar, im nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die alten, guten Nachbarn. Es würde mir große Mühe machen, wenn ein Zwang gegen Euch müßte angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand darauf, daß Ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt, ausgesöhnt mit Gott und den Menschen.»
      Der Alm=Oehi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und bestimmt: «Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er erwartet, das thu' ich nicht, ich sag' es sicher und ohne Wandel: Das Kind schick' ich nicht, und herunter komm' ich nicht.»
      «So helf' Euch Gott!», sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Thür hinaus und den Berg hinunter.
      Der Alm=Oehi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: «Jetzt wollen wir zur Großmutter», erwiderte er kurz: «Heut' nicht.» Den ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: «Gehen wir heut' zur Großmutter?», war er noch gleich kurz von Worten wie im Ton und sagte nur: «Wollen sehen.» Aber noch bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat schon wieder ein Besuch zur Thür herein, es war die Base Dete. Sie hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein Kleid, das Alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte lag da Allerlei, [79] das nicht an ein Kleid gehörte. Der Oehi schaute sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie fing gleich an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, daß es ihm nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiß auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe ja schon begreifen können, daß ihm das Kleine im Weg sein müsse, aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hinthun können; seither aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie das Kind etwa unterbringen könnte, und deßwegen komme sie auch heute, denn auf einmal habe sie Etwas vernommen, da könne das Heidi zu einem solchen Glück kommen, daß sie es gar nicht habe glauben wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen, und nun könne sie sagen, es sei Alles so gut wie in Richtigkeit, das Heidi komme zu einem Glück, wie unter Hunderttausenden nicht Eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet [80] bei ihrer Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirthschaft führte, denn ihre Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein eine gute Gespielin gönnen. Die Wirthschaftsdame hatte nun gesagt, sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen und habe der Dame Alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein Mensch wissen, was dem Heidi Alles an Glück und Wohlfahrt bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen Etwas geben sollte, man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich, und wenn eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte ja das unerhörteste Glück -
      «Bist du bald fertig?», unterbrach hier der Oehi, der bis dahin kein Wort dazwischengeredet hatte.
      «Pah», gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, «Ihr thut gerade, wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte und ist doch durch's ganze Prättigau auf und ab nicht Einer, der nicht Gott im Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch gebracht habe.»
      «Bring' sie, wem du willst, ich will Nichts davon», sagte der Oehi trocken.
      [81] Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: «Ja, wenn Ihr es so meint, Oehi, so will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich es meine: das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann Nichts und weiß Nichts und Ihr wollt es Nichts lernen lassen; Ihr wollt es in keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab' es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur Einer davor sein, dem es um alle Leute gleich ist und der Keinem etwas Gutes wünscht. Aber ich gebe nicht nach, das sag' ich Euch, und die Leute habe ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Oehi; es gibt noch Sachen, die Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet, denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu thun hat, so wird noch Manches aufgespürt, an das Keiner mehr denkt.»
      «Schweig!», donnerte der Oehi heraus, und seine Augen flammten wie Feuer. «Nimm's und verdirb's! Komm' mir nie mehr vor Augen mit ihm, ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im Mund, wie dich heut'!»
      Der Oehi ging mit großen Schritten zur Thür hinaus.
      «Du hast den Großvater bös gemacht», sagte Heidi [82] und blitzte mit seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
      «Er wird schon wieder gut, komm' jetzt», drängte die Base; «wo sind deine Kleider?»
      «Ich komme nicht», sagte Heidi.
      «Was sagst du?», fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: «Komm', komm', du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar nicht weißt.» Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidi's Sachen hervor und packte sie zusammen: «So, komm' jetzt, nimm dort dein Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal, setz' es auf und mach', daß wir fortkommen.»
      «Ich komme nicht», wiederholte Heidi.
      «Sei doch nicht so dumm und störrig, wie eine Gaiß; denen hast du's abgesehen. Begreif' doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du hast's ja gehört, daß er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor Augen kommen, er will es nun haben, daß du mit mir gehst, und jetzt mußt du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht, wie schön es ist in Frankfurt und was du Alles sehen wirst, und gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin ist der Großvater dann wieder gut.»
      «Kann ich grad' wieder umkehren und heimkommen heut' Abend?», fragte Heidi.
      «Ach was, komm' jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst [83] wieder heim, wann du willst. Heut' gehen wir bis nach Mayenfeld hinunter und morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen.»
      Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
      Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule in's Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hie und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze Nichts, dahin zu gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren und große Ruthen suchen, nütze Etwas, denn diese könne man brauchen. So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein ungeheueres Bündel langer, dicker Haselruthen auf der Achsel. Er stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei ihm ankamen; dann sagte er: «Wo willst du hin?»
      «Ich muß nur geschwind nach Frankfurt mit der Base», antwortete Heidi, «aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet auf mich.»
      «Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät», sagte die Base eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; «du kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm' jetzt!» Damit zog die Base das Heidi [84] fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen, es wolle nicht fort, und die Großmutter könnte ihm helfen wollen. Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen Bündel Ruthen so furchtbar auf den Tisch los, daß Alles erzitterte und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
      «Was ist's denn? was ist's denn?», rief angstvoll die Großmutter, und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen war bei dem Knall, sagte in angeborner Langmuth: «Was hast, Peterli; warum thust so wüst?»
      «Weil sie das Heidi mitgenommen hat», erklärte Peter.
      «Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?», fragte die Großmutter jetzt mit neuer Angst; sie mußte aber schnell errathen haben, was vorging, die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete gesehen zum Alm=Oehi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: «Dete, Dete, nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!»
      Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl ahnen, was sie rief, denn sie faßte das Kind noch fester und lief, was sie konnte. Heidi wider[85]strebte und sagte: «Die Großmutter hat gerufen, ich will zu ihr.»
      Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind, es solle nur schnell kommen jetzt, daß sie nicht noch zu spät kommen, sondern, daß sie morgen weiter reisen können, es könne ja dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, daß es gar nie mehr fort wolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja gleich gehen und dann erst noch der Großmutter Etwas mit heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
      «Was kann ich der Großmutter heimbringen?», fragte es nach einer Welle.
      «Etwas Gutes», sagte die Base, «so schöne, weiche Weißbrödchen, da wird sie Freud' haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze Brod fast nicht mehr essen.»
      «Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: ‹Es ist mir zu hartš; das habe ich selbst gesehen», bestätigte das Heidi. «So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir vielleicht heut' noch nach Frankfurt, daß ich bald wieder da bin mit den Brödchen.»
      Heidi fing nun so zu rennen an, daß die Base mit ihrem Bündel auf dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, daß es so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben, die das Heidi [86] wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer Hand, daß alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes willen so pressiren mußte. So rief sie auf alle die Fragen und Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Thüren entgegentönten, nur immer zurück: «Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen, das Kind pressirt und wir haben noch weit.»
      «Nimmst's mit?» «Läuft's dem Alm=Oehi fort?» «Es ist nur ein Wunder, daß es noch am Leben ist!» «Und dazu noch so rothbackig!» So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, daß sie ohne Verzug durchkam und keinen Bescheid geben mußte und auch Heidi kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer. -
      Von dem Tage an machte der Alm=Oehi, wenn er herunterkam und durch's Dörfli ging, ein böseres Gesicht, als je zuvor. Er grüßte keinen Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem ungeheuern Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken Brauen so drohend aus, daß die Frauen zu den kleinen Kindern sagten: «Gib Acht! Geh dem Alm=Oehi aus dem Weg, er könnte dir noch Etwas thun!»
      Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch und weit in's Thal hinab, wo er seine Käse verhandelte und seine Vorräthe an Brod und Fleisch [87] einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen zusammen, und Jeder wußte etwas Besonderes, was er am Alm=Oehi gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und daß er jetzt keinem Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und Alle kamen darin überein, daß es ein großes Glück sei, daß das Kind habe entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt unverrückt zum Alm=Oehi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr spinnen zu lassen, oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm=Oehi mit dem Kind gewesen sei und was er an ihr und der Tochter gethan habe, wie manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne seine Hülfe gewiß schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch diese Berichte in's Dörfli herunter; aber die Meisten, die sie vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie Nichts mehr sehe.
      Der Alm=Oehi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Gaißenpeters; es war gut, daß er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde Großmutter ihre Tage [88] wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich, an dem sie nicht klagend sagte: «Ach, mit dem Kind ist alles Gute und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh' ich sterben muß!»