BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Hölderlin

1770 - 1843

 

Gedichte

in chronologischer Folge

 

1790

 

Textgrundlage:

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 1, Gedichte bis 1800

Hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart: Cotta, 1946

 

______________________________________________________________________________

 

 

 

Lied der Liebe

 

Erste Fassung

 

Engelfreuden ahndend wallen

Wir hinaus auf Gottes Flur

Wo die Jubel wiederhallen

In dem Tempel der Natur;

Heute soll kein Auge trübe,

Sorge nicht hienieden sein,

Jedes Wesen soll der Liebe

Wonniglich, wie wir, sich freu'n.

 

Singt den Jubel, Schwestern! Brüder!

Vestgeschlungen! Hand in Hand!

Singt das heiligste der Lieder

Von dem hohen Wesenband!

Steigt hinauf am Rebenhügel,

Blikt hinab ins Schattenthal!

Überall der Liebe Flügel,

Wonnerauschend überall!

 

Liebe lehrt das Lüftchen kosen

Mit den Blumen auf der Au,

Lokt zu jungen Frülingsrosen

Aus der Wolke Morgenthau

Liebe ziehet Well' an Welle

Freundlichmurmelnd näher hin,

Leitet aus der Kluft die Quelle

Sanft hinab ins Wiesengrün.

 

Berge knüpft mit eh'rner Kette

Liebe an das Firmament,

Donner ruft sie an die Stätte

Wo der Sand die Pflanze brennt,

Um die hehre Sonne leitet

Sie die treuen Sterne her,

Folgsam ihrem Winke gleitet

Jeder Strom ins weite Meer.

 

Liebe wallt in Wüsteneien,

Höhnt des Dursts im dürren Sand,

Sieget, wo Tyrannen dräuen,

Steigt hinab ins Todtenland;

Liebe trümmert Felsen nieder

Zaubert Paradiese hin,

Schaffet Erd und Himmel wieder

Göttlich, wie im Anbeginn.

 

Liebe schwingt den Seraphsflügel

Wo der Gott der Götter wohnt

Lohnt den Schweis am Felsenhügel

Wann der Richter einst belohnt,

Wann die Königsstühle trümmern,

Hin ist jede Scheidewand

Adelthaten heller schimmern

Reiner, denn der Krone Tand.

 

Mag uns jezt die Stunde schlagen

Jezt der lezte Othem weh'n!

Brüder! drüben wird es tagen,

Schwestern! dort ist Wiedersehn;

Jauchzt dem heiligsten der Triebe,

Die der Gott der Götter gab,

Brüder! Schwestern! jauchzt der Liebe!

Sie besieget Zeit und Grab!