BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

______________________________________________________________________________

 

 

[189]

XVI.

 

Beleuchtung einiger merkwürdiger Documente. Der Brief, den H. mitbrachte und der Beutel und Zettel, der bei seiner Ermordung gefunden wurde. Enthüllung der geheimen Absichten, die bei diesen Gegenständen obgewaltet. Die in täuschender Weise auf ein deutsches Fürstenhaus hinführenden Angaben des mitgebrachten Briefes. Aenderung des Manövers, um H. in Uebereinstimmung mit Merker's Hypothese, als Betrüger und Selbstmörder erscheinen zu lassen.

 

Es sind einige sehr merkwürdige Documente vorhanden, die, wie mir scheint, noch niemals in der rechten Weise betrachtet und benützt worden sind. Ich meine den Brief, den Hauser bei seinem Erscheinen in Nürnberg mitbrachte, und den Beutel und Zettel, der bei seiner Ermordung in Ansbach gefunden wurde. Es steckt eine geheime Absichtlichkeit und große Schlauheit von Seiten der im Hintergrunde stehenden Verbrecher dahinter und es haben diese Gegenstände auch wirklich ihren Zweck erreicht.

In dem von H. mitgebrachten Briefe ist angegeben, er sei geboren den 30. April 1812 und dem Schreiber des Briefes gelegt worden am 7. October 1812. Nun hat man damit die Geburts- und Sterbetage zweier Prinzen eines deutschen Fürstenhauses verglichen, deren einer mit H. identisch zu sein schien. Dieser, der ältere von beiden, [190] ist geboren den 29. September, gestorben den 16. October 1812; der andere ist geboren den 30. April und gestorben den 8. Mai 1817.

Der ältere Prinz war also in demselben Jahre 1812 geboren und gestorben, in welchem H. geboren und dem Unbekannten als Findling gelegt worden sein sollte. Auch der Monat, in welchem der Prinz gestorben ist, und H. von dem Unbekannten gefunden worden sein soll, stimmt überein; hier wie dort spielt der October des Jahres 1812 seine Rolle; nur ist in dem Briefe statt des 16. Octobers der 7. gesetzt. Endlich trifft der Geburtstag des zweiten Prinzen, der 30. April, ganz genau mit dem angeblichen Geburtstage Hauser's zusammen.

So viel Uebereinstimmung ist wohl nicht zufällig. Offenbar sollte Aufmerksamkeit und Nachforschung auf jene fürstliche Familie hingelenkt, von den wahren Spuren aber abgelenkt werden.

Wenn gefragt wird, warum die Uebereinstimmung nicht vollkom­men, warum einige Abweichung eingemischt sei, so ist es denkbar, daß man nicht ganz genau unterrichtet und in Beziehung auf jene Differenzen im Irrthum gewesen. Es ist aber vielleicht nicht einmal ein ursprünglicher Irrthum gewesen, wenn statt des 16. October der 7. steht. Es sollte wahrscheinlich der 17. stehen, und die nur aus einem Striche bestehende Zahl 1 ist in dem Briefe aus Versehen ausgelassen worden, oder hat sich nicht deutlich [191] ausgedrückt. Man wollte wahrscheinlich glauben machen, daß jener Prinz, als dessen Todestag der 16, October angegeben wird, an diesem Tage heimlich fortgeschafft und am Tage darauf in die Hände des Unbekannten, der ihn nach Nürnberg brachte, geliefert worden sei.

Sehr auffallend ist, daß sich am 16. October auch der Nürnberger Mordversuch ereignete. Sollte das auch wieder ein bloßer Zufall sein? Oder wählte man den Tag absichtlich, um auch wieder in dieser Art auf jenen falschen Punkt hinzulenken?

Mit all dem in Verbindung steht wohl der Umstand, daß sich nicht lange nach Hauser's Erscheinen in Nürnberg das Gerücht verbreitete, derselbe sei ein für todt ausgegebener Prinz von B. und Sohn der Gr. St.; daß sich das Gerücht von Zeit zu Zeit erneuerte, selbst in Form einer angeblichen Geistererscheinung, von der öffentliche Blätter erzählten, und daß namentlich in einer Stuttgarter Zeitung und daraus in einem Augsburger Blatt die Behauptung zu lesen war, H. sei „der muth­maßliche Prätendent von B.“ 1) Ich stelle mir die Sache näher folgendermaßen vor.

Die im mysteriösen Hintergrunde stehenden und handelnden Persönlichkeiten wollten und hofften zwar, daß die Aussetzung Hauser's kein allzu großes Aufsehen machen, [192] daß man ihn zu Nürnberg in irgend einer obskuren Weise versorgen oder verwenden werde. Für den Fall jedoch, daß ein Verbrechen vermuthet und darauf hin gefährliche Nachforschungen angestellt werden sollten, wollte man diesen eine falsche Richtung geben. Man reizte den Scharfsinn der Forschenden durch jene auf das Haus B. hinzielenden Jahres- und Monatstage. Es fehlte nicht an den bezüglichen geneologischen Nachrichten und Kenntnissen, doch schlichen sich ein Paar Fehler ein, die schwerlich beabsichtigt waren. Als nun die Erscheinung Hauser's so großes Aufsehen erregte, half man durch ausgestreute Gerüchte nach, und Feuerbach, ihnen arglos trauend, so wie den verführerischen Angaben des Briefes folgend, verwickelte sich in die Annahme, daß H. in der That ein für todt ausgegebener Prinz von B. sei.

So ging Alles gut genug. Nun aber begann den Schuldigen eine Gefahr zu drohen, an die sie nicht gedacht hatten. Es erwachten in H. Erinnerungen an seine Kindheit, die gleichwohl eine Entdeckung herbeiführen konnten; das ganz bestimmte Bild von Schlössern oder Palästen, von ihrer Bauart und Einrichtung und selbst von Personen, die da um ihn gewesen, traten hervor in ihm; er zeichnete sogar das Portrait einer solchen Person. Schon fing er auch an, eine Lebensgeschichte aufzuzeichnen. Späterhin kam dazu noch die Entdeckung, daß er ungarische und polnische Wörter und Phrasen verstand, [193] woraus abgenommen werden konnte, daß er sich in seiner Kindheit eine Zeit lang in Ungarn aufgehalten habe. Unter solchen Umständen durfte dieser Mensch nicht leben bleiben. Zwei mörderische Anfälle ereigneten sich, von denen der erste mißlang, der zweite aber seine Absicht nur allzu gut erreichte.

Zwischen den beiden Vorfällen hatte Merker die Ansicht geäußert, daß H. ein Betrüger sei. Dies benutzte man, indem man den Prinzen fallen ließ, in Harmonie mit jener Auffassungsweise operirte und den erst zu einer fürstlichen Höhe emporgeschraubten Findling nunmehr zu einem gemeinen Lügner und Betrüger herabwürdigte. Als man ihm zu Ansbach jene tödtliche Wunde versetzte, hinterließ man ein Paar Gegenstände, die oberflächlich betrachtet, gar keinen Zweck hatten, bei denen aber, wie man sich bald überzeugen wird, die Absicht zu Grunde lag, den Verdacht des Mordes auf H. selbst zurückzuleiten.

Stanhope in einem an den Lehrer Meyer in Ansbach ge­richteten Aufsatze sagt: „Sie erinnerten sich sehr deutlich, einen ähnlichen Beutel in Hauser's Besitze gesehen zu haben, und ihre Gattin war erschrocken, als sie den Zettel aus dem Beutel herausnehmen sah, weil er ganz so zusammengelegt war wie H. seine Briefe zusammenzulegen pflegte.“ 2) [194]

Ich nehme diese Thatsachen an. Ein Beutel, wie derjenige, den man im Schloßgarten fand, war wirklich in Hauser's Besitze gewesen; er war verschwunden, und nun fand er sich wieder bei dieser Gelegenheit. H. hatte seine Briefe in einer gewissen, wahrscheinlich etwas auffallenden Manier zusammengelegt, und eben so war der Zettel gefaltet.

Stanhope will, man solle nun den Schluß ziehen: Also war die angebliche Mordgeschichte eine Gaukelei, bei welcher H. einen ihm selbst gehörigen Beutel verwendete, auch den Zettel selbst schrieb und auf die ihm eigene Manier zusammenlegte.

Aber Sie vergessen, Herr Graf, daß es noch eine andere Auffassung der Sache giebt, die viel wahrscheinlicher ist. Der Beutel wurde dem Findling gestohlen und bei der Mordgeschichte in Anwendung gebracht, und der Zettel wurde in der ihm eigenen Manier gefaltet, Beides, um einen nachherigen recht scheinbaren Anhaltspunkt zu der Behauptung zu haben, es sei Alles nur des Gemordeten eigene That.

War der Beutel früher in Hauser's Besitze und ließ er denselben Anderen, wie Herrn Meyer sehen, so müßte er doch gar zu dumm gewesen sein, wenn er ihn zu einer solchen Mystifikation verwendet hätte. Und wenn er noch überdies den Zettel auf eine verrätherische Weise gefaltet hätte, so wäre das auch sehr unbesonnen und einfältig gewesen. [195] Ein Schlaukopf und Streichemacher, wie er nach Merker's, Stanhope's und selbst Eschricht's Annahme gewe­sen sein soll, ja ein Mensch von nur einigem Verstande, wie er doch sicher war, konnte so nicht handeln.

Wenn ihm aber der Beutel gestohlen, die Zusammenlegung seiner Briefe nachgemacht wurde, so fällt der Argwohn auf Personen, die mit ihm umgingen, wohl auch auf sein Zimmer kamen. Wer diese Leute gewesen sein mögen, das weiß ich nicht und spreche ich nicht aus; denken kann Jeder, was er will.

 

――――――――

 

1)Feuerbach's Leben und Wirken“, Leipz. 1852. II. S. 332. 

2) „Materialien“ S. 103.