BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Hölderlin

1770 - 1843

 

Gedichte

in chronologischer Folge

 

1793

 

Textgrundlage:

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 1, Gedichte bis 1800

Hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart: Cotta, 1946

 

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An Hiller

 

Du lebtest, Freund! – Wer nicht die köstliche

Reliquie des Paradieses, nicht

Der Liebe goldne königliche Frucht,

Wie du, auf seinem Lebenswege brach,

Wem nie im Kreise freier Jünglinge

In süßem Ernst der Freundschaft trunkne Zähre

Hinab ins Blut der heil'gen Rebe rann,

Wer nicht, wie du, aus dem begeisternden

Dem ewigvollen Becher der Natur

Sich Muth und Kraft, und Lieb' und Freude trank,

Der lebte nie, und wenn sich ein Jahrhundert,

Wie ein Last, auf seiner Schulter häuft. –

Du lebtest, Freund! es blüht nur wenigen

Des Lebens Morgen, wie er dir geblüht;

Du fandest Herzen, dir an Einfalt, dir

An edlem Stolze gleich; es sproßten dir

Viel schöne Blüthen der Geselligkeit;

Auch adelte die innigere Lust,

Die Tochter weiser Einsamkeit, dein Herz;

Für jeden Reiz der Hügel und der Thale,

Für jede Grazien des Frülings ward

Ein offnes unumwölktes Auge dir.

 

Dich, Glüklicher, umfieng die Riesentochter

Der schaffenden Natur, Helvetia;

Wo frei und stark, der alte, stolze Rhein

Vom Fels hinunter donnert, standest du

Und jubeltest ins herrliche Getümmel.

Wo Fels und Wald ein holdes zauberisches

Arkadien umschließt, wo himmelhoch Gebirg,

Deß tausendjähr'gen Scheitel ew'ger Schnee,

Wie Silberhaar des Greisen Stirne, kränzt,

Umschwebt von Wetterwolken und von Adlern,

Sich unabsehbar in die Ferne dehnt,

Wo Tells und Walthers heiliges Gebein

Der unentweihten freundlichen Natur

Im Schoose schläft, und manches Helden Staub

Vom leisen Abendwind emporgeweht,

Des Sennen sorgenfreies Dach umwallt,

Dort fühltest du, was groß und göttlich ist,

Von seeligen Entwürfen glühte dir,

Von tausend goldnen Träumen deine Brust;

Und als du nun vom lieben heilgen Lande

Der Einfalt und der freien Künste schiedst,

Da wölkt freilich sich die Stirne dir,

Doch schuff dir bald mit ihrem Zauberstaabe

Manch seelig Stündchen die Erinnerung.

 

Wohl ernster schlägt sie nun, die Scheidestunde;

Denn ach! sie mahnt, die unerbittliche,

Daß unser liebstes welkt, daß ew'ge Jugend

Nur drüben im Elysium gedeiht;

Sie wirft uns auseinander, Herzensfreund!

Wie Mast und Seegel vom zerriss'nen Schiffe

Im wilden Ocean der Sturm zerstreut.

Vieleicht indeß uns andre nah und ferne

Der unerforschten Pepromene Wink

Durch Steppen oder Paradiese führt,

Fliegst du der jungen seeligeren Welt

Auf deiner Philadelphier Gestaden

Voll frohen Muths im fernen Meere zu;

Vieleicht, daß auch ein süßes Zauberband

Ans abgelebte feste Land dich fesselt!

Denn traun! ein Räthsel ist des Menschen Herz!

Oft flammt der Wunsch, unendlich fortzuwandern,

Unwiderstehlich herrlich in uns auf;

Oft däucht uns auch im engbeschränkten Kreise

Ein Freund, ein Hüttchen, und ein liebes Weib

Zu aller Wünsche Sättigung genug. –

Doch werfe, wie sie will, die Scheidestunde

Die Herzen, die sich lieben, auseinander!

Es scheuet ja der Freundschaft heil'ger Fels

Die träge Zeit, und auch die Ferne nicht.

Wir kennen uns, du Theurer! – Lebe wohl!