BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Anselm von Feuerbach:

Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens

am Seelenleben des Menschen

 

1832

 

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[63]

V.

 

Schon war Kaspar Hauser weit über einen Monat zu Nürnberg, als ich unter den neuesten Neuigkeiten von diesem Findling erzählen hörte. Amtliche Anzeigen über dieses Ereigniß waren den obersten Behörden der Provinz noch nicht zugekommen. Blos als Privatmann, aus menschlichem und wissenschaftlichem Interesse, begab ich mich daher am 11. Juli (1828) nach Nürnberg, um diese in ihrer Art einzige Erscheinung zu beobachten.

Kaspar hatte damals noch immer seine Wohnung auf dem Luginsland am Vestner-Thore, wo Jedermann zu ihm gelassen wurde, der ihn zu besehen Lust hatte. – Wirklich genoß Kaspar vom Morgen bis zum Abend kaum eines geringeren Zuspruchs, als das Känguru und die zahme Hyäne in der berühmten Menagerie des Herrn van Aken.

So machte ich mich denn, in Begleitung des Herrn Obristen von D., zweier Damen und zweier Kinder, ebenfalls zu ihm auf den Weg, und traf [64] glücklicherweise eine Stunde, wo der Schauplatz keinen andern Zuspruch hatte.

Kaspars Wohnung war ein kleines, doch reinliches helles Stübchen, dessen Fenster ins Freie geht, wo sich dem Aug eine weite freundliche Landschaft darbietet. Wir trafen ihn barfuß, mit ein Paar alten langen Beinkleidern bekleidet, übrigens bloß im Hemde.

Die Wände des Zimmers, so weit man reichen konnte, hatte sich Kaspar mit gemalten Bilderbogen – Geschenke der vielen Besuchenden – ausgeschmückt. Er klebte sie jeden Morgen von neuem mit seinem, damals wie Leim zähen Speichel  1) an die Wand, und nahm sie, sobald es dämmerig wurde, wieder herab, um sie neben sich zusammenzulegen. Auf der an den Wänden umherlaufenden, festgemachten Bank befand sich in der Ecke sein Bett – ein Strohsack, mit einem Kopfkissen und einer wollenen Decke. – Der ganze übrige Raum der Bank war dicht mit einer Menge des mannichfaltigsten Kinderspielzeugs, mit Hunderten bleierner Soldaten, mit hölzernen Hündchen, Pferdchen und andern [65] Nürnberger Waaren überdeckt. Bei Tag beschäftigte er sich jetzt schon wenig damit; doch machte er sich noch die nicht geringe Arbeit, alle diese Sachen und Sächelchen Abends sorgfältig zusammenzulegen, dann, sogleich nach seinem Erwachen, wieder auszupacken und in eine gewisse Ordnung neben einander zu reihen. Der Wohlthätigkeitssinn der wackern Nürnberger hatte ihn überdies mit mehren Kleidungsstücken beschenkt, die er unter seinem Kopfkissen verwahrte und uns mit kindischem Behagen, nicht ohne einige Eitelkeit, vorzeigte. Auf der Bank, unter den Spielsachen, lagen auch verschiedene Geldstücke umher, denen er aber keine Aufmerksamkeit schenkte. Ich nahm davon einen beschmuzten Kronenthaler und einen noch ganz neuen Vierundzwanziger in die Hand, ihm andeutend: welches von beiden Stücken er am liebsten habe? Er wählte das kleine, glänzende; das große nannte er garstig, und machte dabei die Miene des Widerwillens. Als ich ihm begreiflich zu machen suchte, daß gleichwohl das größere Stück mehr werth sei, und daß man dafür bei weitem mehr schöne Sachen bekommen könne, als für das kleine, horchte er zwar aufmerksam zu, verfiel auch sogleich in starres Nachdenken, gab mir aber zuletzt zu erkennen, daß er nicht wisse, was ich sagen wolle. [65]

Er zeigte, als wir bei ihm eintraten, nichts weniger als Menschenscheu oder Schüchternheit, vielmehr zutrauliches Entgegenkommen, und Freude über unsern Besuch. Am ersten machte er sich mit der glänzenden Uniform des Obristen zu schaffen; den von Gold strahlenden Helm konnte er nicht satt werden zu bewundern; dann zogen die Frauenzimmer mit ihren bunten Kleidern seine Aufmerksamkeit auf sich; ich, in einem bescheidenen schwarzen Frack, wurde Anfangs kaum eines Blicks gewürdigt. Jeder von uns stellte sich ihm besonders vor und nannte ihm seinen Namen und Titel. Kaspar trat bei jeder solchen Vorstellung nahe zu dem Vorgestellten hin, sah ihn scharf stierend an, überflog mit schnellem durchdringendem Blick, der Reihe nach, jeden besondern Theil des Gesichts, als: Stirn, Augen, Nase, Mund, Kinn etc. und faßte ganz zuletzt, wie ich deutlich beobachtete, die erst stückweis zusammengelesenen Theile der Physiognomie in ein Ganzes zusammen. Er wiederholte hierauf den Namen der Person, den man ihm vorgesagt hatte. Und nun kannte er die Person, und kannte sie, wie die spätern Erfahrungen zeigten, für immer.

Seine Augen wendete er, so viel er nur konnte, vom hellen Tageslicht ab. Dem vom Fenster her gerade einfallenden Sonnenstrahl wich [67] er auf das sorgfältigste aus. Hatte einmal zufällig ein solcher Strahl seine Augen getroffen, so blinzte er heftig, runzelte die Stirn und verrieth unverkennbar Schmerzen; seine Augen waren überdies etwas entzündet und zeigten überhaupt große Empfindlichkeit gegen das Licht.

Die linke Hälfte seines, in späterer Zeit vollkommen regelmäßigen, Gesichts, war damals auffallend von der rechten Seite desselben verschieden. Jene war merklich verzogen und verzerrt; öfters fuhren heftige Zuckungen, wie Blitze, darüber hin. An diesen Zuckungen nahm stets die linke Seite des ganzen Körpers, besonders der Arm und die Hand, sichtbaren Antheil. Wurde ihm Etwas gezeigt, was seine Neugier in Bewegung setzte, sprach man ein ihm auffallendes, nicht verständliches Wort, sogleich stellten sich diese Zuckungen ein, die meistentheils zuletzt in eine Art von Erstarrung übergingen. Er stand dann unbeweglich da, keine Muskel des Gesichts regte sich, die Augen stierten, ohne zu blinzeln, wie leblos vor sich hin; er stellte eine Bildsäule dar, die weder sieht noch hört, und durch keine äußern Eindrücke zu einer Lebensregung geweckt werden kann. Diesen Zustand konnte man an ihm beobachten, so oft er über etwas nachsann, so oft er zu einem neuen Wort den entsprechenden Begriff, zu einem neuen [68] Ding das entsprechende Wort suchte, oder irgend etwas ihm noch Unbekanntes an schon Bekanntes anzuknüpfen, jenes aus diesem sich begreiflich zu machen bestrebte.

Die Worte, die er sagen konnte, sprach er bestimmt und deutlich, ohne Stocken oder Stammeln. Allein an eine zusammenhängende Rede war bei ihm noch nicht zu denken, und seine Sprache war so dürftig als der Vorrath seiner Begriffe. Schwer war es daher auch, sich ihm verständlich zu machen. Kaum hatte man ein Paar Sätze zu ihm gesagt, die er zu verstehen schien, so hatte man etwas ihm Fremdes beigemischt, wobei er dann, wenn er es zu begreifen wünschte, sogleich wieder in seine Zuckungen verfiel. In allem was er sprach fehlten noch meistens die Bindewörter, Partikeln und Hülfszeitwörter; seine Conjugation umfaßte wenig mehr als den Infinitiv; und am schlimmsten stand es mit dem Syntax, dessen Theile gar erbärmlich zerzaußt und durcheinander geworfen wurden. „Kaspar sehr brav,“ statt: ich bin sehr brav, „Kaspar scho Juli sage,“ statt: ich will es dem Julius (Sohn des Gefangenwärters) sagen,“ war seine durchgängige Redeweise Das: Ich, kam noch selten vor; er sprach fast immer von sich in der dritten Person: Kaspar, zu Andern, statt in der zweiten Person, ebenfalls [69] in der dritten, z. B. statt: Sie, nicht anders als: Herr Obrist, Frau Generalin etc. Auch zu ihm mußte man nicht: „Du,“ sondern „Kaspar“ sagen, wenn er sogleich verstehen sollte, wen man meine.  2) Ein und dasselbe Wort wurde häufig in den verschiedensten Bedeutungen gebraucht, was dann oft gar manches lächerlich possirliche qui pro quo zum Vorschein brachte. Viele, blos eine Species bezeichnende, Worte gebrauchte er für die ganze Gattung. So z. B. galt ihm das Wort: Berg, für jede Wölbung oder Erhöhung, weshalb er einen dickbaugigen Herrn, dessen Name ihm entfallen war, als den „Mann mit dem großen Berg“ bezeichnete; eine Dame, deren Shawl hinten so tief herabhing, daß der Zipfel auf dem Boden schleifte, hieß ihm: „die Frau mit dem schönen Schweif.“ Man wird wohl erwarten, daß ich nicht unterließ, ihm durch mancherlei Fragen zur Erzählung seines Schicksals Veranlassung zu geben. Allein alles, was ich aus ihm herausbringen konnte, war ein so kauderwelsches, verworrenes, unbestimmtes Zeug, daß ich, mit seiner Sprachweise noch nicht vertraut, das Meiste nur errathen, Vieles gar nicht verstehen konnte. [70]

Es schien mir nicht unwichtig, seinen Geschmack hinsichtlich der verschiedenen Farben auf die Probe zu stellen. Er zeigte auch in dieser Beziehung ganz den Sinn der Kinder und der sogenannten Wilden. Die rothe Farbe, und zwar die recht schreiend rothe, ging ihm über alles; die gelbe war ihm zuwider, ausser wenn sie als Gold glänzend in die Augen stach, in welchem Fall seine Wahl zwischen diesem Gelb und jenem Roth schwankte; Weiß ließ ihn gleichgültig; aber Grün war ihm fast so abscheulich als Schwarz. – Dieser Geschmack, besonders seine Vorliebe für das Rothe, hing ihm, wie die späteren Beobachtungen des Prof. Daumer bekunden, noch lange nachher an, als seine Bildung schon um eine große Strecke weiter vorgeschritten war. Wäre es ihm freigestellt worden, er würde sich selbst und Andere, denen er wohlwollte, von Kopf bis zu Füßen in Scharlach oder Purpur gekleidet haben. An der Natur hatte er, schon wegen der Grundfarbe ihres Gewandes, des Grün, keinen Gefallen. Sollte er sie schön finden, so mußte man sie ihn durch ein roth gefärbtes Glas ansehen lassen. In der Wohnung des Prof. Daumer, die er, bald nach meinem Besuche bei ihm, gegen seinen Aufenthalt auf dem Luginsland vertauschte, gefiel es ihm darum nicht ganz recht, weil er da nur die Aussicht [71] in den Garten, auf die vielen, wie er meinte, garstigen grünen Bäume und Pflanzen hatte. Die in einer engen unfreundlichen Straße gelegene Wohnung eines Freundes seines Lehrers gefiel ihm dagegen ungemein, weil da, gegen über und ringsherum, lauter schön roth angestrichene Häuser zu sehen waren. Als ihm einst ein Baum voll rother Aepfel gezeigt wurde, äusserte er darüber großes Wohlgefallen; nur, meinte er, würde der Baum noch viel schöner sein, wenn auch die Blätter eben so roth wären. – Als er, der blos Wasser trank, einst rothen Wein trinken sah, sagte er: wenn ich nur auch Sachen trinken könnte, die so schön aussehen! – Seinen Lieblingsthieren, den Pferden, wünschte er nur noch Einen Vorzug: statt der schwarzen, braunen, weißen, die scharlachrothe Farbe.

Die Neugier und der Wissensdurst, so wie die eiserne Beharrlichkeit, womit er bei einer Sache aushielt, die er zu lernen oder zu begreifen sich vorgesetzt hatte, überstiegen jede Vorstellung, und waren in ihren Aeußerungen herzergreifend. Mit seinen Spielsachen beschäftigte er sich, wie schon früher bemerkt worden, des Tages über nicht mehr; seine Tagesstunden füllte er mit Schreiben, Zeichnen und andern Lehrgegenständen aus, womit ihn Prof. Daumer beschäftigte. Bitter [72] beklagte er sich gegen uns, daß die vielen Leute, die ihn immer besuchten, ihm keine Ruhe ließen, und er nichts lernen könne. Rührend war es, seinen oft wiederkehrenden Jammer darüber zu hören, daß die Leute auf der Welt so vieles wissen, und er so vieles noch gar nicht gelernt habe. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, nächst dem Schreiben, war das Zeichnen, zu welchem er eben so viel Fähigkeit als Beharrlichkeit mitbrachte. Seit mehren Tagen hatte er sich es zur Aufgabe gemacht, das lithographirte Bildniß des Herrn Bürgermeisters Binder abzuzeichnen. Ein ganzer großer Pack Quartblätter war mit diesen Kopieen vollgezeichnet; sie lagen, wie sie allmählig entstanden waren, in langer Reihenfolge geordnet aufeinander. Ich ging sie einzeln durch; die ersten Versuche glichen ganz den Bildern unsrer kleinen Kinder, die ein Gesicht gezeichnet zu haben meinen, wenn sie eine Figur, welche ein Oval vorstellen soll, mit einem Paar rundlicher Schnirkel, nebst einigen langen und Quer-Strichen darin, auf ein Papier hingesudelt haben. Allein fast in jedem der folgenden Versuche waren Fortschritte sichtbar, so daß allmählig jene Striche einem Menschengesicht immer ähnlicher wurden, und endlich das Original, obgleich noch ziemlich unvollkommen und roh, bis zur Kenntlichkeit darstellten. Ich äußerte ihm über [73] seine spätesten Versuche meinen Beifall; er aber zeigte sich nicht befriedigt und gab mir zu verstehen, er werde das Bild noch gar vielmal abzeichnen müssen, bis es ganz recht sei; dann werde er es dem Herrn Bürgermeister schenken.

Mit seinem Leben auf der Welt zeigte er sich nichts weniger als zufrieden; er sehnte sich zu dem Mann zurück, bei dem er immer gewesen. Zu Haus (in seinem Loch), äußerte er, habe er niemals so viele Schmerzen im Kopf gehabt, und man habe ihn nicht so gequält, wie jetzt auf der Welt. Er deutete damit auf die Unbehaglichkeiten und Schmerzen, welche die vielen, ihm ganz ungewohnten, neuen Eindrücke, die verschiedenen ihm widrigen Gerüche u. s. w. verursachten, wie auf die vielen Besuche der Neugierigen, ihr ewiges Fragen, und manche ihrer unbesonnenen, nicht eben humanen Experimente. Dem Manne, bei dem er immer gewesen, hat er daher auch weiter nichts vorzuwerfen, als daß er noch nicht gekommen, um ihn wieder nach Haus zu bringen, und daß er von so viel schönen Sachen auf der Welt ihm gar nichts gezeigt, noch gesagt habe. Er will so lange in Nürnberg bleiben, bis er gelernt, was der Herr Bürgermeister und der Herr Professor (Daumer) wissen; dann soll ihn der Herr Bürgermeister nach Haus bringen, und dann will er [74] dem Mann zeigen, was er unterdessen gelernt hat. Als ich ihm hierauf äußerte: wie er doch zu dem bösen abscheulichen Mann wieder zurück möge? fuhr er mich sanft zürnend mit den Worten an: „Mann nit bös, Mann mir nit bös than.“

Von seinem erstaunenswürdigen, eben so schnellen als zähen, Gedächtniß bekamen wir bald die auffallendsten Proben. Bei jedem der vielen kleinen und großen Dinge, bei jedem Bild und Bildchen in seinem Haushalt, nannte er uns den Namen und Titel der Person, von der er es zum Geschenk erhalten hatte, und, kamen hiebei verschiedene Personen mit demselben Hauptnamen vor, so unterschied er sie entweder durch ihren Vornamen oder durch andere Prädicate. Ungefähr eine Stunde, nachdem wir ihn verlassen hatten, trafen wir mit ihm auf der Straße zusammen, als er eben zum Herrn Bürgermeister geführt wurde. Wir redeten ihn an und, als wir ihn aufgefordert hatten, uns unsre Namen zu sagen, nannte er jeden von uns, ohne sich zu besinnen oder zu stocken, mit unserm vollen Namen, sammt Titulaturen, die gleichwohl für ihn nur baarer Unsinn sein konnten. Der Arzt, Dr. Osterhausen, machte zu einer andern Zeit an ihm die Erfahrung, daß er, nachdem man ihm einen Blumenstrauß gezeigt und die Namen der einzelnen Blumen vorgesagt hatte, er [75] mehre Tage nachher jede dieser Blumen wieder zu erkennen und mit ihrem Namen zu bezeichnen wußte. Dieses Gedächtniß hat jedoch späterhin und, wie es scheint, in demselben Verhältniß abgenommen, in welchem es reicher geworden war, und sein Verstand mehr Arbeit bekommen hatte.

Seine Folgsamkeit gegen alle diejenigen Personen, welche väterliche Autorität über ihn erlangt haben, besonders gegen den Hrn. Bürgermeister, Hrn. Professor Daumer und den Gefangenwärter Hiltel, war unbedingt und ohne Schranken. „Der Hr. Bürgermeister, der Hr. Professor hat es gesagt“, war für ihn der letzte, jedes weitere Fragen und Ueberlegen ausschließende Grund für sein Handeln oder Unterlassen. Als ich ihn fragte: warum er denn glaube, so pünktlichen Gehorsam leisten zu müssen? gab er zur Antwort: „der Mann, bei dem ich immer gewesen, hat mich gelehrt, daß ich thun müsse, was man mir heißt.“

Allein diese Unterwerfung unter fremde Autorität bezog sich bei ihm blos auf Thun oder Nichtthun, und hatte mit seinem Wissen, Glauben und Meinen nichts zu schaffen. Um etwas als gewiß und wahr anzunehmen, dazu bedurfte es für ihn der eignen Ueberzeugung, und zwar entweder durch sinnliche Anschauung oder durch [76] irgend einen, seinen Fassungskräften und seinem fast noch ganz leeren Kopf anpassenden, für ihn schlagenden Grund. Wo man seinem Verstand weder auf diese noch jene Weise beikommen konnte, widersprach er zwar nicht, ließ aber einstweilen die Sache dahin gestellt, bis er, wie er zu sagen pflegte, mehr gelernt habe. Ich sprach zu ihm, unter andern, von dem bevorstehenden Winter und sagte: dann werde er oft die Dächer der Häuser und alle Strassen der Stadt ganz weiß sehen, so weiß wie die Wände seines Zimmerchens. Er meinte: dies müsse dann recht schön sein; gab jedoch deutlich zu verstehen, daß er daran nicht eher glaube, als bis er es werde gesehen haben. Als im folgenden Winter der erste Schnee gefallen war, bezeigte er große Freude, daß jetzt die Strassen, die Dächer, die Bäume so gut „angestrichen“ seien, und ging schnell in den Hof, um sich von der „weißen Farbe“ zu holen, kam aber alsbald weinend und plärrend mit weit auseinander gespreitzten Fingern zu seinem Lehrer wieder hinauf, indem er schrie: die weiße Farbe habe ihn in die Hände „gebissen.“

Höchst auffallend und ganz unerklärbar bei diesem Menschen war die bis zur Pedanterei getriebene Liebe zur Ordnung und Reinlichkeit. Von den vielen hundert Dingen seines kleinen [77] Haushalts hatte ein jedes seinen bestimmten Platz, wurde gehörig zusammengepackt, sorgfältig auseinander gelegt, symmetrisch geordnet u. s. w. Unreinlichkeit oder was er dafür hielt, war ihm, an ihm selbst wie an Andern, ein Abscheu. Er bemerkte fast jedes Stäubchen auf unsern Kleidern und als er auf meiner Halskrause einige Körner Schnupftabak sah, machte er mich darauf mit Unwillen aufmerksam, mir hastig andeutend, daß ich diese garstigen Dinge wegwischen möge.

Die merkwürdigste Erfahrung, die aber erst einige Jahre später für mich ihre vollständige Bedeutung erlangte, verschaffte ich mir durch folgende Probe, auf welche ich dadurch geleitet wurde, daß mir, nach einer sehr nahe liegenden Ideenverbindung, bei dem aus dunklem Kerker, erst im Jünglingsalter, zum Tageslicht hervorgekommenen Kaspar, der berühmte Blinde des Cheselden einfiel, welcher wenige Wochen nach seiner Geburt erblindet, erst im Jünglingsalter, nach glücklich vollbrachter Staar-Operation, wieder sehend geworden war. Ich befahl Kasparn, nach dem Fenster zu sehen, deutete auf die große, weite Aussicht in die schöne, im Schmuck des Sommers prangende Landschaft, und fragte ihn: ob das nicht schön sei, was er da draußen sehe? Er gehorchte, fuhr aber sogleich mit sichtbarem [78] Abscheu wieder zurück, indem er ausrief: garstig! garstig! dann auf die weiße Wand seines Zimmerchens deutete und sagte: „da nicht garstig!“ Auf meine weitere Frage: warum dort garstig? erfolgte nichts weiter, als: „garstig, garstig!“ und so blieb mir denn vor der Hand nichts übrig als mir diesen Umstand wohl zu merken, und die weitere Aufklärung von der Zeit zu erwarten, wo Kaspar sich besser werde verständlich machen können. Denn daß sein Wegwenden von jener Gegend nicht blos aus dem empfindlichen Eindruck des Lichts auf seine Sehnerven zu erklären sei, glaubte ich deutlich wahrzunehmen. Seine Mienen drückten dießmal nicht gerade Schmerz, sondern vielmehr Abscheu und Grauen aus. Auch stand er in einiger Entfernung vom Fenster seitwärts, so daß er zwar die Gegend sehen, aber vom gerade einfallenden Lichtstrahl nicht getroffen werden konnte. Als nun Kaspar im Jahr 1831 einige Wochen lang bei mir als Hausgenosse war, wo ich fortwährend Gelegenheit hatte, ihn aufs genaueste zu beobachten, und meine früheren Beobachtungen zu vervollständigen oder zu berichtigen, kam unter andern auch das Obige an die Reihe. Ich fragte.ihn: ob er sich noch meines Besuchs bei ihm auf dem Thurm und dann besonders des Umstandes erinnere, daß [79] ich ihn gefragt: wie ihm die Gegend da draußen (vor dem Fenster) gefalle? Er habe sich damals mit Abscheu von diesem Anblick weggewendet und immer ausgerufen: garstig, garstig! warum habe er das gethan? was sei ihm denn da vorgekommen?– „Ja freilich“, antwortete er mir, „war das sehr garstig, was ich damals sah. Wenn ich nach dem Fenster blickte, sah es mir immer so aus, als wenn ein Laden ganz nahe vor meinen Augen aufgerichtet sei, und auf diesem Laden habe ein Tüncher seine verschiedenen Pinsel mit weiß, blau, grün, gelb, roth, alles bunt durcheinander, ausgespritzt. Einzelne Dinge darauf, wie ich jetzt die Dinge sehe, konnte ich nicht erkennen und unterscheiden. Das war denn gar abscheulich anzusehen; dabei war es mir ängstlich zu Muth, weil ich glaubte, man habe mir das Fenster mit dem buntschäckigen Laden verschlossen, damit ich nicht in's Freie sehen könne. Daß das, was ich so gesehen, Felder, Berge, Häuser gewesen, daß manches Ding, das mir damals größer vorkam als ein anderes, viel kleiner sei als dieses, manches große viel kleiner als wie ich es sah, davon habe ich mich erst später auf meinen Spaziergängen in's Freie überzeugt; endlich habe ich dann nichts mehr von dem Laden gesehen.“ [80] Auf weitere Befragung bemerkte er: „Anfangs habe er nicht unterscheiden können, was wirklich rund, dreieckig, oder nur rund, dreieckig gemahlt gewesen. Die Pferde und Männer auf seinen Bilderbögen seien ihm gerade so vorgekommen, wie seine in Holz geschnitzten Pferde und Menschen; jene so rund wie diese, oder diese so flach wie jene. Doch habe er beim Ein- und Auspacken seiner Sachen bald einen Unterschied gefühlt; dann sei er erst selten, endlich gar nicht mehr in den Fall gekommen, solche Verwechslung zu machen.“

Hier haben wir denn nun in Kaspar leibhaft den sehend gewordenen, von Kindheit an Blinden des Cheselden wieder. Hören wir, was Voltaire 3) (und Diderot 4) der hier mit Voltaire für Eine Person gilt) von diesem Blinden erzählen 5)

[81] „Der junge Mann, dem der geschickte Chirurg Cheselden den Staar genommen, wußte lange Zeit weder Größen, noch Entfernungen, noch Lagen, noch sogar Figuren zu unterscheiden. Ein nur einen Zoll großer Gegenstand, den man vor sein Aug hielt und der ihm ein Haus verdeckte, erschien ihm so groß, wie das Haus. Alle Gegenstände hatte er auf seinem Auge; sie schienen ihm auf diesem Organ selbst zu haften, wie die Gegenstände des Gefühls auf der Haut. Er konnte (mit dem Gesicht) dasjenige, was er mit Hülfe seiner Hände für rund gehalten hatte, von demjenigen nicht unterscheiden, was er als eckig gefühlt hatte, noch unterscheiden, ob das was er als oben oder unten (mit dem Gefühl) wahrgenommen hatte, in der That oben oder unten sei. Es gelang ihm endlich, aber mit Mühe, die sinnliche Ueberzeugung zu gewinnen, daß sein Haus größer sei als sein Zimmer; doch niemals begriff er, wie das Aug ihm diese Vorstellung geben könne. Er bedurfte einer großen Menge von Erfahrungen, um sich zu überzeugen, daß die Mahlerei feste Körper vorstelle; und als er, durch öfteres Betrachten von Gemählden [82] die Meinung gefaßt hatte, daß das nicht blos Flächen seien, die er sehe, so befühlte er sie mit der Hand, und war dann sehr erstaunt, als er nur einer ebenen Fläche, ohne alle Erhabenheit begegnete; dann fragte er: welcher von beiden Sinnen ihn betrüge, das Gefühl oder das Gesicht? Uebrigens machten Gemählde auf Wilde, die solche zum erstenmal zu sehen bekamen, denselben Eindruck; sie nahmen die gemahlten Figuren für lebende Menschen, stellten Fragen an sie, und waren ganz erstaunt, daß sie ihnen keine Antwort gaben: ein Irrthum, an welchem allzu geringe Uebung ihrer Sehkraft gewiß am allerwenigsten Schuld hatte. 6) [83] Auch Kinder, in den ersten Wochen und Monaten nach ihrer Geburt, sehen alles gleich nahe, greifen nach dem glänzenden Knopf des fernen Kirchthurms, wissen das wirklich Große und Kleine von dem scheinbar Kleinen und Großen, gemahlte von wirklichen Dingen nicht zu unterscheiden, weil – bei Gegenständen des Gesichts und des Gefühls beide Sinne einander gegenseitig zu Hülfe kommen müssen, wenn das betastete oder mit dem Aug gefaßte Ding für das, was es wirklich ist, erkannt werden soll. Es beruht diese Erfahrung auf dem Elementargesetz alles Sehens, worüber sich der große Engländer Berkeley  7) folgendermaßen [84] ausdrückt: „Es ist, wie ich glaube, allgemein zugestanden, daß Entfernung, für sich allein und unmittelbar durch das Gesicht nicht wahrgenommen werden kann. Denn da die Entfernung eine Linie ist, welche gerade zum Auge geht, so wirft sie blos einen Punkt in den Grund des Auges. Dieser Punkt bleibt unveränderlich derselbe, die Entfernung sei länger oder kürzer. Auch ist es anerkannt, daß, wenn wir die Größe des Abstandes beträchtlich [85] entfernter Gegenstände von einander schätzen, dieses mehr ein Akt eines auf Erfahrung gegründeten Urtheils, als des bloßen Sinnes ist. Zum Beispiel: ich sehe eine große Menge von Gegenständen, Häuser, Feld, Flüsse und dergleichen hinter einander liegen, von welchen ich die Erfahrung habe, daß sie einen beträchtlichen Raum einnehmen, so schließe ich daraus, daß der Gegenstand, den ich hinter diesem andern sehe, in einer großen Entfernung steht. Hingegen wenn mir ein Gegenstand matt und klein erscheint, den ich einmal in der Nähe lebhaft und groß gesehen habe, so urtheile ich sogleich, daß er fern ist. Dieses ist nun offenbar Ergebniß der Erfahrung, ohne welche ich, aus der Mattheit und Kleinheit, nichts über die Entfernung der Gegenstände hätte urtheilen können.“

Die Anwendung dieses optischen Gesetzes und jener Erfahrungen auf die Sinnentäuschung Kaspars, macht sich ganz von selbst. Da Kaspar noch nicht weiter gegangen war, als vom Thurm zum Hrn. Bürgermeister und allenfalls noch durch eine oder die andere Strasse; da er, in Folge seiner reizbaren Augen, wie aus Furcht zu fallen, im Gehen stets auf seine Füße sah, und aus Lichtscheu immer vermied, in das offene [86] Lichtmeer hinauszublicken: so hatte er lange Zeit keine Gelegenheit, über die Perspective und die Entfernung der Gegenstände Erfahrung zu machen. Alle die mancherlei Dinge der weiten Gegend, sammt einem ziemlich schmalen Streifen des blauen Himmels, die den Raum des Fensters, von dem untern Theil des Rahmens bis oben hinauf, ausfüllten, mußten ihm daher als gleich nahe, neben und übereinander liegende gestaltlose Erscheinungen, mithin das Ganze als eine das Fenster bedeckende, aufrecht stehende Tafel erscheinen, auf welcher die, für ihn nicht unterscheidbaren, kleineren und größeren, verschieden gefärbten Gegenstände nur wie unförmliche bunte Klekse sich ausnehmen konnten.

 

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1) Der Speichel war so sehr leimartig, daß beim Wegnehmen der Blätter, entweder Stückchen von diesen an der Wand, oder Theile vom Bewurf der Wand an dem Papier hängen blieben. 

2) Auch Prof. Daumers Notaten stimmen mit dieser Beobachtung überein. 

3) In dessen Philosophie de Newton (Oeuvres complètes, Gotha 1786, T. XXXI, p. 118 sq.) 

4) Lettres sur les aveugles à l'usage de ceux qui voyent. Londres 1749, p. 159-164. Diderot hat übrigens die Erzählung Voltaires von Wort zu Wort abgeschrieben. 

5) Das Werk des Cheselden selbst konnte ich mir nicht verschaffen. Ich benutze übrigens diese Gelegenheit, um Herrn Bibliothekar von Falkenstein für die, während meines Aufenthalts zu Dresden auch bezüglich dieses Gegenstandes erwiesenen Gefälligkeiten öffentlich meinen Dank zu sagen. 

6) On ajute à ces raisonnemens les fameuses expériences de CHÉSELDEN. Le jeune homme à qui cet habile Chirurgien abbaissa les cataractes, ne distingua de longtems ni grandeurs, ni distances, ni situations, ni méme figures. Un objet d'un pouce mis devant son oeil, et qui lui cachoit une maison, lui paroissoit aussi grand que la maison. Il avoit tous les objets sur les yeux, et ils lui sembloient appliqués à cet organe, comme les objets du tact le sont à la peau. Il ne pouvoit distinguer ce qu'il avoit jugé ronde à l'aide de ses mains, d'avec ce qu'il avoit jugé angulaire; ni discerner avec les yeux, si ce qu' il avoit senti être en haut ou en bas, étoit en effet en haut ou en bas. Il parvint, mais ce ne fut pas sans peine, à apercevoir que sa maison étoit plus grande que sa chambre, mais nullement à concevoir comment l'oeil pouvoit lui donner cette idée. Il lui fallut un grand nombre d'expériences réiterées, pour s'assurer que la peinture représentoit des corps solides; et quand il se fut bien convaincu, à force de regarder des tableaux, que ce n'étoient point des surfaces seulement qu' il voyoit, il y porta la main, et fut bien étonné de ne rencontrer qu' un plan uni et sans aucune saillie: il demanda alors quel étoit le trompeur, du sens du toucher ou du sens de la vue. Au reste la peinture fit le même effet sur les sauvages, la première fois qu'ils en virent: ils prirent des figures peintes pour des hommes vivans, les interrogèrent, et furent tout surpris de n'en recevoir aucune réponse: cet erreur ne venoit certainement pas en eux du peu d' habitude de voir. 

7) It is, i think, agreed by all that distance of itself, and immediately cannot be seen. For distance being a line directed end-wise to the eye, it projects only one point in the fund of the eye. Which point remains invariably the same, whether the distance be longer or shorter. – I find it also acknowledged, that the estimate we make of the distance of objects considerably remote, is rather an act of judgment grounded on experience, than of sense. For example: When I perceive a great number of intermediate objects, such as houses, field, rivers, and the like, which I have experienced to take up a considerable space; I thence form a judgment or conclusion, that the object I see beyond them is at a great distance. Again, when an object appears faint and small, which at a near distance I have experienced to make a vigorous and large appearance; I instantly conclude it to be far off. And this, it is evident, is the result of experience; without which, from the faintness and littleness, I should not have inferred any thing concerning the distance of objects.