BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[131]

IX.

 

Ueber die in Herrn Eschricht's Darstellungen herrschende Unwahrheit und Unred­lichkeit. Beispiele der in seinem Buche enthaltenen falschen Angaben und entstellten Tatsachen.

 

Ich habe gleich von vorn herein unter I. von der in Herrn Eschricht's Buche herrschenden Unwahrheit und Unredlichkeit gesprochen, indem die Angaben theils ganz falsch und lügen­haft, theils vorzugsweise aus unsicheren und verdächtigen Quellen geschöpft, die der aufge­stellten Theorie zu sehr widersprechenden That­sachen und Umstände ignorirt und die für die­selbe unlösbaren Probleme umgangen sind. Diese Be­schuldigungen, für die ich nur erst ein Paar gelegentliche Beweise beigebracht, sollen nun der Reihe nach durch Beispiele belegt und gerechtfertigt werden, was nicht nur zur detaillirten Ausführung des von jenem schriftstellerischen Charakter zu entwerfenden Gemäldes und meinem persönlichen Schutze wider dessen Anfeindungen dienen, sondern auch ein die Hauserische Sache selbst [132] angehendes histo­risches und wissenschaftliches Interesse haben wird, wie namentlich, was die von Herrn Eschricht so ganz mit Stillschweigen übergangenen, hochwichtigen Thatsachen und Umstände betrifft. Zuvor aber will ich auf einen Umstand aufmerksam machen, der eine ernstliche Rüge und Züchtigung um so verdienter erscheinen lassen wird.

Dieser Mann ist nämlich ein wahres Chamäleon, das in den verschie­denartigsten Farben spielt. Einerseits sehen wir ihn ganz materiali­stische und gemein empirische Denkarten und Tendenzen herauskehren und Allem, was über diese Linie hinausgeht, einen fanatischen Krieg erklären. Andererseits thut er, wie ein Pfaffe, setzt sich auf den mora­lischen Gaul, führt erbauliche Redensarten, wirft denen, die er angreift, „sündhafte“ Verirrungen vor und kramt pathetische Trivialitäten aus, indem er z. B. die Worte ruft: „Heil dem Menschen, der, die Hand auf dem Herzen, sagen kann, er habe nie ein Verbrechen wider das Seelenleben eines Andern begangen“ S. 169. Sollte dies auch nicht eigentliche, klar bewußte Heuchelei und Scheinheiligkeit, sondern mehr die gedankenlose Inceonsequenz eines verworrenen Kopfes sein – eine gewisse verächtliche Accommodation und Koketterie mit Theologie und Moral auf Kosten Anderer blickt doch immer deutlich durch. Sehen wir nun, wie es mit der eigenen Rechtschaffenheit und Gewissenhaftigkeit dieses Mannes aussieht! [133]

Zuerst von den falschen Angaben und entstellten Thatsachen, von denen seine Darstellung wimmelt und wovon ich hier noch folgende herausheben will.

Als ich mit H. bekannt wurde, war ich kränklicher Umstände wegen außer amtlicher Thätigkeit; nach H. E. wurde ich meiner Amtsübung entbunden, um mich dem Findlinge ganz widmen zu können, S. 86. Aus Herrn v. Hermann, ehemaligem Lehrer der Mathematik zu Nürnberg, nachherigem Professor und Ministerialrath zu München, einem der klarsten Köpfe, die es gibt, wird ein abenteuerlicher Magnetiseur, „mein würdiger Freund“, gemacht, S. 92. 107. Was über Hauser's im Anfange bis zum Wunderbaren gesteigerte Gedächtnißkraft aufgezeichnet, namentlich bei Feuerbach zu lesen und hier unter V. ausgehoben worden ist, erscheint bei Herrn Eschricht S. 54 bis zum Gewöhnlichen herabgedrückt. In meinen „Mittheilungen“ S. 57 ist ganz deutlich und bestimmt zu lesen, daß H. vor dem in meinem Hause vorgefallenen Mordversuche zwar ein gewisses ängstliches Unwohlsein zu erkennen gegeben, aber von den Vorstellungen, die ihm seiner späteren Aussage nach dabei in den Sinn kamen, nicht das Geringste geäußert habe. „Ueber die Ahnung,“ heißt es wörtlich daselbst, „die ihn in den dem Mordversuch vorausgehenden Tagen befiel, äußerte er sich erst nach dem Vorfalle mit Bestimmtheit, weil er, was seiner großen Zaghaftigkeit wegen nicht selten geschehen war, verlacht zu werden fürchtete“ u. s. w. [134] „Nicht lange vor der Begebenheit klagte er mir Unwohlsein und bat um Erlaß einer Lehrstunde“ u. s. w. Trotzdem berichtet H. E., bloß um den Unglücklichen zum schamlosen Lügenschmied und Gaukler und mich zu einem von ihm düpirten Schwachkopfe zu machen, er habe einen Mordanfall ausdrücklich vorausgesagt; es wird eine förmliche „Vorherbesprechung des kommenden Ereignisses“ vorgegeben und dann bemerkt: „ein vernünftiger Erzieher hätte in diesem Falle dem Knaben recht ernst in's Gewissen geredet und ihn gefragt, was er nun wieder für Narrenstreiche vorhabe, oder er hätte gethan, als wenn er die Sache gar nicht beachte, den Burschen aber scharf im Auge behalten.“ Ich konnte das Alles nicht, weil ich Nichts wußte, als daß H. unpäßlich sei, und das nicht hinreichte, um gröblich und gewaltsam mit ihm umzugehen, oder ihm in Erwartung eines Bubenstückes argwöhnisch aufzulauern. Was ich aber Herrn E. gegenüber thun kann, das ist Fol­gendes: Ich klage ihn öffentlich der Lüge und der böswilligen Entstel­lung der deutlich vorliegen­den, keinem Mißverstand unterworfenen Tatsa­chen an. Merkwürdig ist, was den zuletzt berührten Fall betrifft, daß H. E. Hausern darum zum Betrüger macht, weil er von seiner Ahnung schon vor der Begebenheit gesprochen habe, Graf Stanhope aber ihn deßwegen verdächtigt, weil er es nicht gethan. 1) Man sieht daraus, [135] daß es ganz gleichgültig ist, was und wie Etwas berichtet wird und geschrieben steht; jede Partei legt sich die Thatsachen in ihrer Art aus, oder ändert sie ihrem Interesse gemäß.

S. 123 gibt H. E. Folgendes an: „Die Wunde war sehr unbedeutend; sie wäre, sagt Daumer,, bei einem Andern in sechs Tagen zu heilen gewesen,“ u. s. w. Wo habe ich das gesagt? – Daß die an und für sich unbedeutende Wunde bei anderen Individuen wohl in sechs Tagen hätte geheilt werden können, war eine ärztliche Aussage, wie bei Feuerbach S. 131 zu sehen, keineswegs aber die meinige. In meinen „Mittheilungen“ I. 62 steht: „Hauser's Verwundung war in Beziehung auf die hohe Reizbarkeit seines Nervensystems so bedeutend, daß sein Wiederaufkommen zweifelhaft war.“ Ferner ist die Schilderung von Hauser's Benehmen unmittelbar nach seiner Verwundung, die H. E. S. 126 f. giebt, den von mir und Andern darüber erstatteten Berichten durchaus entgegen. „Als er in seinem eigenen Blute sein erstes, eigentliches Verbrechen vollführt sah, da überwältigte es ihn, den Elenden, ließ ihn, wie verwirrt, umherlaufen und sich in den Keller verstecken.“ In meinen „Mittheilungen“ S. 62 [136] heißt es dagegen: „Niedergestürzt muß er, nach dem vielen an der Stelle vergossenen Blute zu urtheilen – dasselbe floß unter einer Thüre weg, die in einen benachbarten Garten führte, und häufte sich hier in einer vertieften Stelle an – lange gelegen sein, bis er sich aufraffte und die Treppe hinaufging, um in das Zimmer meiner Mutter zu kommen.“ Vergl. Feuerbach's Kaspar Hauser hierüber.

S. 96 sagt H. E., sich einer faden Spötterei bedienend: „H. wurde nicht allein von seinem Lehrer und Erzieher, Prof. Daumer, sondern auch von Metallen angezogen, besonders von Gold.“ Er wurde aber von mir gar nicht angezogen. Ich habe in meinen „Mittheilungen“ genau angegeben und unterschieden, was er für eigenthümliche Empfindungen für animalisch Lebendiges und Mineralisches hatte. Bei jenem empfand er eine ihm unangenehme Strömung, die er „Anblasen“ nannte; Mineralien hingegen schienen ihm eine anziehende Kraft zu äußern. Gold war jedoch nicht das Stärkste, was ihn auf diese Weise zu afficiren pflegte; eine noch stärkere Einwirkung zeigten Schwefel, Diamant, Platina, Quecksilber und die Pole des Magnets. 2) Wenn H. E. sich solcher Confusionen und Unrichtigkeiten schuldig macht, so mag es nicht immer Lüge, bewußtes Aussprechen unwahrer [137] Dinge zu nennen sein; aber man sieht denn doch, wie er die Gegenstände und Schriften studirt hat, über die er zu urtheilen übernimmt. „Daumer meinte nach seiner Weise, daß H. durch seine magnetische Kraft mit den Füßen fest nach den Steigbügeln und mit dem Sitze nach dem Sattel hingezogen werde.“ Dabei wird meine Schrift II. S. 38 citirt. Da wähnt nun wohl der Leser, der meine Schrift nicht kennt und nicht zur Hand hat, ganz gut berichtet zu sein. Ich habe aber an dem angeführten Orte gar keine eigene Ansicht ausgesprochen, sondern nur angegeben, was H. beim Reiten zu empfinden geglaubt und ausgesagt. Das aufzuzeichnen war meines Amtes, und ich verdiene deßhalb keinen Tadel und Spott, wie man auch übrigens von der Sache denken möge.

Noch ein Beispiel. Herr v. Pirch 3) giebt ausdrücklich an, er habe das ungarische Fluchwort basmanateremtete „nur hingeworfen und ohne zu accentuiren“ ausgesprochen. Dennoch behaup­tet Herr Eschricht S. 140 und 153: Hauser habe es aus dem Tone errathen, womit man einen solchen Fluch ausspricht. Wie schlecht!

Das ist nun die Art, in welcher dieser von moralischen Grundsätzen und Zurechtweisungen triefende, über Andere so streng urtheilende, so richterlich den Stab brechende [138] Mann historische und literarische Thatsachen zu berichten und darzustellen pflegt; die Art, in welcher er mit der Wahrheit umgeht, die ihm schon überhaupt und an und für sich, dann speciell als wissenschaftlichem Forscher, so wie auch in Rücksicht auf die Individuen, deren Ehre und guter Name dabei in's Spiel kommt, heilig sein mußte. Sein Buch ist in Folge so großer Leichtfertigkeit und Unredlichkeit historisch ganz unzuverlässig und unbrauchbar; man darf Nichts darin, so bestimmt es auch hingestellt sei, auf guten Glauben hinnehmen.

Es kommt dazu, daß er sich mit Vorliebe an die allerbedenklichsten Geschichtsquellen und Autoritäten hält. Schon vorn herein S. 3 erklärt er, daß er bei Schilderung von Hauser's erstem Auftreten besonders die „wichtigen Aufklä­rungen“ von Stanhope und Merker zu Grunde lege. Ich werde in einem unten folgenden Kapitel ausführlich darthun und nachweisen, was man von diesen sogenannten Aufklärungen und Demjenigen, von dem sie herrühren, zu halten habe. Hier nur so viel. Den höchst auffallenden Bemühungen des Grafen Stanhope um die Hauserische Geschichte und ihren Resultaten oder vielmehr seinen Berichten über diese Resultate liegt die offenkundig feindseligste Absicht zu Grunde, indem H. dadurch zum schändlichsten Lügner und Betrüger gestempelt, Feuerbach's Autorität paralysirt und seine Berichterstattung als unrichtig und ungültig dargestellt [139] werden soll. Die von Stanhope publicirten und gegen Feuerbach in's Feld geführten Aussagen aber sind solche, die er erst nach Hauser's Tode gesammelt hat und in denen Zeugen auftraten, die zu feinen und scharfen Beobachtungen gar nicht geeignet waren, und die die einzelnen kleinen Umstände, auf die es hier ankommt, gewiß nicht alle mehr klar und rein im Gedächtnisse hatten, sollte ihre ursprüngliche Anschauung und Auffassung auch noch so objectiv und vollkommen gewesen sein. Es ist hier ein nicht bloß einfacher, sondern doppelter Grund zu Mißtrauen und Vorsicht gegeben. Auf das, was Schuster, Kutscher, Reitknechte und Polizei­soldaten erzählen, die über Dinge, die sie gesehen und gehört, erst nach mehreren Jahren ausgefragt und vernommen werden, ist schon an und für sich kein großes Gewicht zu legen; und kommt dazu noch überdies die Veranstaltung und Relation einer so höchst sonderbaren und zweideutigen Persönlichkeit, wie jener Engländer war, so wird die Sache noch bedenklicher und unsicherer. Welch ein Verfahren daher, „Aufklärungen“ solchen Ursprunges und Charakters in den Vorder­grund zu stellen und ihnen das höchste, entscheidende Ansehen beizulegen!

Nicht nur die Darstellungen Feuerbach's, die sich auf die Zeugnisse und Erzählungen Anderer gründen, sondern auch die Thatsachen, die Feuerbach aus eigener Beobachtung angiebt, so wie Hauser's eigene, ganz bestimmte [140] Erinnerungen, Angaben und Aufzeichnungen gelten für widerlegt, wenn jene nach mehreren Jahren eingesammelten Aussagen damit im Widerspruche stehen. Ein Beispiel ist Folgendes, das sich in Stanhope's „Materialien“ S, 55 findet. „Als ihn Feuerbach imThurme besuchte, zeigten seine Augen große Empfindlichkeit für das Licht. Das Gegentheil aber ist bewiesen durch den Polizeirottmeister Wüst, welcher berichtet: Seine Augen schienen nicht empfindlich für das Licht zu sein.“ u. s. w. Noch mehr! Wenn jene nachträglich eingeholten Aussagen unter einander selbst im Wider­spruche stehen, so werden diejenigen gewählt, die man braucht, die anderen, wenn auch glaubwürdigeren, verworfen. Der zuverlässigste Zeuge war ganz gewiß der in seiner Art so tüchtige und treffliche Gefangenwärter Hiltel, und dieser sagte uns: „Seine Augen waren sehr empfindlich und er beklagte sich darüber.“  4) Gegen Wüst steht also Feuerbach und Hiltel, beide ihrer eigenen unmittelbaren Anschauung und Beobachtung gemäß. Gegen Beide behält der Rottmeister Recht, der sich nicht einmal bestimmt ausdrückt, sondern nur sagt: „Es schien so.“ Ein großes Gewicht wird darauf gelegt, daß H., mehreren jener Zeugen nach, keine bleiche Gesichtsfarbe gehabt 5); es [141] wird aber nicht angeführt, daß der Polizeisoldat Bläumer, der so viel mit H. zusammen war und ihn bei seinen Ausgängen führte, behauptete, er habe blaß ausgesehen. 6) H. E. schämt sich nicht, in diese abscheulichen Fußtapfen zu treten und auf diese gräuliche Weise Geschichte zu schreiben.

Eine große Stärke besitzt derselbe endlich auch in vollständigem Umgehen und Ignoriren gewichtvoller, die Unstatthaftigkeit seiner An­sicht documentirender Thatsachen und Umstände. Ich komme bei dieser Gelegenheit auf ein Paar Punkte zu sprechen, den schon an und für sich selbst die größte Beachtung verdienen und die ich daher einer aus­führlichen Erörterung unterwerfen und in einem eigenen Kapitel ab­handeln werde, ich meine Hauser's anfängliche einfache Diät und sein Vermögen im Dunkeln zu sehen.

 

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1) „Materialien zur Geschichte Kaspar Hausers.“ Heidelberg 1835. S. 39: „Der angebliche Mordversuch in Nürnberg schien mir sehr verdächtige Momente zu enthalten; H. hat sich über die Ahnung desselben erst nach dem Vorfalle mit Bestimmtheit geäußert, wie Prof. Daumer I. 58 sagt.“ u. s.w. 

2) Mittheilungen I. S. 7 u. 10 ff. II. S. 39 f. 

3) In Hitzig's Annalen Bd. IX. S. 453. 

4) Materialien S. 90. 

5) Materialien S. 58. 

6) Daselbst S. 89.