BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Hölderlin

1770 - 1843

 

Gedichte

in chronologischer Folge

 

1799

 

Textgrundlage:

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 1, Gedichte bis 1800

Hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart: Cotta, 1953

 

______________________________________________________________________________

 

 

 

Der Main

 

Wohl manches Land der lebenden Erde möcht'

Ich sehn, und öfters über die Berg' enteilt

Das Herz mir, und die Wünsche wandern

Über das Meer, zu den Ufern, die mir

 

Vor andern, so ich kenne, gepriesen sind;

Doch lieb ist in der Ferne nicht Eines mir,

Wie jenes, wo die Göttersöhne

Schlafen, das trauernde Land der Griechen.

 

Ach! einmal dort an Suniums Küste möcht'

Ich landen, deine Säulen, Olympion!

Erfragen, dort, noch eh der Nordsturm

Hin in den Schutt der Athenertempel

 

Und ihrer Götterbilder auch dich begräbt;

Denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt,

Die nicht mehr ist! – und o ihr schönen

Inseln Ioniens, wo die Lüfte

 

Vom Meere kühl an warme Gestade wehn,

Wenn unter kräft'ger Sonne die Traube reift,

Ach! wo ein goldner Herbst dem armen

Volk in Gesänge die Seufzer wandelt,

 

Wenn die Betrübten izt ihr Limonenwald

Und ihr Granatbaum, purpurner Äpfel voll

Und süßer Wein und Pauk' und Zithar

Zum labyrintischen Tanze ladet –

 

Zu euch vieleicht, ihr Inseln! geräth noch einst

Ein heimathloser Sänger; denn wandern muß

Von Fremden er zu Fremden, und die

Erde, die freie, sie muß ja leider!

 

Statt Vaterlands ihm dienen, so lang er lebt,

Und wenn er stirbt – doch nimmer vergeß ich dich,

So fern ich wandre, schöner Main! und

Deine Gestade, die vielbeglükten.

 

Gastfreundlich nahmst du Stolzer! bei dir mich auf

Und heitertest das Auge dem Fremdlinge,

Und still hingleitende Gesänge

Lehrtest du mich und geräuschlos Leben.

 

O ruhig mit den Sternen, du Glüklicher!

Wallst du von deinem Morgen zum Abend fort,

Dem Bruder zu, dem Rhein; und dann mit

Ihm in den Ocean freudig nieder!