BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Nietzsche

1844 - 1900

 

Idyllen aus Messina

 

1882

 

Textgrundlage:

Idyllen aus Messina in:

Internaltionalen Monatsschrift, 1. Jahrg., Nr. 5 (Mai), S. 269-275,

Hrsg.: Ernst Schmeitzner, Chemnitz 1882

 

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Prinz Vogelfrei

Die kleine Brigg, genannt «das Engelchen»

Lied des Ziegenhirten

Die kleine Hexe

Das nächtliche Geheimniß

«Pia, caritatevole, amoresissima»

Vogel Albatroß

Vogel-Urtheil

 

 

Prinz Vogelfrei

 

So hang ich denn auf krummem Aste

Hoch über Meer und Hügelchen:

Ein Vogel lud mich her zu Gaste -

Ich flog ihm nach und rast' und raste

Und schlage mit den Flügelchen.

 

Das weiße Meer ist eingeschlafen,

Es schläft mir jedes Weh und Ach.

Vergessen hab' ich Ziel und Hafen,

Vergessen Furcht und Lob und Strafen:

Jetzt flieg ich jedem Vogel nach.

 

Nur Schritt für Schritt - das ist kein Leben!

Stäts Bein vor Bein macht müd und schwer!

Ich laß mich von den Winden heben,

Ich liebe es, mit Flügeln schweben

Und hinter jedem Vogel her.

 

Vernunft? – das ist ein bös Geschäfte:

Vernunft und Zunge stolpern viel!

Das Fliegen gab mir neue Kräfte

Und lehrt' mich schönere Geschäfte,

Gesang und Scherz und Liederspiel.

 

Einsam zu denken – das ist weise.

Einsam zu singen – das ist dumm!

So horcht mir denn auf meine Weise

Und setzt euch still um mich im Kreise,

Ihr schönen Vögelchen, herum!

 

 

Die kleine Brigg, genannt «das Engelchen».

 

Engelchen: so nennt man mich –

Jetzt ein Schiff, dereinst ein Mädchen,

Ach, noch immer sehr ein Mädchen!

Denn es dreht um Liebe sich

Stäts mein feines Steuerrädchen.

 

Engelchen: so nennt man mich –

Bin geschmückt mit hundert Fähnchen,

Und das schönste Kapitänchen

Bläht an meinem Steuer sich,

Als das hundert erste Fähnchen.

 

Engelchen: so nennt man mich –

Ueberall hin, wo ein Flämmchen

Für mich glüht, lauf ich ein Lämmchen

Meinen Weg sehnsüchtiglich:

Immer war ich solch ein Lämmchen.

 

Engelchen: so nennt man mich –

Glaubt ihr wohl, daß wie ein Hündchen

Bell'n ich kann und daß mein Mündchen

Dampf und Feuer wirft um sich?

Ach, des Teufels ist mein Mündchen!

 

Engelchen: so nennt man mich –

Sprach ein bitterböses Wörtchen

Einst, daß schnell zum letzten Oertchen

Mein Geliebtester entwich:

Ja, er starb an diesem Wörtchen!

 

Engelchen: so nennt man mich –

Kaum gehört, sprang ich vom Klippchen

In den Grund und brach ein Rippchen,

Daß die liebe Seele wich:

Ja, sie wich durch dieses Rippchen!

 

Engelchen: so nennt man mich –

Meine Seele, wie ein Kätzchen,

That eins, zwei, drei, vier, fünf Sätzchen,

Schwang dann in dies Schiffchen sich –

Ja, sie hat geschwinde Tätzchen.

 

Engelchen: so nennt man mich –

Jetzt ein Schiff, dereinst ein Mädchen,

Ach, noch immer sehr ein Mädchen!

Denn es dreht um Liebe sich

Stäts mein feines Steuerrädchen.

 

 

Lied des Ziegenhirten.

(An meinen Nachbar Theokrit von Syrakusa)

 

Da lieg ich, krank im Gedärm –

Mich fressen die Wanzen.

Und drüben noch Licht und Lärm:

Ich hör's, sie tanzen.

 

Sie wollte um diese Stund'

Zu mir sich schleichen:

Ich warte wie ein Hund –

Es kommt kein Zeichen!

 

Das Kreuz, als sie's versprach!

Wie konnte sie lügen?

Oder läuft sie Jedem nach,

Wie meine Ziegen?

 

Woher ihr seidner Rock? –

Ah, meine Stolze?

Es wohnt noch mancher Bock

An diesem Holze?

 

Wie kraus und giftig macht

Verliebtes Warten!

So wächst bei schwüler Nacht

Giftpilz im Garten.

 

Die Liebe zehrt an mir

Gleich sieben Uebeln –

Nichts mag ich essen schier,

Lebt wohl, ihr Zwiebeln!

 

Der Mond ging schon in's Meer,

Müd sind alle Sterne,

Grau kommt der Tag daher –

Ich stürbe gerne.

 

 

Die kleine Hexe.

 

So lang noch hübsch mein Leibchen,

Lohnt sichs schon, fromm zu sein.

Man weiß, Gott liebt die Weibchen,

Die hübschen obendrein.

Er wird's dem art'gen Mönchlein

Gewißlich gern verzeihn,

Daß er, gleich manchem Mönchlein,

So gern will bei mir sein.

 

Kein grauer Kirchenvater!

Nein, jung noch und oft roth,

Oft gleich dem grausten Kater

Voll Eifersucht und Noth!

Ich liebe nicht die Greise,

Er liebt die Alten nicht:

Wie wunderlich und weise

Hat Gott dies eingericht!

 

Die Kirche weiß zu leben,

Sie prüft Herz und Gesicht.

Stäts will sie mir vergeben: –

Ja wer vergiebt mir nicht!

Man lispelt mit dem Mündchen,

Man knixt und geht hinaus

Und mit dem neuen Sündchen

Löscht man das alte aus.

 

Gelobt sei Gott auf Erden,

Der hübsche Mädchen liebt

Und derlei Herzbeschwerden

Sich selber gern vergiebt!

So lang noch hübsch mein Leibchen,

Lohnt sich's schon, fromm zu sein:

Als altes Wackelweibchen

Mag mich der Teufel frein!

 

 

Das nächtliche Geheimniß.

 

Gestern Nachts, als Alles schlief,

Kaum der Wind mit ungewissen

Seufzern durch die Gassen lief,

Gab mir Ruhe nicht das Kissen,

Noch der Mohn, noch, was sonst tief

Schlafen macht – ein gut Gewissen.

 

Endlich schlug ich mir den Schlaf

Aus dem Sinn und lief zum Strande.

Mondhell war's und mild – ich traf

Mann und Kahn auf warmem Sande,

Schläfrig beide, Hirt und Schaf: –

Schläfrig stieß der Kahn vom Lande.

 

Eine Stunde, leicht auch zwei,

Oder war's ein Jahr? – da sanken

Plötzlich mir Sinn und Gedanken

In ein ew'ges Einerlei,

Und ein Abgrund ohne Schranken

That sich auf: – da war's vorbei!

 

Morgen kam: auf schwarzen Tiefen

Steht ein Kahn und ruht und ruht – –

Was geschah? so riefs, so riefen

Hundert bald – was gab es? Blut? –

Nichts geschah! Wir schliefen, schliefen

Alle – ach, so gut! so gut!

 

 

«Pia, caritatevole, amoresissima».

(Auf dem campo santo.)

 

O Mädchen, das dem Lamme

Das zarte Fellchen kraut,

Dem Beides, Licht und Flamme,

Aus beiden Augen schaut,

Du lieblich Ding zum Scherzen,

Du Liebling weit und nah,

So fromm, so mild von Herzen,

Amorosissima!

 

Was riß so früh die Kette?

Wer hat dein Herz betrübt?

Und liebtest du, wer hätte

Dich nicht genug geliebt? –

Du schweigst – doch sind die Thränen

Den milden Augen nah:

Du schwiegst – und starbst vor Sehnen,

Amorosissima?

 

 

Vogel Albatroß

 

O Wunder! Fliegt er noch?

Er steigt empor und seine Flügel ruhn!

Was hebt und trägt ihn doch?

Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun?

 

Er flog zu höchst – nun hebt

Der Himmel selbst den siegreich Fliegenden:

Nun ruht er still und schwebt,

Den Sieg vergessend und den Siegenden.

 

Gleich Stern und Ewigkeit

Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht,

Mitleidig selbst dem Neid –:

Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht!

 

O Vogel Albatroß!

Zur Höhe treibt's mit ew'gem Triebe mich!

Ich dachte dein: da floß

Mir Thrän' um Thräne – ja, ich liebe dich!

 

 

Vogel-Urtheil.

 

Als ich jüngst, mich zu erquicken,

Unter dunklen Bäumen saß,

Hört' ich ticken, leise ticken,

Zierlich, wie nach Takt und Maaß.

Böse wurd' ich, zog Gesichter,

Endlich aber gab ich nach,

Bis ich gar, gleich einem Dichter,

Selber mit im Tiktak sprach.

 

Wie mir so im Versemachen

Silb' um Silb' ihr Hopsa sprang,

Mußt ich plötzlich lachen, lachen

Eine Viertelstunde lang,

Du ein Dichter? Du ein Dichter?

Stehts mit deinem Kopf so schlecht? –

«Ja, mein Herr! Sie sind ein Dichter!»

– Also sprach der Vogel Specht.