Carl Spitteler
1845 - 1924
Imago
1. Kapitel
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Die Heimkehr des Richters«Warten mit dem Aussteigen! Warten denn, bis der Zug hält!» «Dienstmann gefällig? Dienstmann?» So, das wäre jetzt also die Heimat, nach welcher man sich das Herz aus dem Leibe gesehnt hat! Dem Landjäger, der dort in der Halle lungert, würde mans auch nicht ansehen. Ich glaube gar, er gähnt. Heimat und Gähnen!«Haben Sie noch Großgepäck?»Ein Bahnhofplatz wie ein anderer; starre Häuser, hart und grau wie überall; nichts von Purpurschein und Goldschimmer. Waren denn eigentlich früher die Gassen auch so zugig und leer? Puh, diese Staubwolken! Und was für ein eiskalter Wind, anfangs September! Vor einem jedenfalls, Viktor, bist du in dieser steinernen Nüchternheit sicher: vor Liebesanfechtungen. O, keine Gefahr!Allein der täppische Dienstmann mit seinem zudringlichen Geschwätz erlaubte keine Besinnung. «Würden Sie mir vielleicht eine große Gefälligkeit erweisen?» ersuchte ihn Viktor. «Dann gehen Sie, bitte, langsam, aber ja recht langsam, um diesen Pfeiler, und zählen Sie genau die Schritte. – Wieviel? Sechs? Gut, ich danke; und jetzt, wenn Sie einverstanden sind, ziehen wir weiter.» Da fiel dem Männlein vor Verblüffung der Unterkiefer herunter, daß er auf dem ganzen Wege kein Wort mehr hervorbrachte.Kaum im Gasthof angekommen, verlangte Viktor das Adreßbuch. Wie heißt sie doch gleich, gegenwärtig, die Treulose, mit ihrem angeheirateten Namen? Wyß, glaube ich, Frau Direktor Wyß. Aber wovon Direktor? Es gibt Eisenbahn-, Bank-, Gas-, Zement-, Gummi-, alle möglichen und unmöglichen Direktoren. Nun, wir werdens ja gleich lesen. Richtig, da steht sie; natürlich vorsichtig hinter ihrem Manne versteckt: Dr. Treugott Wyß, Professor, Direktor des städtischen Museums und der Kunstschule, Vorstand der kantonalen Bibliothek, Mitglied der Waisenhauskommission, Münstergasse 6.Hu, wieviel Weisheit! was für ein Haufe voll Würden! Eigentümlich, ein Bankdirektor wäre mir fast lieber gewesen. Zwar also jedenfalls ein hochgebildeter Herr. Trotzdem – ich weiß nicht warum, es ist nicht meine Schuld –, ich kann mir diesen braven Ehefriedrich nicht anders als klein, unansehnlich und ein bißchen unbeholfen vorstellen, ich will nicht gerade sagen komisch.Also morgen vormittag Münstergasse sechs. Gelt, schöne Dame, das sagt dir dein kleiner Finger auch nicht, daß morgen dein Richter naht? Und am folgenden Morgen zur Besuchsstunde machte er sich nach der Münstergasse auf den Weg.Wie sie wohl meinen Anblick bestehen wird? Zweierlei ist möglich. Entweder sie erbleicht und wankt aus dem Zimmer, oder sie errötet, faßt sich, trotzt mir und sieht mir dreist ins Gesicht. In diesem Falle werde ich meinen Blick mit Erinnerung laden und sie zwingen, die Augen vor mir niederzuschlagen. Hernach wende ich mich zu ihm, dem Friedrich: «Hochgeehrter Herr, die rätselhafte Pantomime, die wir soeben vor Ihren erstaunten Augen aufgeführt haben, Ihre Frau und ich, verlangt eine Erklärung. Selbstverständlich bin ich bereit, sie Ihnen zu geben, halte es aber für ritterlicher, das Wort Ihrer Frau zu überlassen. Denn ob ich schon ihr Gläubiger bin, ihren Ankläger will ich nicht spielen. Von ihr also mögen Sie sich erzählen lassen, warum und wieso ich der rechtmäßige Eigentümer Ihrer Gattin bin und Sie, mein Herr, bloß mein Stellvertreter und getreuer Statthalter, dank meiner Erlaubnis. Entschlagen Sie sich indessen aller Besorgnisse; nachdem ich Sie stillschweigend als meinen Ehestatthalter anerkannt, bin ich mir bewußt, die Anstandspflicht übernommen zu haben, Ihre Ehe, Ihren Frieden, Ihr Glück in keiner Weise zu stören. Ihr Herd ist mir heilig, und meine klare Aufgabe lautet, mich zu verneigen und zu verschwinden; Sie werden an mir, Herr Direktor, die Tugend der Unsichtbarkeit schätzen lernen. Wie ich denn auch zum ersten und zum letzten Male Ihre Schwelle übertreten habe; und wenn ich heute erschienen bin, so geschah das bloß, um einmal in meinem Leben, ein einziges Mal und nie wieder, Ihrer geehrten Frau Gemahlin ergebenst meinen Mangel an Hochachtung auszudrücken. Dort liegt sie, das fleischgewordene Schuldgeständnis. Das genügt mir. Falls es Ihnen nicht genügen sollte, so wohne ich da und da und stehe jederzeit vom Morgen bis zum Abend zu Ihrer Verfügung.» So ungefähr werde ich zu ihm sprechen. – Hausnummer vierzehn; da bin ich in Gedanken vorübergegangen. Rückwärts denn: Nummer zwölf, zehn; jetzt kommt es näher; acht – also das nächste Haus. Nicht übel, das Häuschen; wie reinlich, wie wohnlich mit den weißen Spitzenvorhängen und dem weit ausladenden Erker; wer würde ihm von außen die Falschheit ansehen, die es birgt? Einen Kanarienvogel hört man auch; und Kinderlachen. Ein Kind? Wie kommt ein Kind da hinein? sollte ich mich in der Hausnummer getäuscht haben? Nein, es ist richtig Nummer sechs. Nun, es können ja mehrere Familien in einem Hause wohnen.Als er an der Tür den Namen Wyß las, begannen urplötzlich seine Pulse ein Wettrennen im Galopp – «Ruhig dort innen!» herrschte er, «Beklemmung geziemt ihr, nicht mir, dem Richter!» Zog die Klingel und eilte die Treppe hinauf, die Stufen überspringend.Es tue ihr leid, flötete das Dienstmädchen mit süßlicher Miene, Herr und Frau Direktor wären ausgegangen.Darob knirschte sein Unwille. Auf jeden Empfang war er gefaßt gewesen, nur nicht auf keinen. Überhaupt liebte er nicht, wenn jemand, den er besuchen wollte, nicht zu Hause war. «Ausgegangen!» Die geht also am hellen, lichten Tage mit jenem aus?! Freilich, das Recht dazu hatte sie, allein es gibt nicht bloß ein Recht, es gibt auch eine Scham. «Hier meine Karte, und ich würde um drei Uhr nachmittag wieder vorsprechen.»«Frau Direktor werden schwerlich heute nachmittag zu Hause sein», wagte das Dienstmädchen.«Sie wird zu Hause sein!» befahl er, kehrte sich und ging. Was für eine boshafte Person, dieses Dienstmädchen! Wie giftig sie das Wort Frau Direktor betont hatte, beinahe höhnisch. Auf der Treppe begegnete ihm der Briefträger. «Eine Postkarte für Frau Direktor», meldete er nach oben. Der auch! feiges Volk! Tatsachenknechte! Hätte ich sie geheiratet, so würden sie sie heute wahrscheinlich mit meinem Namen nennen.Auf der Straße zog er die Uhr: «Halb zwölf; reicht zur Not gerade noch zu Frau Steinbach vor dem Mittagessen. Ein wenig weit zwar von der Münstergasse ins Rosental, allein wenn man ein bißchen auszieht ...» – und das trauliche Gärtchen mit den Astern im Herbstsonnenschein leuchtete ihm ins Gedächtnis. Rüstig machte er sich auf den Weg, glücklächelnd ob der Vorstellung, die Freundin wiederzusehen. Und je länger, desto rascher trieb ihn das Verlangen. Vor dem Gartentürchen jedoch stutzte er: «Natürlich wahrscheinlich ebenfalls nicht zu Hause, denn wenn das einmal anfängt, so geht es wie eine Seuche.» Doch nein, Wunder! ein Freudenruf erscholl oben aus dem Fenster, und freundschaftstrahlend eilte sie ihm entgegen, die Treppe herab. Wenig fehlte, so wären sie sich um den Hals gefallen. An beiden Händen zog sie ihn mit sich: «Sind Sies auch wirklich? – Und nun setzen Sie sich und erzählen Sie mir! Vor allem, lieber Freund, wie geht es Ihnen?»«Wie soll ich das wissen?»Laut auf lachte sie vor Vergnügen: «Daran erkenne ich Sie wieder! Also: reden Sie, sprechen Sie, einerlei was! Nur daß man Ihre Stimme hört! Damit man auch ganz sicher weiß, Sie sind es leibhaftig, und es ist nicht etwa bloß ein schönes Märchen. Denn bei Ihnen, mein Herr, geht ja Phantasie und Wirklichkeit derart durcheinander, daß man sich nicht wundern würde, wenn Sie einem plötzlich wieder unter den Augen verschwänden.»«Ein bißchen aus dem Geleise, der Gedankenzug» – scherzte er – «nicht ganz tadellos gekuppelt. Befehlen Sie übrigens, daß ich mich rundherum drehe, um Sie von meiner Leibhaftigkeit zu überzeugen?»«Nein, geben Sie mir lieber noch einmal die Hand. – So! Nun halte ich Sie aber fest. – Nein, diese Überraschung! Wann sind Sie denn eigentlich angekommen?»«Gestern abend. – Aber wissen Sie auch, daß Sie je länger, je jünger und hübscher werden? Und – natürlich, das fehlt nicht, immer mit dem erlesensten Geschmack gekleidet!»«O lala! Schweigen Sie! Eine alte dreiunddreißigjährige Witwe! Und Sie – etwas kräftiger und männlicher, scheint mir, als vor vier Jahren; wie soll ich sagen – sicherer, mutiger!»«Übermütig sogar, unternehmend, angriffslustig!»«Möge es so bleiben. Dann darf man also bald etwas Großes, Schönes von Ihnen erwarten? Sie wissen, wie ich darauf zähle.»«Ach Gott, was das betrifft» – seufzte er und sann sorgenvoll vor sich hin.«Und wenn Sie noch so ein kummervolles Gesicht machen» – lachte sie – «so habe ich doch kein Mitleid mit Ihnen, nicht das mindeste. Vollendungswehen, Siegessorgen!»Da summte vom Münster drüben die Mittagsglocke ihren tiefen Sang. «Wissen Sie was» – schmeichelte sie, während er sich erhob – «kommen Sie diesen Nachmittag zu einer Tasse Tee, ganz allein unter uns.»Schon wollte er freudig zusagen, da erinnerte er sich: «Leider schon anderswo verpflichtet», bedauerte er verstimmt.«Ei, sieh doch! Gestern abend erst angekommen und heute schon vergeben? Indessen, ich will mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen.»Ungern gestand er, doch gerade deshalb tat ers, denn er gestattete sich keine Feigheitchen. «Es ist kein Geheimnis» – sagte er – «für niemand, geschweige denn für Sie. Ich habe mich nämlich auf drei Uhr nachmittag bei Direktor Wyß angemeldet.»Befremdet schaute sie ihn an: «Was in aller Welt haben Sie in dem demokratischen Tugendtempel verloren? Kennen Sie denn den Herrn Direktor?»«Ihn nicht, hingegen sie.»Jetzt verwandelte sich ihr Gesicht und nahm einen kalten Ausdruck an. «Ich weiß, ich weiß», sagte sie, sich abwendend, «Sie haben sie vor vier Jahren einmal flüchtig an einem Kurorte getroffen. Ein oder zwei Tage, glaub ich.»«Flüchtig!» – rief er empört – «flüchtig? Das sagen Sie, die Sie es doch besser wissen? Ein oder zwei Tage?, was heißt das: Tage? Mißt man den Wert des Lebens mit dem Kalender? Ich denke, es gibt Stunden, die schwerer wiegen als dreißig Jahre der Gewöhnlichkeit; Stunden, die ewig leben, so gewiß wie irgendein Kunstwerk, gewisser sogar; denn der Künstler, der sie schuf, ist der heilige Weltgeist der Schönheit!»«Was sie leider nicht davor schützt, zu vergehen und vergessen zu werden.»«Ich kenne kein Vergessen, ich dulde keine Vergangenheit.»«Sie mit Ihrer Phantasie nicht; dafür andere Leute; namentlich wenn die Gegenwart alle ihre Wünsche befriedigt. Glauben Sie wirklich, daß Frau Direktor Wyß Ihren Besuch erwartet oder ihn sonderlich vermissen würde, wenn er ausbliebe?»«Das glaube ich allerdings nicht, bezwecke auch mit meinem Besuche keineswegs ihr Vergnügen.»Frau Steinbach schwieg eine Weile, dann redete sie wie für sich selber, doch laut und nachdrücklich: «Die schöne Theuda Neukomm ist jetzt ein abgeschnitten Stück Brot; zufrieden in glücklicher Ehe. Ein gebildeter, angesehener und hochachtungswerter Mann, den sie liebt und der ihre Liebe auch wert ist; ein reizendes Kind – (ein wahrer Engel von einem Buben, sage ich Ihnen; ein kecker, schwarzlockiger Trotzkopf wie seine Mutter; fängt sogar schon zu sprechen an. – Ja, machen Sie nur ein Gesicht, als ob Sie mit der Achsel zuckten. Ihnen mag das Nebensache sein, der Mutter aber nicht!) – dazu ein reicher Sippschaftssegen von Freunden und Verwandten, in denen ihre Wonne schwimmt; allen voran ihr Bruder Kurt, der Wundermensch, das große Genie, ihr Abgott.» Hier unterbrach sie sich und lächelte ein wenig vor sich hin. «Übrigens, da fällt mir eben ein, sie ist ja diesen Nachmittag gar nicht einmal zu Hause; sie fährt mit dem Gesangverein über Land.»«Verzeihen Sie, sie wird zu Hause sein!»«Ah, wenn Sie das so bestimmt wissen, so füge ich mich natürlich.» Dann plötzlich, ihn ernst anschauend: «Lieber Freund, sagen Sie mir aufrichtig, was wollen Sie von Frau Direktor Wyß?»«Nichts!» schnitt er unwillig ab.«Um so besser, sonst würden Sie einer empfindlichen Enttäuschung entgegengehen. – Also dann ein andermal. Wann immer Sie mögen. Bei mir, das wissen Sie ja, sind Sie jeden Tag, zu jeder Stunde willkommen.» – Und während sie ihn hinausgeleitete, sagte sie noch einmal nachdrücklich: «Die schöne Theuda ist jetzt ein abgeschnitten Stück Brot.»Wie auffällig sie den Spruch vom abgeschnittenen Stück Brot wiederholt hatte! Sie wird doch nicht etwa glauben –? O nein, meine Teuerste, der Bräutigam der hehren Imago ist gegen eine Frau Direktor Wyß gefeit. – Also das ist jetzt ihr neuester Sport: Buben in die Welt zu setzen? Bitte, gnädige Frau, lassen Sie sich ja nicht etwa stören. Zwillinge, Drillinge, meinet wegen Zwölflinge, tun Sie ganz, als wenn ich nicht da wäre. – Doch halt, daß ich antwortete, ich wollte nichts von ihr, war nicht genau; das müssen wir berichtigen. Und ließ ungesäumt durch den Aufzugsknirps Frau Steinbach einen Zettel zustellen: «Liebe Freundin, eine Berichtigung: Nicht nichts will ich von ihr, sondern daß sie die Augen vor mir niederschlage, das will ich von ihr. Ihr getreuer Viktor.»
Im Speisesaal langweilten sich die Gäste längs den Wänden auf und ab; bald zum Fenster hinausstierend, bald zerstreuten Geistes die Bildertafeln betrachtend, bis das Mittagessen endlich käme.Vor dem schwarz umränderten Kopfbilde eines Staatsmannes (der Name war natürlich unleserlich) blieb Viktor stehen. Ein kräftiges Gesicht; mit derben, markigen Zügen, wie nach dem Muster eines Holzschnittes geboren. Uneigennützigkeit und Zielbewußtsein im Ausdruck, feurige Überzeugungshaltung, blicklose Vereinsaugen, nicht gewohnt, Mann gegen Mann zu trotzen, sondern gegenstandslos über eine Menge zu gleiten. Des Mannes Kernspruch vermochte er zu buchstabieren: «Alles durch die Volksschule!» Ja, danach sah der gerade geschrobene Herr aus. Die Welt als eine Erziehungsanstalt aufgefaßt; Zweck des Lebens lernen, hernach lehren; keine Wahrheit, sie schmecke denn nach Weisheit, und keine Weisheit, oder sie röche nach Ermahnung. Das Unheil, das der angestiftet hätte, mit seinem wandtafeligen Überzeugungs-Viereck, wenn ihn das Schicksal statt in die unschädliche Abstimmungsschachtel an das Steuer der Weltgeschichte gestellt hätte!Während er so mit dem Staatsmanne klugäugelte, hatte sich ihm unvermerkt ein Nebenmensch beigesellt, der über seine Schulter weg ebenfalls das Bild betrachtete. «Nicht wahr, ein prächtiger Charakterkopf?» urteilte der Unbekannte bewundernd. Andere Gäste sammelten sich herbei, wie die Fliegen um ein Zuckerstück, und aus der Gruppe kam zum zweitenmal das ehrfürchtige Urteil: «Ein prächtiger Charakterkopf.» Er mußte wohl ein gewichtiger und volksbeliebter Herr gewesen sein, der Charakterkopf; denn das Gespräch blieb bei ihm hangen, nachdem man sich schon längst zu Tisch gesetzt hatte. Beiläufig verlautete auch sein Name – Neukomm. Halt, hast du gehört? Neukomm? So hatte ja auch sie geheißen. Vielleicht gar ein entfernter Verwandter von ihr?«Hat er eigentlich Kinder hinterlassen?» munkelte eine Frage. «Zwei» – meldete die Antwort; «einen Sohn und eine Tochter. Mit dem Sohne ist nicht viel, er dichtet; die Tochter dagegen ist an den bekannten Herrn Direktor Wyß verheiratet. Ein Prachtweib, sag ich Euch; alles dreht sich auf der Straße nach ihr um. Groß, stolz, schwarz wie eine Südländerin (ihre Großmutter war eine Italienerin) und hitzig, potzteufel! Übrigens durch und durch brav und sittsam; kein Mensch kann ihr das mindeste nachsagen. Und eine überzeugungseifrige Patriotin wie ihr Vater selig.» – Der Charakterkopf ihr Vater! So wach doch auf, o meine Vernunft, und reg dich, denn daraus folgt ja eine ganze Menge wichtiger Betrachtungen. Nachlässig bewegte sich seine Vernunft, hob ein wenig den Kopf, dann legte sie sich gleichgültig wieder zur Ruhe, wie ein auf der Straße lagernder Hofhund, wenn der Milchmann vorübergeht. «Die Tatsache ist mir zu dumm», erklärte sie.Nach dem Essen erkundigte sich Viktor beim Oberkellner: «Wohin jetzt, um Zeitungen zu lesen?»«Da gehen Sie am besten ins Café Scherz beim Bahnhof; jedes Kind kann Sie weisen.»
Im vollen Saale fand er noch ein Tischlein am Fenster mit zwei unbesetzten Plätzen. Leute gingen, Leute kamen, sahen sich um; doch niemand nahm ihm gegenüber Platz. «Hier wie überall! Entschieden, Viktor, du hast nichts Einladendes, du bist nicht gemütlich. – Ein fröhlicher Gedanke: Wenn jetzt mitten unter all dem Volk mein getreuer Statthalter säße? warum auch nicht? Er wird sich doch wahrscheinlich auch seine Zeitungen gönnen. Etwa so einer wie der dort hinten, mit den flachsblonden Strähnen und der doppelten Brille im Schafsgesicht? Ein Adonis ist er gerade nicht, das könnte man mit dem besten Willen nicht behaupten; und mehr Geist, als zu einem Herrn Professor unbedingt nötig ist, scheint er auch nicht zu haben. Statthalter, Statthalter, wenn ich dir raten darf, verlaß dich nicht allzusehr auf deine Gelehrtheit, sonst tauft dich eines trüben Morgens deine schöne Juno, auf die du dir so viel einbildest, Doktor Überdruß. Eigentlich nach den Gesetzen der Schicklichkeit müßte man zu ihm hinüber und ihn ein wenig hänseln. Wenn ich nur ganz sicher wäre, daß ers ist! Nun, wir werdens ja bald erwähren. Zehn Minuten nach zwei Uhr; noch drei Viertelstunden. Wie die Zeit schleicht! – Ha! was für ein stattlicher Mann kommt jetzt hereinspaziert! Brr! Ein Held für Mädchenträume. Etwas zum sich ablehnen, zum sich emporranken, eine Stütze fürs Leben! Könnte ich singen, ich sänge: Er, der Herrlichste von allen! Und Jupiterlocken hat er auch! An wen erinnert mich doch dieser minnesame Herkules? – Richtig, an den Herzkönig im Kartenspiel. – Wehe, ihr Jungfrauen, weinet! Schauet den Ehering! Sogar bereits Papa, denn so weltzufrieden schreitet bloß, wer Vatergefühle kennt. – Wie sorgsam er seinen Überrock faltet! und die feine, tadellose Wäsche, die jetzt zum Vorschein kommt! Was noch gar! Ich glaube wahrhaftig, er steuert zu mir. Willkommen, Herrlichster von allen!»Mit einer höflichen Verbeugung ließ sich der Herzkönig nieder; darauf zog er eine Zigarrentasche hervor: «Darf ich mir vielleicht erlauben?» Dankend erwiderte Viktor: «Ich rauche nicht.» Aber hast du die kunstvoll gestickte Zigarrentasche gesehen? Jedenfalls von seiner Frau.Jetzt griff der Herzkönig – «Ist es gestattet?» – eine illustrierte Zeitung auf und schaute wohlwollend, fast gnädig hinein, mit halber Aufmerksamkeit; – dazu trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. Was für gepflegte Fingernägel!Dem Herzkönig schien jedoch nicht sonderlich ums Lesen zu tun; eher ums Plaudern; offenbar hatte ihm das Mittagessen geschmeckt. «Sie als Fremder» – begann er mit zögernder Einleitungsstimme die Unterhaltung, als sich die Kehllaute in ihrer Nähe kräftiger vernehmen ließen, «werden wohl auf unseren etwas rauhen Dialekt nicht besonders günstig zu sprechen sein?»«Nicht Fremder», berichtigte Viktor, kurz ablehnend, «hier geboren und aufgewachsen; bloß viele Jahre in der Fremde gewohnt.»«Ah, um so besser; dann habe ich also das Vergnügen, einen Landsmann in Ihnen zu begrüßen.»Hiernach hüllte er sich wieder hinter die Zeitschrift und begann vor sich hin zu schmunzeln. «Er lutscht an seinem Eheglück wie an einem Lakritzenstengel», dachte Viktor.Als der Lakritzenstengel zu Ende war, zeigte der Herzkönig auf ein Wertherbildnis in seiner Zeitung. «Was ist Ihre Ansicht», hub er nach einigem Zaudern an, «glauben Sie, daß solch eine leidenschaftliche, schwärmerische Liebe heutzutage noch vorkommen könnte?»«Natur kommt immer vor», entgegnete Viktor.Der Herzkönig schmunzelte. «Nicht übel. Es kommt eben alles darauf an, wie eng oder wie weit man den Begriff Natur faßt. Also Sie glauben allen Ernstes, in unserem realistischen Zeitalter –»«Es gibt keine realistischen Zeitalter.»«Wenn Sie so wollen, allerdings nicht. Immerhin, es gibt doch, das werden Sie zugeben, verschieden gestimmte Zeitalter; zum Beispiel solche, in welchen gewisse Seelenzustände, die früher beobachtet wurden, einfach undenkbar wären. Oder könnten Sie sich zum Beispiel einen Johannes der Täufer, einen Franz von Assisi oder, um bei unserem Beispiel zu bleiben, einen Werther mit einem hohen, steifen Hemdenkragen vorstellen? – Verzeihen Sie, ich sagte das ohne die mindeste Anzüglichkeit. Nein, wirklich, ich bitte, glauben Sie mir, es war durchaus harmlos gemeint.»Viktor begütigte lächelnd: «Ich mache keinen Anspruch auf den Titel eines Täufers oder eines Heiligen – ob jedoch der heilige Geist vom Heuschreckenessen komme oder die Ekstase vom Hemdenkragen abhange, möchte ich bezweifeln. Übrigens pflegte sich der Schöpfer des Werther, wenn ich nicht falsch berichtet bin, zierlich, sogar geziert zu kleiden.»Und da nun eine längere Pause entstand, fuhr dem Viktor von der Seite ein Gedanke in den Kopf, den er je länger, je weniger los wurde. «Kennen Sie vielleicht» – wagte er endlich unvermittelt, mit banger Stimme – «kennen Sie vielleicht zufällig hier in der Stadt einen gewissen sogenannten Herrn Direktor Wyß?» – Kaum hatte er den Satz draußen, so spürte er, daß er heiß errötete.Der Herzkönig schaute überrascht auf: «Gewiß; warum?»«Was ist er für eine Spielart von Mensch? ich meine: wie sieht er aus? groß oder klein? jung oder alt? garstig oder angenehm? jedenfalls ein hochgebildeter Herr, nicht wahr? nach seinen Titeln und Ämtern zu schließen?»Der Herzkönig zog ein überaus schlaues Gesicht und lächelte belustigt vor sich hin. «Nun, er hat wie jedermann seine zahlreichen Fehler; daneben vielleicht auch, wie ich mir wenigstens schmeichle, einige erträgliche Eigenschaften. – Doch erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle: Direktor Wyß ist mein Name.»Das kam so anmutig, mit so liebenswürdiger Ironie heraus, daß Viktor, der nichts höher schätzte als Gefühlsfeinheit, jählings von Sympathie erfaßt aufsprang und ihm die Hand anbot, welche der andere eifrig ergriff und schüttelte. Es entstand wie ein Freundschaftsbund zwischen den beiden.Nachdem dann Viktor auch seinen Namen genannt hatte, rief der Direktor hocherfreut: «Da sind Sie also offenbar der Herr, der uns heute morgen die Ehre seines Besuches zugedacht hatte. Wir bedauern aufrichtig; besonders meine Frau, mit der Sie, glaub ich, wenn ich nicht irre, einmal in einem Meerbade zusammengetroffen sind.»«Nicht in einem Meerbade», verbesserte Viktor verstimmt, «sondern in einem Bergkurort.»«Leider muß sie auch diesen Nachmittag auf das Vergnügen verzichten, da sie einen Ausflug mit den Damen des Gesangvereins verabredet hatte; ich komme soeben von der Eisenbahn. Hoffentlich lassen Sie sich indessen dadurch nicht abschrecken, und wenn Sie mirs nicht als eine Zudringlichkeit auslegen wollen, so möchte ich Ihnen vorschlagen, in die Idealia zu kommen; es braucht keinerlei Förmlichkeit; Sie erscheinen ganz einfach als von mir. Zudem ist ja meine Frau Ehrenpräsidentin.»«Idealia?» –«Ach so, ich vergaß, ich bin zerstreut – Sie können ja natürlich nicht wissen –.» Hiernach begann er, weit ausholend, von der Idealia zu erzählen: Eine Stiftung seines seligen Schwiegervaters – anspruchslose Zusammenkünfte ohne Zwang und Feierlichkeit – weder Kleiderprunk noch Schmauserei – nur zur Pflege einer etwas gehaltvolleren Geselligkeit, wo die Erhebung Hand in Hand mit der Erholung gehe (eines schließt ja das andere nicht aus), hauptsächlich die Musik empfehle sich zu solchem Zwecke – und dergleichen mehr, mit Aufzählung von Namen der Mitglieder und Daten der Zusammenkünfte und wie die Runde laufe; gewöhnlich Mittwoch, Freitag und Sonntag.Aufmerksam hielt Viktor der Rede sein Ohr hin, mit dem Geiste dagegen schlich er am Gehör vorbei in die Augen: Das der Statthalter! der Herzkönig! der Herrlichste von allen! Und er, der den Adonis für den Statthalter genommen hatte! Warum hatte er eigentlich vorausgesetzt, der Statthalter müsse ein komischer, mindestens unbeholfener Mensch sein? Oh, durchaus nicht komisch, der Herzkönig! durchaus nicht! – Und starrte ihn unverwandt verblüfft, fast erschrocken an. – Nun, so sei doch froh, Viktor! dient es doch auch deinem Stolze, wenn dein Statthalter eine gute Figur macht. Auch das finde ich völlig in der Ordnung, daß sie ihn offenbar liebt; oder habe ich denn jemals etwas anderes gewünscht? Bewahre; im Gegenteil; es müßte mich bekümmern, wenn es nicht so wäre. – Hingegen wieder sie! Diese Herausforderung! Mit einem Gesangverein über Land zu trudeln, nachdem ich meinen Besuch angekündigt! Ohne Frage, der Dame fehlt das Schamgefühl.«Sie sind doch wahrscheinlich auch musikalisch?» tönte des Statthalters Stimme in seine Gedanken; «oder lieben wenigstens die Musik?»«Ich glaube, ja; das heißt, ich weiß nicht recht, es kommt darauf an.»Da schlug drüben vom Kirchturm die Stunde. «Drei Uhr!» entsetzte sich der Statthalter, erschrocken aufspringend – «ich habe mich verplaudert, ich muß schleunigst ins Museum. – Also, nicht wahr, ich zähle darauf, Sie in der Idealia begrüßen zu dürfen?» Reichte ihm hastig die Hand und sputete davon.
Viktor aber zog verstört durch die Gassen. Er mochte sich noch sooft vorsagen: «Viktor, sei froh», es half nichts, er war gedrückt, niedergeschlagen, entmutigt.Was war ihm denn Schlimmes widerfahren? Nicht das mindeste; und trotzdem war er eben niedergeschlagen. Bis er sich draußen vor der Stadt müde gelaufen hatte. Darauf, zu Hause, wie er die Glieder aufs Ruhbett streckte, wurde ihm wieder leichter. «Zur Gesundheit», wünschte ihm sein Körper.«Danke, Konrad», erwiderte er freundlich. Er pflegte nämlich, weil er mit ihm so gut auskam, sei nen Körper kameradschaftlich Konrad zu nennen.Nachdem er sich sattsam gedehnt hatte, bemerkte er auf dem Tisch ein Brieflein, welches, nach den Naturgesetzen zu schließen, vermutlich schon geraume Weile dort gelegen hatte. Von Frau Steinbach.«Sie böser Mensch! Frau Direktor Wyß braucht vor niemand die Augen niederzuschlagen. Augenblicklich kommen Sie zu mir, damit ich Sie schelte.»Gefaßt, in trotziger Stimmung, gehorchte er der Aufforderung.«Ich wußte gar nicht, daß Sie solch ein unangenehmer Mensch sein können!» – überfiel sie ihn – «Da! setzen Sie sich auf die Anklagebank, und lassen Sie sich verhören. Was haben Sie Frau Direktor Wyß vorzuwerfen?»«Den Ehebruch.»«Was heißt das, in vernünftige Sprache übersetzt?»«Das heißt in vernünftiger Sprache – eine Übersetzung braucht es nicht –, daß sie die Ehe gebrochen hat.»«Jetzt aber, mein Herr, muß ich ernst und scharf mit Ihnen reden; denn es geht um die Ehre einer unbescholtenen Frau. Ich rufe Ihre Wahrhaftigkeit an, der ich fest vertraue, und frage Sie auf Ihr Gewissen: Hat zwischen Ihnen und Theuda Neukomm ein Verlöbnis bestanden?»Heftig wehrte er ab: «Wohin denken Sie!»«Oder dann wenigstens etwas, was einem Verlöbnis gleichkam, was Sie zu der Annahme berechtigte – ein Liebesgeständnis? ein bindendes Wort oder Zeichen? ein Kuß? was weiß ich?»Wiederum verwahrte er sich eifrig: «Nein, nein, nein! Sie sind auf ganz falscher Fährte; es wurden nur wenige und völlig bedeutungslose Worte gewechselt. Ich saß bei Tische neben ihr, wir taten zusammen ein paar Gänge durch den Garten, dann hat sie mir im Saal ein Lied vorgesungen. Weiter nichts.»«Dann also Briefe?»«Warum nicht gar! Dazu war ich viel zu ehrfürchtig, auch zu gewissenhaft; sie wiederum zu vorsichtig. Frauen vergessen sich ja nicht schriftlich, das wissen Sie wohl.»«Ja, was denn? Bitte helfen Sie meinem armen Verstande.»Da verwandelte sich plötzlich sein Gesicht zu fremdem, tiefernstem Ausdruck, als ob er ein Gespenst erblickte. «Eine persönliche Zusammenkunft in der fernen Stadt» – bebte seine Stimme.«Verzeihen Sie, daß ich Ihnen rund widerspreche: Ich weiß das Gegenteil von Frau Direktor, und Frau Direktor Wyß lügt nicht.»«Ich ebenfalls nicht! Wenn ich daher sage: eine persönliche Zusammenkunft, so meine ich natürlich keine körperliche.»Unwillkürlich rückte sie mit dem Stuhle und starrte ihn an. «Keine körperliche? Sie werden doch hoffentlich nicht etwa – oder wie soll ich das verstehn?»«Sie verstehen richtig, es handelt sich um eine Zusammenkunft von Seele zu Seele. – Beruhigen Sie sich; ich bin bei gesundem Verstande und gewahre die äußeren Dinge so scharf wie irgendein anderer. Warum machen Sie so ein ungläubiges Gesicht? Meinen Sie vielleicht, man sähe aus einem möblierten Hause minder deutlich als aus einem leeren? Wenn ich daher von einer Erscheinung rede –»«Sie glauben an Erscheinungen?» – klagte sie.«Wie jedermann, wie zum Beispiel auch Sie. Oder ein Traum, eine Erinnerung, der Nachglanz eines geliebten Antlitzes, das Aufleuchten einer Vision in der Seele eines Künstlers, sind das etwa keine Erscheinungen?»«Bitte, keine sophistischen Kunststücklein! sprechen wir ernsthaft. Denn bei einer Erinnerung, bei einer künstlerischen Offenbarung bleibt man sich eben bewußt, daß es sich um ein bloßes Phantasiebild handelt.»«Dessen bleibe ich mir auch bewußt.»«Gottlob, Sie heilen mich; ich atme auf Sie hatten sich nämlich vorhin so ausgedrückt, daß ich einen Augenblick meinte, Sie wollten ihrer sogenannten Erscheinung bestimmenden Einfluß auf Ihr wirkliches Leben, auf Ihre Handlungen einräumen.»«Das tue ich auch in der Tat.»«Nein, das tun Sie nicht!» rief sie verbieterisch, «das können Sie nicht tun!»Er verbeugte sich – «Verzeihen Sie mir, daß ich mir erlaube, es doch zu tun.»«Aber das ist ja Wahnsinn!» schrie sie auf.Er lächelte: «Was soll Wahnsinn sein, bitte was? Daß ich innere Erlebnisse so hoch werte wie äußere? oder vielmehr unendlich höher? Oder daß ich mich von ihnen bestimmen lasse? – Und das Gewissen? und Gott? Ist es etwa auch Wahnsinn, wenn einer sich von seinem Gewissen oder von seinem Gott in seinen Handlungen beeinflussen läßt?»Sie stutzte einen Augenblick, betroffen, um Antwort verlegen. Er aber fuhr fort: «Der einzige Unterschied ist der, daß die andern sich mit undeutlichen Erscheinungen begnügen, während ich sie klar sehen muß, wie der Maler Mariens Himmelfahrt. Finger Gottes, Auge Gottes, Stimme der Natur, Wink des Schicksals – was tue ich mit diesem anatomischen Museum? Ich will immer das ganze Gesicht sehen.»Mutlos seufzte sie: «Im spitzfindigen Denken sind Sie ja natürlich meinem schwachen Weibesgehirn hundertmal überlegen; auf dieses Gebiet will ich mich indessen gar nicht begeben. Ich kann nur noch bedauern und trauern.»Da legte er die Hand auf ihre Schulter: «Edle Freundin, nicht wahr, Sie haben niemals begriffen, weshalb ich Ihren wohlgemeinten Wink, mir Theuda durch ein bindendes Verlöbnis zu sichern, unbeachtet ließ? Gestehen Sie, Sie waren und sind der Ansicht, ich hätte mein Lebensglück albernerweise aus gemeiner Ehefeigheit verscherzt. Sehen Sie, Sie nicken.»«Sagen wir Unentschlossenheit», milderte sie.«Nein, sagen wir Feigheit; denn Unentschlossenheit ist auch eine Feigheit: Willensfeigheit. Ich aber ertrage es nicht länger, vor Ihrem Urteil in unrichtigem Lichte dazustehen. Ich will Ihnen deshalb meine Gründe mitteilen. Sind Sie bereit zu hören?»«Ich bin zu allem bereit», flüsterte sie und senkte den Kopf, «obschon ich Ihnen nicht verhehle, daß mir dieses Thema peinlich ist, und daß ich nicht einsehe, was das Aufrühren veralteter Geschichten nützen soll. Indessen, wenn Sie wollen –»«Nicht, wenn ich will» – verbesserte er – «sondern, wenn ich muß!» Und mit veränderter Stimme, in gehobenem Tone fing er an: «Nein, nicht aus feiger Unentschlossenheit, nicht aus alberner Torheit habe ich nicht zugegriffen, als leisen Schrittes das heilige Glück mir nahte, mich mit seinen klaren Augen anschauend und mir zuflüsternd: Nimm mich!, sondern wissend, was ich tat, wertend, was ich von mir wies, nach schwerer, reifer Wahl habe ich mit männlichem Entschluß entschieden. Und nun will ich Ihnen meine Entscheidungsstunde erzählen.»Nach diesen Worten machte er eine Pause, wie um Atem zu schöpfen. Als jedoch die Pause nicht enden wollte, schaute sie auf. Da stand er bebend vor ihr, von inneren Stürmen geschüttelt, die Lippen gewaltsam schließend. «Ich kann es Ihnen doch nicht erzählen» – brachte er mühsam hervor – «es geht zu tief» – und stemmte sich aufs Klavier.Geschwind sprang sie auf, um ihn nötigenfalls zu stützen.Doch er hatte sich bereits wieder aufgerichtet.«Ich habe recht entschieden!» – rief er – «ich weiß, ich habe recht entschieden! Und stände ich nochmals vor der Wahl, ich würde nicht anders entscheiden!» Dann nahm er seinen Hut, verbeugte sich und küßte ihr die Hand. «Ich werde es Ihnen aufschreiben», sagte er. Tief ergriffen begleitete sie ihn bis zur Haustür. «Gut», sagte sie, nur um etwas zu reden, und zwang ihre Stimme zu unbefangenem Ton: «Gut, schreiben Sie mirs auf. Sie wissen, daß alles, was Sie bewegt, auch mir nahegeht; und glauben Sie mir, ob ich Sie schon nicht jederzeit verstand und auch jetzt nicht verstehe, so habe ich doch niemals, auch nur einen Augenblick, an der Lauterkeit und Vornehmheit Ihrer Beweggründe gezweifelt.»«Dank! treue edle Freundin!» rief er leidenschaftlich, sie mit beiden Händen stürmisch ergreifend. «Sie heilen mich; es tut so weh, so unerträglich weh, wenn jemand an der Vornehmheit meines Charakters zweifelt.»«Wer hat das jemals getan?» rief sie heftig, fast zornig.Er erstaunte. «Jedermann», antwortete er zaudernd, «das heißt – eigentlich niemand Bestimmtes.»Unterdessen hatte sie sich ihm entwunden und flüchtlings einige Stufen nach oben zurückgezogen. «Und eins noch: nicht wahr, Sie sind nicht ungerecht? Sie tun ihr nichts zuleide?»Er lächelte: «Ich tue keinem Menschen etwas zuleide als höchstens mir selber.» Damit verließ er das Haus.«Sind Sie ein gefährlicher, ein unerlaubter Mensch!» – seufzte sie ihm nach und warf sich erschöpft in den Lehnstuhl, um sich von der Anstrengung zu erholen.
Er aber eilte auf sein Zimmer, das Bekenntnis niederzuschreiben, das er ihr mündlich schuldig geblieben. Und siehe da, während ihn sonst das Schreiben wie Krötengift anwiderte, verspürte er jetzt, nachdem ihm durch das Verhör die Erinnerung aufgewühlt worden war, ein gieriges Verlangen, die Entscheidungsstunde seines Lebens einmal leslich festzubannen, damit sein erhabenes Geheimnis auch außer ihm dastände, unabhängig von seinem Gedächtnis, als feste Wahrheit.So schrieb er denn, knirschend zwar und gegen den Zwang der nüchternen Denkgesetze schäumend, aber in einem einzigen Zuge, in fieberhafter Eile:
Dies Bekenntnis schob er noch in der nämlichen Nacht eigenhändig in die Brieflade. Und am folgenden Morgen schon, mit der Elfuhrpost, erhielt er der Freundin Antwort:
Nichts nützen? wiederholte Viktor, nachdem er den Brief gelesen hatte. Warum nichts nützen? Dadurch unterscheidet sich doch der Mensch vom Maultier, daß er einen gescheiten Rat annimmt. Liebe Freundin, Sie haben einfach recht. Was tue ich hier? was geht mich überhaupt das ganze verpfuschte, verheiratete Dämchen an? Fertig! beschlossen! bleibts dabei: ich will sie meiden, ich will abreisen. Das heißt natürlich, sobald ich meinen alten Freunden und Schulgenossen den schuldigen Gruß werde abgestattet haben. Denn ob ich die Dame schon meiden will, flüchten vor ihr, angstvoll flüchten wie ein christlicher Jüngling vor der Versuchung, das denn doch nicht; dazu habe ich denn doch wahrlich keine Ursache. Sollte also vielleicht der Zufall es fügen, daß ich ohne mein Zutun mit ihr zusammentreffe, um so schlimmer für sie.Und ein kleines, krummes Wünschlein wurmte zuunterst in seiner Seele, der Zufall möchte es fügen. |