BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Hölderlin

1770 - 1843

 

Briefe

 

1799

Hölderlin an Susette Gontard

 

Susette Gontard (179 - 1802) war die Ehefrau des Frankfurter Bankiers Jakob Friedrich Gontard, in dessen Haus Hölderlin ab 1796 als Hauslehrer tätig war. Sie wurde seine große Liebe und die „Diotima“ seines „Hyperions“. 1798 erfährt der Ehemann von ihrer Beziehung und Hölderlin muß das Haus verlassen. Doch er hält durch heimliche Treffen und Briefe bis Mai 1800 Kontakt zu ihr. 1802 stirbt Susette an den Röteln.

 

 

Textgrundlage:

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 6, Briefe.

Hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart: Cotta, 1959

 

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[Vermutlich Ende Juni 1799]

 

Täglich muß ich die verschwundene Gottheit wieder rufen. Wenn ich an große Männer denke, in großen Zeiten, wie sie, ein heilig Feuer, um sich griffen, und alles Todte, Hölzerne, das Stroh der Welt in Flamme verwandelten, die mit ihnen aufflog zum Himmel, und dann an mich, wie ich oft, ein glimmend Lämpchen umhergehe, und betteln möchte um einen Tropfen Öl, um eine Weile noch die Nacht hindurch zu scheinen – siehe! da geht ein wunderbarer Schauer mir durch alle Glieder, und leise ruf ich mir das Schrekenswort zu: lebendig Todter!

Weist Du, woran es liegt, die Menschen fürchten sich voreinander, daß der Genius des einen den andern verzehre, und darum gönnen sie sich wohl Speise und Trank, aber nichts, was die Seele nährt, und können es nicht leiden, wenn etwas, was sie sagen und thun, im andern einmal geistig aufgefaßt, in Flamme verwandelt wird. Die Thörigen! Wie wenn irgend etwas, was die Menschen einander sagen könnten, mehr wäre, als Brennholz, das erst, wenn es vom geistigen Feuer ergriffen wird, wieder zu Feuer wird, so wie es aus Leben und Feuer hervorgieng. Und gönnen sie die Nahrung nur gegenseitig einander, so leben und leuchten ja beide, und keiner verzehrt den andern.

Erinnerst Du Dich unserer ungestörten Stunden, wo wir und wir nur um einander waren? Das war Triumph! beede so frei und stolz und wach und blühend und glänzend an Seel und Herz und Auge und Angesicht, und beede so in himmlischem Frieden neben einander! Ich hab' es damals schon geahndet und gesagt: man könnte wohl die Welt durchwandern und fände es schwerlich wieder so. Und täglich fühl' ich das ernster.

 

Gestern Nachmittag kam Morbek zu mir aufs Zimmer. «Die Franzosen sind schon wieder in Italien geschlagen», sagt' er. «Wenns nur gut mit uns steht, sagt' ich ihm, so steht es schon gut in der Welt», und er fiel mir um den Hals und wir küßten uns die tiefbewegte freudige Seele auf die Lippen und unsre weinenden Augen begegneten sich. Dann gieng er. Solche Augenblike hab' ich doch noch. Aber kann das eine Welt ersezen? Und das ists, was meine Treue ewig macht. In dem und jenem sind viele vortreflich. Aber eine Natur, wie Deine, wo so alles in innigem unzerstörbarem lebendigem Bunde vereint ist, diese ist die Perle der Zeit, und wer sie erkannt hat, und wie ihr himmlisch angeboren eigen Glük dann auch ihr tiefes Unglük ist, der ist auch ewig glüklich und ewig unglüklich.