BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Anselm von Feuerbach:

Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens

am Seelenleben des Menschen

 

1832

 

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[10]

II.

 

Kaspar Hauser – diesen Namen hat er bis jetzt beibehalten – trug als er nach Nürnberg kam, auf dem Kopf einen runden, mit gelber Seide gefütterten, mit rothem Leder besetzten, etwas groben Filzhut, von städtischer Form, in welchem das halbausgekrazte Bild der Stadt München zu sehen ist. Die Zehen seiner nackten Füße sahen aus ganz zerrissenen, ihm nicht anpassenden, mit Hufeisen und Nägeln beschlagenen Halbstiefeln mit hohen Absätzen hervor. Um seinen Hals war eine schwarz seidene Halsbinde geschlungen. Ueber einem groben Hemde 1) und einer schon ausgewaschenen, rothgetupften, zeuchenen Weste trug er eine grautuchene Jacke, welche die Bauersleute Janker oder Schalk zu nennen pflegen, [11] welche aber, wie sich erst später bei genauerer Betrachtung und nach Untersuchung von Sachverständigen ergab, der Schneider ursprünglich zu keiner Bauernjacke zugeschnitten hatte; sie war ehemals, wie schon der liegende Kragen zeigt, ein Frack, dem man die Hintertheile abgeschnitten und dessen obere Hälfte eine der Schneiderei unkundige Hand mit groben Stichen wieder zusammen geheftet hatte. Auch die etwas feineren, gleichfalls grautuchenen Pantalons, wie Reithosen zwischen den Beinen mit demselben Tuche besetzt, gehörten wohl ursprünglich eher einem Bedienten, Reitknecht oder Förster und dergl., als einem Bauern. Kaspar trug ein weißes rothgegittertes Schnupftüchlein bei sich, mit den Buchstaben K. H. roth gezeichnet. Außer einigen blau und weiß geblumten Lappen, einem deutschen Schlüssel und einem Papier mit etwas Goldsand – den wohl Niemand in Bauernhütten sucht – fand sich in seiner Tasche ein kleiner hörnener Rosenkranz und ein ziemlicher Vorrath geistlichen Segens; nämlich, außer geschriebenen katholischen Gebeten, mehre geistliche Druckschriften, wie sie häufig im südlichen Deutschland, zumal an Wallfahrtsorten, der gläubigen Menge für gutes Geld geboten werden, – einige ohne Druckort, andere mit den Druckorten: Altöttingen, Burghausen, Salzburg, [12] Prag. Ihre auferbaulichen Titel heißen z. B. „Geistliche Schildwacht,“ – „Geistliches Vergißmeinnicht,“– „Ein sehr kräftiges Gebet, wodurch man sich aller heiligen Messen etc. theilhaftig machen kann,“ – „Gebet zum heiligen Schutzengel,“ – „Gebet zum heiligen Blut“ u. s. w. Eines dieser köstlichen Geisteswerklein, betitelt: Kunst, die verlorne Zeit und übel zugebrachten Jahre zu ersetzen (ohne Jahrzahl) scheint auf das bisherige Leben dieses Jünglings, wie er es späterhin erzählte, höhnend anzuspielen. Daß nicht blos weltliche Hände bei dieser Begebenheit mit im Spiele seien, ließ sich, nach den mitgebrachten geistlichen Gaben, nicht wohl bezweifeln.

Der an den ungenannten Rittmeister der 4ten Escadron des 6ten Chevauxlegers-Regiments adressirte Brief, mit welchem in der Hand Kaspar zu Nürnberg auftrat, war nach Form und Inhalt folgender:

 

„Von der Bayerschen Gränz

daß Orte ist unbenannt 1828.

 

Hochwohlgebohner Hr. Rittmeister!

 

„Ich schücke ihner ein Knaben der möchte seinen König getreu dienen verlangte Er, [13] dieser Knabe ist mir gelegt worden, 1812 den 7. Ocktober, und ich selber ein armer Taglöhner, ich habe auch selber 10 Kinder, ich habe selber genug zu thun daß ich mich fortbringe, und seine Mutter hat nur um die erziehung daß Kind gelegt, aber ich habe sein Mutter nicht erfragen können, jezt habe ich auch nichts gesagt, daß mir der Knabe gelegt ist worden, auf den Landgericht. Ich habe mir gedenkt ich müßte ihm für mein Sohn haben, ich habe ihm Christlichen Erzogen, und habe ihn Zeit 1812 Keinen Schrit weit aus den Haus gelassen daß Kein Mensch nicht weiß davon wo Er auf erzogen ist worden, und Er selber weiß nichts wie mein Hauß Heißt und daß ort weiß er auch nicht, sie derfen ihm schon fragen er kann es aber nicht sagen, daß lessen und schreiben habe ich ihm schon gelehrt er kann auch mein Schrift schreiben wie ich schreibe, und wan wir ihm fragen was er werde, so sagte er will auch ein Schwolische werden waß sein Vater gewesen ist, Will er auch werden, wen er Eltern häte wir er keine hate wer er ein gelehrter bursche worden. Sie derfen im nur was zeigen so kan er es schon, [14] Ich habe im nur bis Neumark geweißt da hat er selber zu ihnen hingehen müssen ich habe zu ihm gesagt wenn er einmal ein Soldat ist, kome ich gleich und suche ihm heim sonst häte ich mich von mein Hals gebracht

Bester Hr. Rittmeister sie derfen ihm gar nicht tragtiren er weiß mein Orte nicht wo ich bin, ich habe im mitten bei der nacht fort gefürth er weiß nicht mehr zu Hauß,

„Ich empfehle mich gehorsamt Ich mache mein Namen nicht Kentbar den ich Konte gestraft werden,

„Und er hat Kein Kreuzer Geld nicht bey ihm weil ich selber nichts habe wen Sie im nicht Kalten (behalten) so müssen Sie im abschlagen oder in Raufang auf henggen.

 

 

Es lag diesem Briefe zugleich folgender mit lateinischen Buchstaben, jedoch wahrscheinlich von derselben Hand, geschriebener Zettel bei:

 

„Das Kind ist schon getauft Sie heist Kasper in (d. h. einen) Schreibname misen Sie im Selber geben das Kind moechten Sie aufziehen Sein Vater ist ein Schwolische gewesen wen er 17 Jahr alt ist so schicken [15] Sie im nach Nirnberg zu 6ten Schwolische Regiment da ist auch sein Vater gewesen jch bitte um die erziehung bis 17. Jahre gebohren ist er im 30. Aperil 1812 im Jaher ich bin ein armes Mägdlein ich kan das Kind nicht ernehren sein Vater ist gestorben.“

 

 

Kaspar Hauser 2) war bei seinem Erscheinen zu Nürnberg 4 Schuhe, 9 Zolle groß, und mochte damals vielleicht in seinem 16 – 17. Jahre stehen. Ein ganz dünner Flaum überzog Kinn und Lippen, die sogenannten Weisheitszähne fehlten noch und sind erst im Jahr 1831 hervorgebrochen. Seine hellbraunen, sehr feinen Haare, bäuerlich zugeschnitten, kräuselten sich in kleine Locken. Sein Körperbau, untersetzt und breitschulterig, zeigte ein vollkommenes Ebenmaß, ohne irgend ein sichtbares Gebrechen. Seine Haut war sehr weiß und fein; seine Gesichtsfarbe nicht eben blühend, doch auch nicht krankhaft; seine Glieder zart gebaut; die kleinen Hände schön geformt; [16] eben so die Füße, welche keine Spur zeigten, daß früher ein Schuh sie beengt oder gedrückt habe. Die Fußsohlen waren ohne Hornhaut, so weich wie das Innere einer Hand, und über und über mit frischen Blutblasen bedeckt, deren Spuren noch mehre Monate später zu sehen waren. An beiden Armen zeigten sich die Narben der Impfung; an seinem rechten Arm fiel eine noch mit frischem Schorf bedeckte Wunde auf, die, wie Kaspar späterhin erzählte, von einem Schlag mit einem Stock (oder Stück Holz) herrührte, welchen der Mann, „bei dem er immer gewesen,“ ihm gegeben, als er einmal zu viel Lärm gemacht habe. Sein Gesicht war damals sehr gemein und, wenn es in Ruhe war, fast ohne Ausdruck; die untern Theile desselben traten etwas vor, was ihm ein thierisches Ansehen gab. Auch der stiere Blick seiner bläulichen, übrigens klaren, hellen Augen hatte den Ausdruck thierischer Stumpfheit. 3) Seine Gesichtsbildung änderte sich nach einigen Monaten gänzlich; der Blick gewann Ausdruck und Leben, die hervorragenden untern Theile des Gesichts traten mehr [17] zurück, und die frühere Physiognomie war kaum wieder zu erkennen. Sein Weinen bestand in der ersten Zeit in einem häßlichen Verzerren des Mundes; bewegte aber irgend etwas Angenehmes sein Gemüth, so verbreitete sich über seine Miene eine lieblich lächelnde, alle Herzen gewinnende Freundlichkeit, der unwiderstehliche Reiz der Freude eines unschuldigen Kindes. Seine Hände und Finger wußte er so gut wie gar nicht zu gebrauchen. Die Finger spreizte er steif und gerade hin weit auseinander, mit Ausnahme des Zeigefingers und Daumens, deren Spitzen er gewöhnlich auf die Weise zusammenhielt, daß sie einen Zirkel bildeten. Wo andere Menschen nur einige Finger brauchen, bediente er sich der ganzen Hand, die auf die ungeschickteste, verkehrteste Weise ihr Geschäft verrichtete. Sein Gang, ähnlich dem eines Kindes, das am Laufband seine ersten Versuche macht, war nicht sowohl ein Gehen, als ein watschelndes, schwankendes Tappen, eine peinliche Mittelbewegung zwischen Fallen und Aufrechtstehen. Statt beim Gehen mit der Ferse zuerst aufzutreten, setzte er mit gehobenen Beinen Ferse und Vorderfuß zugleich auf den Boden und stolperte, die Füße einwärts gekehrt, mit überhängendem Oberleib und weit von sich hinweggestreckten Armen, die er als Balanzirstange zu gebrauchen schien, langsam schwerfällig [18] vor sich hin. Oefters fiel er in seinem Zimmerchen, bei geringem Hinderniß oder Anstoß, der Länge nach zu Boden. Beim Auf- und Absteigen von Treppen mußte er, noch lange nach seiner Ankunft, immer geführt werden. Und noch jetzt ist es ihm, ohne zu fallen, nicht möglich auf dem einen Fuß zu stehen, den andern zu heben, zu biegen oder auszustrecken.

Bei einer erst noch im Jahre 1830 vorgenommenen gerichtsärztlichen Besichtigung der Leibesbeschaffenheit Kaspar Hausers ergaben sich, unter andern, folgende höchst merkwürdige Eigenthümlichkeiten, die auf sein Leben und sein Schicksal ein helles Licht zurückwerfen. „Das Knie,“ sagt das Gutachten des Dr. Osterhausen, „hat eine besondere regelwidrige Bildung. Bei Streckung des Unterschenkels tritt in der Regel die Kniescheibe hervor; bei Hauser aber liegt sie in einer beträchtlichen Vertiefung. Regelmäßig heften sich die vier Streckmuskeln des Unterschenkels, als der äußere und innere große, der gerade und tiefe Unterschenkelstrecker (musculus vastus externus et internus, m. femoris et cruralis) mit einer gemeinschaftlichen Sehne, nachdem sie sich mit der Kniescheibe verwebt hat, an den Höcker des Schienbeins an; hier aber ist die Sehne getrennt, und die Sehne des äußern und innern [19] großen Schenkelstreckers (m. vastus externus et internus) gehen an der äußern und innern Seite des Schienbeinknorrens herab, heften sich unter diesem an das Schienbein an, und zwischen ihnen liegt die Kniescheibe. Hiedurch, und da diese Sehnen ungewöhnlich stark ausgewirkt sind, entsteht jene Vertiefung. Wenn er mit ausgestrecktem Ober- und Unterschenkel, in horizontaler Lage auf dem Boden sitzt; so bildet der Rücken mit der Beugung des Oberschenkels einen rechten Winkel, und das Kniegelenk liegt in gerader Streckung so fest auf dem Boden, daß am Kniebug nicht die geringste Höhlung zu bemerken und kaum ein Kartenblatt unter die Kniekehle zu schieben ist.“

 

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1) Welches unbesonnener Weise, angeblich wegen seiner schlechten Beschaffenheit, sammt den Stiefeln, gleich in der ersten Zeit hinweggeworfen wurde! So verfuhr man mit Sachen, welche als Anzeigen äußerst wichtig werden konnten! 

2) Das folgende Signalement ist nicht etwa aus den Polizei-Akten genommen, wo dergleichen nicht zu finden ist, sondern aus meinen eigenen Beobachtungen und den schriftlich aufgezeichneten Bemerkungen anderer glaubwürdiger Personen. 

3) Der Verf. dieses äußerte damals den Wunsch, es möge Kaspars Gesicht von einem geschickten Porträtmaler gezeichnet werden, weil jenes sich gewiß bald verändern werde. Jener Wunsch blieb unerfüllt, diese Vermuthung aber wurde bald wahr.