Kaspar Hauser
1812 - 1833
Anselm von Feuerbach:Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechensam Seelenleben des Menschen
1832
|
|
______________________________________________________________________________
|
|
[121] |
VII.
Kaspar Hausers Gesundheit hatte unter sorgfältiger Pflege der würdigen Daumer'schen Familie, bei zweckmäßiger Leibesbewegung und angemessener Beschäftigung bedeutend gewonnen. Er lernte fleißig, nahm zu an allerlei Kenntnissen, machte Fortschritte im Rechnen und Schreiben, und brachte es im letzten bald so weit, daß er, ungefähr im Sommer 1829, es unternehmen konnte, dem Verlangen seiner Vorgesetzten entsprechend, die Erinnerungen seines Lebens in einen schriftlichen Aufsatz zu bringen. Diesen ersten Versuch eigner Darstellung seiner Gedanken, so gewiß er nur als Urkunde seiner lange zurückgehaltenen Bildung, und der Dürftigkeit und Ungelenkigkeit seines noch ganz kinderhaften Geistes gelten konnte, betrachtete gleichwohl er selbst mit den Augen eines jungen Autors, der sein erstes Feder-Product aus der Presse hervorgehen sieht. In seinem Schriftstellerkitzel wurde die sogenannte Lebensbeschreibung den ihn besuchenden Einheimischen und Fremden [122] vorgezeigt, und bald erzählte man sogar in mehren öffentlichen Blättern: – Kaspar Hauser arbeite an seiner Lebensbeschreibung. Sehr wahrscheinlich, daß gerade dieses Gerücht die Katastrophe herbeiführte, die bald nachher, im October desselben Jahrs (1829), seinem kurzen Leben ein tragisches Ende zu bereiten die Absicht hatte.Kaspar Hauser – wenn es erlaubt ist, hier Vermuthungen einzuflechten – war dem oder denjenigen, die ihn im Verborgenen verwahrten, endlich zur gefährlichen Last geworden. Das Kind, das man lange gefüttert hatte, war zum Knaben, endlich zum Jüngling herangewachsen. Er fing an unruhig zu werden, es regten sich seine Kräfte, er machte schon zuweilen Lärm und mußte durch empfindliche Schläge – wovon er noch die frischen Spuren nach Nürnberg mitbrachte – zur Ruhe gebracht werden. Warum man sich seiner nicht auf anderem Weg entledigte? warum man ihn nicht tödtete? warum man ihn überhaupt nicht schon als Kind aus der Welt geschafft? ob er nicht vielleicht seinem Wärter in mörderischer Absicht übergeben worden, dieser aber, entweder aus Mitleid oder um gewisse, dem auf die Seite geschafften Kind günstigere Zeiten abzuwarten, oder aus andern, leicht denkbaren Beweggründen, das Kind auf eigne Gefahr beim Leben erhalten und [123] aufgefüttert habe? bleibt der Vermuthung eines Jeden Preis gegeben. Indessen – die Zeit war gekommen, oder vielmehr sie war nicht gekommen; der Verheimlichte konnte nicht länger verborgen gehalten werden, man mußte seiner auf irgend eine Weise los zu werden suchen und – schaffte ihn im Bettlergewand nach Nürnberg, wo er, wie man hoffte, als Vagabund oder Blödsinniger in irgend einer öffentlichen Anstalt, oder, wenn die ihm mitgegebene Empfehlung zum Reiterstand berücksichtigt wurde, als Soldat in einem Regiment verschwinden sollte. Gegen alle Erwartung traf keine dieser Berechnungen ein; der unbekannte Findling gewann sich menschliche Theilnahme, wurde Gegenstand öffentlicher allgemeiner Aufmerksamkeit; die Tagblätter füllten sich mit Nachrichten und Nachfragen über den räthselhaften jungen Mann; erst ein Adoptiv-Kind Nürnbergs, wofür ihn der Magistrat dieser Stadt in seiner öffentlichen Bekanntmachung erklärt hatte, wird er endlich sogar das Kind – Europa's. Man spricht aller Orten von Kaspars geistiger Entwickelung, man erzählt dem Publicum Wunder von seinen Fortschritten und – nun schreibt sogar dieser Halbmensch seine Lebensbeschreibung! Wer sein Leben beschreibt, muß von seinem Leben etwas zu erzählen wissen; es mußte daher denen, die alle Ursache hatten, in [124] der Dunkelheit zu bleiben, welche sie um sich selbst und die zu ihnen führenden Spuren gezogen hatten, bei der Nachricht von einer Auto-Biographie Kaspars etwas eng um die Brust werden. Der Plan, den armen Kaspar in den Wellen der ihm fremden Welt lebendig zu begraben, war vereitelt; und nun erst wurde, wie die geheimen Verbrecher glauben mochten, Kaspars Ermordung für sie eine Art von Nothwehr.Kaspar pflegte Vormittags von 11 – 12 Uhr ausser dem Haus eine Rechnungsstunde zu besuchen. Aber am Sonnabend den 17. October blieb derselbe, weil er sich unwohl fühlte, auf Geheiß seines Erziehers, zu Haus. Prof. Daumer machte um diese Zeit einen Spaziergang, und, ausser Kaspar, den man auf seinem Zimmer wußte, blieb Niemand in der Daumer'schen Wohnung zurück, als Daumers Frau Mutter und dessen Schwester, die um diese Zeit mit Reinigung des Hauses beschäftigt war.Das Haus, in welchem Kaspar bei Daumer wohnte, liegt in einem entfernten wenig besuchten Theil der Stadt, auf einem ausserordentlich großen, kaum übersehbaren öden Platz. Das Haus, nach alter Nürnberger Bauart, äusserst unregelmäßig gebaut, voll Ecken und Winkel, besteht aus einem Vordergebäude, welches der Hausherr bewohnte, [125] und einem Hintergebäude, in welchem die Daumer'sche Familie ihre Wohnung hatte. Eine eigne Hausthüre führt über einen, den Hofraum von zwei Seiten einschließenden, Gang zur Treppe des Daumer'schen Quartiers und auf jenem Gang ist, nebst einem Holzstall, Geflügelraum und andern ähnlichen Behältnissen, dicht unter einer Wendel-Treppe, in einem Winkel, ein sehr niedriger, schmaler, enger Abtritt. Der ohnehin kleine Raum, in welchem sich der Abtritt befindet, war durch eine davor stehende spanische Wand noch mehr verengt.So oft Kaspar dieses heimliche Gemach besuchen wollte, legte er, nach seiner Gewohnheit, aus Reinlichkeitsliebe, immer erst Rock und Weste auf seinem Zimmer ab, und ging so, bis auf die Hosen entkleidet, im bloßen Hemd mit nacktem Hals auf jenes Gemach. Noch ist zu bemerken, daß wer, auf dem eben bezeichneten Gang zu ebener Erde, allenfalls in der Nähe der Holzkammer sich befindet, sehr gut beobachten kann, wer von der Treppe herab kommt und auf den Abtritt geht.Als gegen 12 Uhr des oben bemerkten Tages die Schwester des Prof. Daumer, Katharina, mit Fegen der Wohnung beschäftigt war, wurde sie auf der Treppe, die von dem ersten Stockwerk nach dem Hof führt, mehre Blutstecken und blutige Fußspuren gewahr, die sie sogleich aufwischte, ohne [126] sich dabei etwas besonders Arges zu denken. Sie meinte, Kaspar möge auf der Treppe aus der Nase geblutet haben, und ging auf dessen Zimmer, um ihn darüber zur Rede zu stellen. Sie fand Kaspar nicht, wohl aber bemerkte sie in dessen Stube, nahe an der Thüre, ebenfalls ein Paar blutige Fußtritte. Nachdem sie wieder die Treppe herabgegangen war, um auch den oben bezeichneten Gang im Hofe zu fegen, fielen ihr abermals einzelne Blutspuren auf dem Steinpflaster dieses Ganges in die Augen. Sie kam bis zum Abtritt und hier lag ein ganzer dicker Haufen gestockten Bluts, das sie der eben herbeikommenden Tochter des Hausherrn zeigte, welche meinte: es sei dieses Blut von einer Katze, welche hier ihre Jungen geworfen habe. Daumers Schwester, welche dieses Blut sogleich hinwegschwemmte, war nun um so mehr in der Meinung bestärkt, Hauser habe die Unreinlichkeit auf der Treppe gemacht; er müsse in diese Blutlache getreten sein, und beim Hinaufgehen seine Füße nicht zuvor gereinigt haben.Es war bereits 12 Uhr vorüber, der Tisch war gedeckt, und Kaspar, der sonst immer um diese Stunde pünktlich zum Essen kam, blieb diesmal aus. Die Mutter des Prof. Daumer ging daher aus ihrem Zimmer herab, um Kaspar zu rufen, fand ihn aber auf seiner Stube eben so [127] wenig, als zuvor ihre Tochter. Frau Daumer sah an der Wand seinen Rock hängen, und auf dem Klavier seine Chemisette, Halsbinde und Weste. Sie schloß hieraus für gewiß, Kaspar müsse auf dem heimlichen Gemach sich befinden, ging herab, ihn hier zu suchen, fand ihn auch hier nicht, und wollte sich wieder hinauf in ihr Zimmer begeben, als ihr eine Nässe auf der Kellerthür auffiel, die ihr wie Blut vorkam. Schlimmes ahnend hob sie die Kellerthür auf, bemerkte auf allen Kellerstufen theils Blutstropfen, theils größere Blutflecken, stieg nun bis zur untersten Stufe hinab, und sah von hier aus in dem von Wasser angefüllten Keller in einem Winkel etwas Weißes aus der Ferne schimmern. Frau Daumer eilte zurück, und forderte die Magd des Hausherrn auf, mit einem Licht in den Keller zu gehen, um nachzusehen, was darin Weißes liege. Kaum hatte diese auf den bezeichneten Gegenstand hingeleuchtet, so rief sie: da liegt der Kaspar todt!“ – Die Magd und der Sohn des Hausherrn, der indessen ebenfalls herbeigekommen war, hoben nun Kaspar, der kein Lebenszeichen von sich gab, und dessen todtenbleiches Gesicht mit Blut bedeckt war, vom Boden auf, und trugen ihn aus dem Keller. Oben angekommen, gab er durch ein gewaltiges Stöhnen das erste Lebenszeichen; dann [128] rief er mit dumpfer Stimme: Mann! Mann!“ Er wurde sogleich in das Bett gebracht, wo er mit geschlossenen Augen, von Zeit zu Zeit folgende abgebrochene Worte und Sätze bald schrie, bald vor sich hin murmelte:Mutter! – Professor erzählen – Abtritt – Mann schlagen – schwarzer Mann, wie Kuchen 1) – Mutter sagen – nit funden – mein Zimmer – in den Keller verstecken.“
Es überfiel ihn hierauf ein gewaltiger Fieberfrost, der bald in heftigere Paroxismen, endlich in völlige Tobsucht überging, in welcher einige starke Männer Mühe hatten, ihn zu halten. In seinen Wuthkrämpfen biß er von einer Porzellantasse, worin man ihm ein warmes Getränk beizubringen suchte, ein ganzes Stück heraus, und schluckte es mit dem Getränk in sich hinein. Beinahe 48 Stunden befand er sich im Zustand vollkommener Geistesabwesenheit. In seinen Delirien, während der Nacht, sprach er von Zeit zu Zeit folgende abgebrochene Sätze vor sich hin:Herrn Bürgermeister sagen. – Nicht einsperren! – Mann weg! – Mann kommt! [129] – Glocke weg! – Ich nach Fürth herunter reiten. – Nicht nach Erlangen in Wallfisch – Nicht umbringen, nicht Mund zuhalten, nicht sterben! – Meine Nothdurft verrichten; nicht umbringen! – Hauser wo gewesen; nicht nach Fürth heute; nicht mehr fort; schon Kopfweh. – Nicht nach Erlangen in Wallfisch! – der Mann mich umbringen! Weg! nicht umbringen! Ich alle Menschen lieb; Niemand nichts than. – Frau Bürgermeisterin helfen! – Mann dich auch lieb, nicht umbringen! – Warum Mann mich umbringen? ich auch gerne lebe. – Warum Du mich umbringen? ich Dir niemals was than. – Mich nicht umbringen! ich doch bitten, daß Du nicht eingesperrt wirst. – Hast mich niemals herausgethan aus meinem Gefängniß, Du mich gar umbringen! – Du mich zuerst umgebracht, eh ich verstanden, was Leben ist. – Du mußt sagen, warum mich eingesperrt hast gehabt u. s. w.Die meisten dieser Sätze wiederholte er sehr oft unordentlich durcheinander.Die von dem Untersuchungsgericht – dem die Polizeibehörde endlich jetzt die Behandlung der Hauserischen Angelegenheit überlassen hatte – unter Zuziehung des Stadtgerichts-Physikus Dr. Preu, [130] am 20. Oktober vorgenommene Besichtigung Hausers gewährte folgendes Ergebniß:Man fand die Stirn des im Bette liegenden Hauser in der Mitte durch eine scharfe Wunde verletzt, über deren Größe und Beschaffenheit der Gerichtsarzt nachstehendes Visum et repertum zu Protokoll gab:Die Wunde befindet sich auf der Stirne, 10 1/2 Linien über der Nasenwurzel quer auslaufend, in der Art, daß 2/3 derselben auf der rechten Stirnhälfte sich befinden, das letzte Drittheil auf der linken. Die ganze Länge der in gerader Linie hinlaufenden Wunde beträgt 19 1/2 Linien. Gegenwärtig (20. October) sind beide Wundränder mit einander vereinigt, und lassen kaum noch einen Zwischenraum von 1/4 Linie bemerken. Doch ist dieser am linken Ende etwas breiter, als im ganzen Verlauf der Wunde; daher angenommen werden muß, daß sie hier am tiefsten eingedrungen.“ – Was die Entstehung der eben beschriebenen Wunde betrifft, so ist solche unverkennbar mit einem sehr schneidenden Instrumente mittelst Hieb oder Stoß (?) dem Hauser beigebracht worden. Die scharfen Ränder der Wunde sprechen für die scharfe Schneide des Instruments; das gleiche Auslaufen [131] der Wunde bezeichnet deren Entstehung durch Hieb oder Stoß (?), weil, wenn die Wunde rein geschnitten worden wäre, Anfang und Ende seichter und schmäler, die Mitte aber tiefer und eben darum klaffender erscheinen müßte. Am wahrscheinlichsten ist aber ihre Entstehung mittelst Hiebs, weil beim Stoß mehr Quetschung der zunächst anliegenden Theile bemerkt worden wäre u. s. w.“ Die Wunde war, wie der Arzt erklärte, an und für sich unbedeutend und hätte an jeder andern Person leicht in sechs Tagen geheilt werden können. Allein bei Kaspars höchst reizbarem Nervensystem war er erst nach 22 Tagen von den Folgen der Verwundung genesen.
Kaspar erzählt das Ereigniß im Wesentlichen wie folgt:Am 17. hatte ich die Rechnungsstunde, die ich täglich bei Herrn E. von 11 bis 12 Uhr zu besuchen pflegte, aussetzen müssen. Ich hatte nämlich eine Stunde zuvor, als ich Herrn Dr. Preu besucht hatte, von diesem eine welsche Nuß erhalten, und fühlte mich darauf, obgleich ich kaum den 4ten Theil davon genossen hatte, höchst unwohl. Herr Professor Daumer, den ich hievon in Kenntniß gesetzt hatte, befahl mir, diesmal meine gewöhnliche Stunde nicht zu besuchen, sondern [132] zu Haus zu bleiben. Herr Prof. Daumer ging aus; ich verfügte mich auf meine Stube. Ich wollte mich mit Schreiben etwas beschäftigen; aber Leibschmerzen verhinderten mich daran und ein natürliches Bedürfniß nöthigte mich auf den Abtritt zu gehen. Wegen Leibreißens mußte ich mich länger als eine halbe Viertelstunde auf dem Abtritt aufhalten, wo ich zuletzt von der untern Holzkammer her ein Geräusch vernahm, demjenigen ähnlich, welches mit der Eröffnung dieser Thür gewöhnlich verbunden und mir wohl bekannt ist. Auch nahm ich vom Abtritt aus einen leisen Ton der Hausthürglocke wahr, welcher mir jedoch nicht vom Anschellen, sondern von unmittelbarer Berührung der Glocke selbst herzurühren schien. Gleich nachher hörte ich leise Fußtritte vom untern Gang her und zugleich sah ich durch den Raum zwischen der vor dem Abtritt befindlichen Tapete (spanischen Wand) und der Stiege selbst, daß eine Mannsperson aus dem Gang daher schlich. Ich bemerkte den ganz schwarzen Kopf der Mannsperson und meinte es sei der Schlotfeger. Ich verweilte noch einen Augenblick auf dem Abtritt, um vom Schlotfeger nicht gerade im Aufstehen bemerkt zu werden. Als ich aber hierauf mich vom Sitze des Abtritts aufrichtete (und meinen Kopf, während ich meine Beinkleider wieder aufziehen wollte, aus dem engen [133] Abtritt etwas hervorstreckte) stand plötzlich der schwarze Mann vor mir und gab mir einen Schlag auf den Kopf, in Folge dessen ich sogleich mit dem ganzen Körper auf den Boden vor dem Abtritt niederfiel. (Nun folgt die Beschreibung des Mannes, welche nicht wohl mittheilbar ist.) Vom Gesicht und von den Haaren dieses Mannes konnte ich gar nichts wahrnehmen; denn er war verschleiert und zwar, wie ich glaube, mit einem über den ganzen Kopf gezogenen schwarzen seidenen Tuche.“ – Nachdem ich geraume Zeit bewußtlos gelegen sein muß, kam ich endlich wieder zu mir, spürte etwas warmes mir über das Gesicht laufen und griff nach der Stirn mit beiden Händen, die hierauf blutig wurden.“Erschreckt hierüber wollte ich zur Mutter hinauf 2), kam aber in der Verwirrung und Angst (denn ich fürchtete immer, der Mann, der mich geschlagen, sei noch im Haus und werde zum zweitenmal über mich kommen) statt zur Thür der Mutter, an den Kleiderschrank 3) vor meiner Stube. Hier verging mir das Gesicht und ich [134] suchte mich durch Anhalten mit der Hand am Schranke aufrecht zu erhalten 4). Als ich mich erholt hatte, wollte ich abermals zur Mutter hinauf, kam aber, in weiterer Verwirrung, statt die Treppe hinauf, die Treppe herab und befand mich, zu meinem Entsetzen, wieder unten im Gang. Als ich die Kellerthür erblickte, gab mir die Angst den Gedanken ein, mich im Keller zu verstecken. Die Fallthür des Kellers war zu. Wie ich die Kraft erlangt habe, die schwere Fallthür aufzuheben, ist mir bis zur Stunde unbegreiflich. Gleichwohl that ich es und schlupfte in den Keller hinein“ 5).Durch das im Keller befindliche kalte Wasser, in das ich hinein mußte, kam ich zu besserem Bewußtsein; ich bemerkte einen trockenen Fleck auf [135] dem Boden des Kellers und ließ mich daselbst nieder. Ich hatte mich kaum niedergelassen, als ich 12 Uhr läuten hörte, da dachte ich bei mir: nun bist du hier so ganz verlassen, es wird dich hier Niemand finden und du wirst hier umkommen. – Dieser Gedanke füllte meine Augen mit Thränen, bis mich Erbrechen überfiel, und ich hierauf das Bewußtsein verlor. Als ich mein Bewußtsein wieder erlangt hatte, fand ich mich in meiner Stube auf dem Bette und die Mutter neben mir.“Was die Art der Verwundung betrifft, so vermag ich (der Verf. dieses) der Meinung des Gerichts-Arztes nicht beizupflichten. Ich habe mehre, jedoch zu öffentlicher Mittheilung nicht wohl geeignete Gründe zu glauben, daß die Wunde Hausers weder durch Hieb noch durch Stoß, weder mit einem Säbel, noch mit einem Beil, noch mit einem Meissel, noch mit einem gewöhnlichen zum Schneiden bestimmten Messer, sondern mit einem andern scharf schneidenden, bekannten Werkzeuge zugefügt worden, und daß es bei dieser Verwundung nicht auf die Stirne, sondern auf den Hals abgesehen gewesen, welcher aber – weil Kaspar bei Erblickung des Mannes und der nach seinem Hals sich plötzlich ausstreckenden bewehrten Faust, instinktmäßig mit dem [136] Kopf sich bückte – vom Kinn bedeckt, den Streich von sich hinweg zur Stirn hinauf leitete. Der Thäter konnte, da Kaspar sogleich blutend zusammenstürzte, sein Werk für gelungen halten, und durfte auch, da er, vermöge der Beschaffenheit des Orts, jeden Augenblick befürchten mußte, von irgend Jemand betroffen zu werden, nicht länger bei seinem Opfer verweilen, um nachzusehen ob alles recht gelungen sei, und, falls es nicht gelungen wäre, das Unvollendete zu vollbringen. So kam Kaspar mit seiner Stirnwunde davon.Bald ergaben sich auch mehre, Spuren des Thäters nachweisende, Anzeigungen. Dahin gehört z. B. daß an demselben Tag, in derselben Stunde, wo die That geschehen, der von Kaspar beschriebene Mann gesehen worden ist, wie er aus dem Daumer'schen Hause sich wieder entfernte; daß um dieselbe Zeit dieselbe von Kaspar beschriebene, wohlgekleidete Person gesehen worden ist, wie sie nicht sehr weit vom Daumer'schen Hause in den auf der Straße stehenden Wasserkufen sich die (wahrscheinlich blutigen) Hände gewaschen hat; daß ungefähr 4 Tage nach der That, ein eleganter Herr, welcher Kleider trug, wie der von Hauser beschriebene schwarze Mann, sich vor den Thoren der Stadt zu einer gemeinen, eben nach [137] der Stadt gehenden Frau gesellt, sich bei dieser angelegentlich nach dem Leben oder Tod des verwundeten Hausers erkundigt hat, dann mit dieser Frau bis unter das Thor gegangen ist, wo ein die Verwundung Hausers betreffender magistratischer Anschlag zu lesen war, und, nachdem er ihn gelesen, ohne die Stadt zu betreten, sich auf höchstverdächtige Weise wieder entfernt hat u. s. w.Wenn nun aber die Neu- oder Wißbegier des Lesers noch mehr von mir zu vernehmen wünscht; wenn er mich nach den Ergebnissen der gepflogenen gerichtlichen Untersuchung fragt; wenn er gern wissen möchte, nach welchen Richtungen hin jene Spuren geführt haben, an welchen Orten die Wünschelruthe wirklich angeschlagen hat, und was dann weiter geschehen und erfolgt sei: so bin ich im Falle antworten zu müssen, daß, nach den Gesetzen, wie nach der Natur der Sache, ich dem Schriftsteller nicht erlauben darf, öffentlich von Dingen zu reden, welche vor der Hand nur noch dem Staatsbeamten zu wissen oder zu vermuthen erlaubt sind. Uebrigens darf ich die Versicherung aussprechen, daß die forschende Justiz, unter Anwendung aller ihr zu Gebot stehenden Mittel, selbst der aussergewöhnlichsten, ihre Pflichten eben so rastlos als rücksichtslos zu erfüllen, nicht ohne allen Erfolg, bemüht gewesen ist. [138]Allein dem Arme der bürgerlichen Gerechtigkeit sind nicht alle Fernen, noch alle Höhen und Tiefen erreichbar, und bezüglich mancher Orte, hinter welchen sie den Riesen eines solchen Verbrechens zu suchen Gründe hat, müßte sie, um bis zu ihm vorzudringen, über Josua's Schlachthörner, oder wenigstens über Oberons Horn gebieten können, um die mit Flegeln bewehrten hochgewaltigen Kolossen, die vor goldnen Burgthoren Wache stehen und so hageldicht dreschen, daß zwischen Schlag und Schlag sich unzerknickt kein Lichtstrahl drängen mag – für einige Zeit in ohnmächtige Ruhe zu bannen.Doch was verübt' die schwarze MitternachtWird endlich, wenn es tagt, an's Sonnenlicht gebracht.
―――――――― 1) Bezieht sich auf einen Fall, wo Kaspar von dem Kaminkehrer, der in der Küche fegte, sehr erschreckt worden war. 2) So nennt er immer seine Pflegmutter, die Mutter des Prof. Daumer. 3) Jeder Schritt und Tritt Kaspars in der folgenden Erzählung wurde durch Blutspuren nachgewiesen. 4) Die Blutspuren am Schranke waren noch einige Tage zu sehen. 5) Die Wirkungen des Schreckens und der Angst, wie treffend, wahr und naturgemäß erzählt! - Daß Kaspar nicht durch die schon offene Kellerthür in den Keller sich verkrochen, daß er selbst zuvor diese Kellerthür aufheben mußte und wirklich aufgehoben hat, ist eine nicht zu bezweifelnde Thatsache; eben so gewiß ist es aber auch, daß dem Schwächling Kaspar die herkulische Arbeit des Aufhebens der Kellerthür zu jeder andern Zeit, unter andern Voraussetzungen, ganz unmöglich gewesen sein würde. |