Kaspar Hauser
1812 - 1833
Kaspar HauserEinträge in historischen Lexika
1905
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Meyers Großes Konversations-LexikonBand 8, 1905, S. 855 ff.
Hauser, Kaspar, der vielbesprochene Findling, dessen Geschichte noch heute nicht ganz aufgeklärt ist. Am Pfingstmontag (26. Mai) 1828 nachmittags überreichte auf dem Unschlittmarkt in Nürnberg ein junger Mensch in der Kleidung eines Bauernburschen und von ungeschickter Haltung einem Bürger einen Brief an den Rittmeister v. Wessenig, zu dem er geführt wurde, der ihn aber der Polizei überwies. In dem Briefe, von der Bayerschen Gränz daß Orte ist unbenannt 1828“, nannte sich der Schreiber desselben einen armen Tagelöhner und sagte, der Knabe sei ihm 7. Okt. 1812 vor die Tür gelegt worden; er habe ihn heimlich ausgezogen, aber Lesen, Schreiben und das Christentum gelehrt, ihn nur bei Nacht reisend bis Neumarkt gebracht; derselbe wolle Reiter (Schwolischeh“) werden. Ein angeblich von der Mutter mit lateinischen Buchstaben geschriebener Zettel, der aber offenbar von derselben Hand herrührte, besagte, daß sie den Knaben 30. April 1812 geboren habe, daß sein Name Kaspar und sein Vater, ehemals Chevauleger beim 6. Regiment in Nürnberg, gestorben sei. H. wurde vom Magistrat in Nürnberg als verwahrloster, heimatloser Junge auf dem Vestnerturm unter Aussicht eines Gefängniswärters gehalten, eine gründliche Vernehmung des Unbekannten fand nicht statt, vielmehr stellte der Bürgermeister Binder aus den teilweise in H. hineingefragten Antworten eine Legende zusammen, die er 7. Juli 1828 amtlich veröffentlichte, und die, obwohl mit den Tatsachen vielfach im Widerspruch und daher auch von den Behörden nicht gebilligt, doch von dem sensationslüsternen Publikum als aktenmäßige Wahrheit angenommen wurde. Danach sei H. von seiner Kindheit an, bloß mit einem Hemd und mit Hosen bekleidet, in einem engen Raum, worin er nicht einmal ausgestreckt liegen konnte, bei Wasser und Brot von einem Mann ausgezogen worden, der ihn keinen Schritt ins Freie tun ließ und ihn notdürftig schreiben und lesen lehrte; das Spielen mit zwei hölzernen Pferden sei lange Zeit seine einzige Beschäftigung gewesen. Anfänglich hatte man in dem Knaben einen Napoleoniden zu finden gemeint, sodann den Abkömmling eines Bamberger Domherrn v. Gutenberg, der ihn mit einer Dame Königsheim (in Gotha) gezeugt haben sollte; andre brachten ihn mit einer Dame von hohem Rang in Ungarn in Verbindung. Das Aussetzen einer vom König bis auf 10,000 Gulden gesteigerten Belohnung auf die Entdeckung der wahren Verhältnisse Hausers war ebenso fruchtlos wie die Bemühungen des Lords Stanhope und des Herrn v. Pirch, der H. mit nach Ungarn nahm. Am 18. Juli 1828 ward H. dem Professor Daumer in Nürnberg zur Erziehung übergeben; doch nahmen seine anfängliche Wißbegierde, sein Gedächtnis und die Schärfe seiner Sinne rasch ab; seine Fortschritte waren gering, sein Wesen träge, verlogen, reizbar und eitel. Am 17. Okt. 1829 aus einer ungefährlichen Schnittwunde auf der Stirn blutend angetroffen, sagte H. aus, sie sei ihm von einem Mann mit einem ganz schwarzen Kopf, während er auf dem Abtritt war, durch einen Schlag beigebracht worden. Alle Nachforschungen nach dem Täter blieben fruchtlos, H. kam zu seiner Sicherheit in das Haus des Magistratsrates Biberbach und ward durch zwei Soldaten fortwährend bewacht. 1830 nahm ihn der Freiherr v. Tucher, zu seinem Vormund bestellt, in sein Haus, 1831 nahm ihn Lord Stanhope als Pflegesohn an und schickte ihn zu seiner weitern Ausbildung nach Ansbach. Hier arbeitete H. in einem Bureau des Appellationsgerichts und war fast vergessen, als sein Tod von neuem von ihm reden machte. Am 14. Dez. 1833, abends gegen 5 Uhr, kam H. bei heftigem Schneegestöber verwundet aus dem Hofgarten zurück und starb drei Tage darauf. Ein Unbekannter, sagte H. aus, habe ihn unter dem Vorwand, ihm Nachrichten über seine Herkunft mitzuteilen, in den Schloßgarten bestellt und ihm dort eine tiefe Stichwunde in die linke Seite beigebracht; auch habe er im Schloßgarten einen Beutel verloren. Der Beutel, mit einem geheimnisvollen Zettel, ward auf der bezeichneten Stelle, wo jedoch ungeachtet des frischen Schnees nur die Fußstapfen eines einzigen Menschen zu bemerken waren, gefunden und überbracht. Diese und andre rätselhafte Umstände auch beim ersten Mordanfall gaben dem Verdacht aufs neue Raum, daß H. durch diese Verwundung, die aber tödlich wurde, das erkaltete Interesse an seiner Person wieder habe auffrischen wollen. Nachdem aufgetauchte Vermutungen über die Herkunft des Findlings sich als haltlos erwiesen und die Mehrzahl der Personen, die sich mit H. beschäftigt hatten, zuletzt durch seine sich steigernde Verlogenheit und die vielen Widersprüche zu der Annahme eines planmäßigen Betrugs gelangten, veröffentlichte ein badischer Flüchtling, Garnier, im März 1834 zu Straßburg eine Broschüre: Einige Beiträge zur Geschichte Kaspar Hausers“, in der zuerst die (nur auf einem Sensationsroman von Seybold beruhende) Ansicht aufgestellt war, H. sei der am 29. Sept. 1812 geborne Sohn des Großherzogs Karl von Baden und seiner Gemahlin Stephanie Beauharnais und von der Gräfin Hochberg, der Witwe des Großherzogs Karl Friedrich, geraubt, die ein andres, todkrankes, 16. Okt. 1812 auch gestorbenes Kind untergeschoben habe, um ihren eignen Söhnen die badische Thronfolge zu verschaffen (vgl. Karl [K. Friedrich von Baden] und Hochberg.) Mit weitern Details ausgeschmückt, wiederholte diese Kombination Sebastian Seiler (K. H., der Thronerbe Badens“ Par. 1840, 3. Aufl. 1847) und beschuldigte den badischen Major Hennenhofer der Mitschuld, die durch seine (gefälschten) Briefe und Memoiren bewiesen werde. Die Ansicht vom badischen Ursprung Hausers befestigte sich, als im 2. Band von Ludwig Feuerbachs Werk Anselm Ritter v. Feuerbachs Leben und Wirken“ (Leipz. 1852) ein geheimes Memoire über H. für den bayrischen Hof vom J. 1832 veröffentlicht wurde, worin A. Feuerbach die Identität Hausers mit dem 1812 gebornen Erbprinzen von Baden als eine moralische Gewißheit begründete. Das Schweigen der badischen Regierung bestärkte diese Meinung, die eine Schrift von F. K. Broch (G. F. Kolb): K. H., kurze Schilderung seines Erscheinens und seines Todes“ (Zürich 1859), ausführlich zu begründen suchte, und der auch Daumer, obwohl er 1832 und noch 1859 in seinen Enthüllungen über K. H.“ ein andre Ansicht ausgesprochen, in einem neuen Buch (K. H., sein Wesen, seine Unschuld etc.“, Regensb. 1873) und Hausers früherer Vormund, v. Tucher, beitraten. Erst die Veröffentlichung der offiziellen Urkunden über die Nottaufe, die Leichenöffnung und die Beisetzung des am 29. Sept. 1812 gebornen und 16. Okt. 1812 gestorbenen Erbprinzen von Baden in der Augsburger Allgemeinen Zeitung“ (1875, Nr. 154) beseitigte jeden Verdacht gegen Baden. Der Sohn eines Lehrers von H., Julius Meyer, begründete zuerst in den Authentischen Mitteilungen über K. H., aus den Gerichts- und Administrativakten zusammengestellt“ (Ansbach 1872), die alle H. betreffenden Urkunden enthalten, die Ansicht von Hausers Betrug. Das gründliche Werk von A. v. d. Linde: Kaspar H., eine neugeschichtliche Legende“ (Wiesb. 1886, 2 Bde.), das auch die gesamte umfangreiche Literatur ausführt, hat unwiderleglich festgestellt, daß H. anfangs, weil er etwas zu verdecken hatte, ein Lügner, durch die Überspanntheit seiner Umgebung (besonders Daumers und Tuchers) zum Betrüger und schließlich zum Selbstmörder wurde. Die auffällig lebhafte Teilnahme, die H. bei den Zeitgenossen fand, erklärt sich aus dem Mangel jedes andern öffentlichen Interesses im damaligen Deutschland, während die anfängliche Unterlassung jeder systematischen Nachforschung es begreiflich macht, daß man nicht weiß, wer der Betrüger gewesen ist. Vgl. O. Mittelstädt, Kaspar H. und sein badisches Prinzentum (Heidelb. 1876), wo alles bis dahin bekannte Material kritisch geprüft ist. Die spätern Schriften von Kolb (Regensb. 1883) und Artin (Zürich 1892) sind wertlos. Die gesamte Literatur über H. stellte Braun im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ (28. u. 30. Dez. 1901) zusammen.
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