BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[60]

V.

 

Ausführlicher Beweis, daß H. kein Idiot gewesen, Zeugnisse und Züge aus gedruck­ten und ungedruckten Quellen gezogen, insbesondere was seine Anfangs gezeigten ganz außerordentlichen Fähigkeiten betrifft.

 

Es folgt nun der ganz bestimmte, ausführliche Beweis, daß H. kein in dem von H. E. bezeichneten Sinne idiotisches, an natürlichem Stumpfsinn leidendes und in Folge dessen in seiner Geistesentwicklung zurückgebliebenes, sondern ein von Natur mit hinlänglichen, eine Zeit lang, und auch sonst noch zwischendurch und theilweise, sogar in hohem und seltenem Grade hervortretenden Geisteskräften versehenes Individuum gewesen. Es erhellt dies vor allen Dingen aus den vielfältigen und einstimmigen Aussagen derjenigen, die den jungen Menschen in den ersten Zeiten seines Auftretens gesehen, gekannt, beobachtet und studirt haben, so daß es eine wunderbare Keckheit ist, all' dem, ohne selbst Augenzeuge und Beobachter gewesen zu sein, so entschieden entgegenzutreten, wie sich H. E. zu thun erdreistet. [61]

Schon in dem Briefe, welcher Hausern mitgegeben wurde, ist von der außerordentlichen Gelehrigkeit desselben die Rede: „Wenn er Eltern hätte, wie er keine hat, so wäre er ein gelehrter Bursche geworden. Sie dürfen ihm nur Etwas zeigen, so kann er es schon.“ Da dies so sehr mit allen sonstigen Beobachtungen und Aussagen stimmt, so beruht es wahrscheinlich auf einem realen Grunde, und giebt in diesem Falle zu erkennen, daß H. nicht erst, wie H. E. will, durch die Aufregungen, mit denen sein Eintritt in die allgemeine Menschenwelt begleitet war, aus einem idiotischen Seelenschlafe geweckt worden ist.

Zu Nürnberg sprach der damalige Gefangenwärter Hiltel, über dessen einfach-verständiges Wesen, Erfahrenheit und Glaubwürdigkeit nur eine Stimme ist, die Ueberzeugung aus, daß H. „nichts weniger als simpelhaft und verwahrlost von Natur, sondern vielmehr auf unbegreifliche Weise von aller Ausbildung und geistiger Entwicklung zurückgehalten worden sein müsse.“ So nach Feuerbach's Bericht. Dasselbe sprach der Mann auch nach Stanhope's Bekanntmachungen aus, der dieses Zeugniß seinen Zwecken gemäß hervorgehoben hat. Es lautete folgendermaßen: Hauser hatte einen mächtigen Verstand; er erlernte gleich Alles und vergaß es nicht wieder. Er lernte in drei Tagen ein Stück auf dem Clavier, und gefiel mir durch seine Gutmüthigkeit und Gelehrigkeit so sehr, daß ich ihn behalten hätte, wenn ich [62] ohne Kinder gewesen wäre. 1) H. E. hat diese Aussage keineswegs übersehen, denn er führt sie S. 113 seines „Unverstandes“ an und bemerkt, daß Hiltel in Hauser einen Menschen von „mächtigem Verstande“ erkannt. Wie kann und darf er diesen gleichwohl für einen Idioten, einen „armen Stumpfsinnigen“ erklären?

In Binder's Bekanntmachung vom 7. Juli 1828 ist von Hauser's „hellem und weittragendem, doch gegen den Eindruck des Tageslichts sehr empfindlichem Blicke“ die Rede. Es heißt ferner daselbst: „die Natur habe ihn mit den herrlichsten Anlagen des Geistes und Herzens reich ausgestattet.“ 2) So konnte doch bei Gott ein vernünftiger Mensch nicht von einem geistesstumpfen und schwachsinnigen Knaben sprechen! Und Binder war ein sehr intelligenter Mann. Für H. E. freilich ist Niemand vernünftig und intelligent, der etwas seiner Meinung und Absicht Zuwiderlaufendes beobachtet und bezeugt; aber es ist vielmehr dieser Unglaube an glaubhaft berichtete Thatsachen und diese Zurückweisung und Herabsetzung ehrenhafter und gewichtvoller Zeugen etwas Unvernünftiges und Unsinniges.[63]

In Feuerbach's Schrift über Kaspar Hauser finden sich folgende Schilderungen. „Die Neugier und der Wissensdurst, so wie die eiserne Beharrlichkeit, womit H. bei einer Sache aushielt, die er zu lernen oder zu begreifen sich vorgesetzt hatte, überstiegen jede Vorstellung und waren in ihren Aeußerungen wahrhaft herzergreifend.“ – – „Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, nächst dem Schreiben, war das Zeichnen, wozu er eben so viel Fähigkeit, als Beharrlichkeit mitbrachte. Seit mehreren Tagen hatte er sich die Aufgabe gemacht, das lithographirte Bild des Bürgermeisters Binder abzuzeichnen. Ein großer Pack Quartblätter war mit diesen Kopien vollgezeichnet; sie lagen, wie sie entstanden waren, in langer Reihenfolge aufeinander. Ich ging sie einzeln durch; die ersten Versuche glichen ganz den Produkten kleiner Kinder, die ein Gesicht gezeichnet zu haben meinen, wenn sie eine Figur, die ein Oval vorstellen soll, und ein Paar wunderliche Schnörkel nebst einigen langen Strichen darin auf das Papier hingesudelt haben. Doch fast in jedem der folgenden Versuche waren Fortschritte sichtbar, so daß sie einem Menschengesichte immer ähnlicher wurden, und endlich das Original, wiewohl noch ziemlich roh und unvollkommen, bis zur Kenntlichkeit darstellten. Ich äußerte ihm über seine spätesten Versuche meinen Beifall; er aber zeigte sich unbefriedigt und gab mir zu verstehen, er werde das Bild noch vielmal zeichnen müssen, bis es ganz recht sei.“ [64] – – – – – „Von seinem erstaunungswürdigen, eben so schnellen, als zähen Gedächtnisse bekamen wir bald die auffallendsten Proben. Bei jedem der vielen kleinen und großen Dinge, bei jedem Bild und Bildchen in seinem Haushalt nannte er uns den Namen und den Titel der Person, von der er es zum Geschenk erhalten hatte, und wenn hiebei verschiedene Personen mit demselben Hauptnamen vorkamen, so unterschied er sie entweder durch ihre Vornamen oder durch andere Prädikate. Ohngefähr eine Stunde, nachdem wir ihn verlassen hatten, trafen wir mit ihm auf der Straße zusammen, als er eben zu Herrn Bürgermeister Binder geführt wurde. Wir redeten ihn an und als wir ihn aufgefordert, uns unsere Namen zu sagen, nannte er jeden von uns, ohne sich zu besinnen und zu stocken, mit unseren vollen Namen sammt Titulaturen, die doch für ihn nur baarer Unsinn sein konnten. Dr. Osterhausen machte zu einer andern Zeit die Erfahrung, daß er, nachdem man ihm einen Blumenstrauß gezeigt und die Namen der einzelnen Blumen vorgesagt hatte, mehrere Tage nachher jede dieser Blumen wieder zu erkennen und mit ihrem Namen zu bezeichnen wußte.“ 3)

In einem Briefe an Elise von der Recke vom 20. September 1828 sagt Feuerbach: „H. ist ein Mensch von den herrlichsten Anlagen, begabt mit der schnellsten [64] Fassungskraft und einem bewundernswürdigen Gedächtnisse. Seine Fortschritte sind außerordentlich; wozu Andere Monate oder Jahre brauchen, das lernt er in Tagen. Er spricht schon vollkommen verständlich und zusammenhängend, nur construirt er oft noch die Sätze wie ein Kind; seine Handschrift ist fest, beinahe schön, und vor einigen Tagen erhielt meine älteste Tochter, die ihn zu Nürnberg besucht und dann beschenkt hatte, einen recht artigen Brief von ihm. Ganz für sich selbst fing er zu zeichnen an, und machte darin bald ebenfalls bewundernswürdige Fortschritte. Sieht er eine Kunst oder Fertigkeit üben, die ihn interessirt, gleich will er sie lernen, läßt sich zeigen, wie man es macht, und ahmt es in einem oder einigen Tagen schon bis zu einer gewissen Vollkommenheit nach.“ 4)

Herr v. Pirch sagt von H.: „Er ist ein hübscher junger Mann, untersetzt, kräftig gebaut mit blondem Lockenkopf, einem weißen, zarten Gesicht, nachdenkenden blauen Augen, herabgebogener Nase und einem bald freundlichen, bald sehr ernsten Mund.“ Und: „Ich hatte Gelegenheit zu sehen, mit welcher Leichtigkeit sich das unbefangene Wesen über Alles ausdrückt und welche Freundlichkeit und Herzlichkeit in seiner Natur liegt. 5) [66]

Graf Stanhope in einem Schreiben an den Lehrer Meyer in Ansbach sagt: „H. sei mit einer wunderartigen Fähigkeit, Alles schnell und genau zu beobachten, mit einem Scharfsinn, der ihm die Mittel darbot, die Gemüther zu lenken, mit einer Besonnenheit und Gewandtheit, die durch lange Erfahrung, und mit einer Schlauheit, die durch sorgfältige Uebung gebildet zu sein schien, begabt gewesen.“ 6) Man erkennt zwar in dieser Schilderung die feindliche Absicht des Mannes, H. zum Betruge zu qualifiziren; aber er hätte doch nicht so sprechen dürfen, wenn H. nicht wirklich viel Intelligenz gezeigt hätte. Um auf die von Stanhope nachträglich gesammelten Aussagen zurückzukommen, auf welche so viel Gewicht gelegt wird, so hat ein Polizeibeamter und Protokollführer nach S. 88 der „Materialien“ angegeben: „H. hatte einen ruhigen, forschenden Blick und sah nicht schwachsinnig aus. Er hat die Feder recht ordentlich gehalten und seinen Namen sehr leicht geschrieben.“ Der Polizeisoldat Bleumer, von welchem H. auf seinen Gängen geführt wurde, sagte, er habe „frische Augen“ gehabt, daselbst S. 89. Ich selber berufe mich auf diese Berichte nicht. Was aber Herrn Eschricht betrifft, der sich sonst mit so viel Vertrauen [67] und Vorliebe an Stanhope's Mittheilungen hält und die von diesem beigebrachten Zeugenaussagen als so gültige und entscheidende Instanzen behandelt, so ist es ihm nicht erlaubt, sich in einzelnen beliebigen Fällen abweisend und verwerfend dagegen zu verhalten und namentlich, sowohl der eigenen Schilderung des Grafen, als denen der Zeugen entgegen, die derselbe in's Feld führt, von einem schwachsinnigen, idiotischen Knaben mit starrem, stumpfem Blicke zu sprechen. Von den Relationen, die St. S. 82 ff. beibringt und geltend macht, stimmt nicht eine einzige mit einer solchen Vorstellung überein. Einige der namhaft gemachten Zeugen äußern vielmehr Verdacht und wittern Verstellung und Hinterlist, was wohl zu Merker's und Stanhope's Spitzbuben- und Gaunertheorie, aber nicht zu Herrn Eschricht's idiotischer Hypothese paßt.

In dem Berichte, den ich selber im September 1828 erstattete, 7) erklärte ich mich folgendermaßen: „Sein Urtheil ist scharf und treffend, seine Beobachtung außerordentlich fein. Autoritäten gelten Nichts bei ihm, er vertraut nur eigener Anschauung, Erfahrung und Einsicht. Sein Verstand erkennt in seinen Anforderungen keine Grenzen an und will absolut befriedigt sein. In Hinsicht des mündlichen Ausdruckes ist er so weit, daß man sich [68] mit ihm über Alles, was in dem nun verhältnißmäßig schon sehr weiten Kreise seiner Vorstellungen und seiner Fassungskraft liegt, ohne große Schwierigkeit verständigen kann.“

Aus meinen handschriftlichen Aufzeichnungen und Bemerkungen hebe ich Folgendes aus.

Am 26. Mai 1828 war H. zu Nürnberg erschienen, beispiellos unwissend und unbekannt mit Menschen und Welt; nur ein paar eingelehrte Phrasen plappernd und so sehr Kind der Seele nach, daß er noch einige Zeit nachher nicht ich sagen konnte, sondern von sich selbst in der dritten Person sprach, Lebloses für Lebendes, organische Naturprodukte für Machwerke der Menschenhand ansah, keinen Scherz begriff u. s. f. Nach ungefähr drei Monaten, zu Ende August's, drückte er sich schon ziemlich geläufig und verständlich aus, beurtheilte richtig und ohne weitere Confusion Lebendiges und Todtes, Organisches und Unorganisches, unterschied Ernst und Scherz und hatte es gern, wenn man mit ihm spaßte, so wie auch in seine eigenen Aeußerungen und Antworten viel Humor kam; die Thätigkeit seines Geistes war nicht nur auffassend und nachahmend, sondern auch produktiv; er entwarf, wiewohl in noch sehr mangelhafter Form, Briefe und Aufsätze; auch hatte er das Schachspiel begriffen. Zu Anfang Septembers fing er an eine Geschichte seiner bisherigen [69] Lebensschicksale aufzusetzen, wobei er den Eigensinn hatte, sie Niemand zu zeigen, bis sie fertig sein würde. 8)

Ueber seine Gedächtnißkraft finde ich in meinen Papieren Folgendes bemerkt: Fast von Allem, was ihn betraf, vermochte er anzugeben, vor wie viel Tagen und Wochen es geschehen war. Er wußte, wie oft er seine Suppe, seine Chocolade, seinen Milchbrei gegessen. Von seinen Damenspiel- und Schachpartien konnte er sagen, wie viel er mit jeder einzelnen Person gespielt habe. Von fünf Partien des Damenspiels, die er gespielt, war er im Stande den Gang jeder einzelnen der Reihe nach herzusagen. Von jedem der vielen Dinge, die ihm geschenkt worden, wußte er zu sagen, wer es ihm gegeben; sogar von mehreren Vierundzwanzigkreuzer-Stücken konnte er, vermöge der verschiedenen Schmutzflecken, die sie hatten, einzeln angeben, von wem er sie erhalten hatte – „der arme Stumpfsinnige!“ Er wußte die Namen vieler Hunderte von Personen, die ihn besucht, oder die er sonst kennen gelernt hatte. Einige Zeit vor meiner Bekanntschaft mit ihm sagte man ihm einmal 22 und dann wieder 34 Namen von Personen vor, die er, ohne irre zu werden oder einen davon zu vergessen, nachher wieder nennen konnte. An einem öffentlichen Orte sagte man ihm 45 Namen anwesender [70] Personen, die er, ohne zu fehlen, nachher wieder nannte. Er merkte in diesen Fällen auch die beigefügten Bestimmungen des Standes und Amtes. Er behielt nie gehörte, zum Theil langgedehnte Titel und Benennungen, die nur sinnlose Laute für ihn waren, wie Major, Oberst, Actuar, Offiziant, Adjutant, Oberlieutenant, Generallieutenant, Cavallerieregiment. Kaum glaublich ist, was er später, nachdem diese große Gedächtnißkraft abgenommen hatte, gegen mich behauptete: er habe Alles, was ich im Thurme die drei Wochen, in welchen ich vor seiner Erkrankung täglich zu ihm gekommen, mit ihm gesprochen hatte, wörtlich behalten und Anderen öfters Wort für Wort wiederholt; er habe bis zu jener Erkrankung kein Wort vergessen, so daß er in der dritten Woche noch Alles der Ordnung nach hätte hersagen können.

Seitdem er zu reflectiren und zu forschen begonnen, arbeitete sein Kopf unaufhörlich; vorzüglich Morgens und Nachts vor dem Einschlafen drängten sich ihm eine Menge von Reflexionen und Problemen auf; auch auf Spaziergängen und Spazierritten war er zuweilen lange stumm und dachte über Etwas nach, was ihm noch nicht klar geworden. So z. B. im Beginne des Octobers 1828 auf einem Spaziergange, wo ihn der Anfang des Evangeliums Johannis beschäftigte, und auf einem Spazierritte, wo er darüber nachsann, was er einem gewissen Zuge, womit ich das Schachspiel zu beginnen liebte, entgegenzusetzen habe. [71]

Ein vollkommneres Gegenbild des Stumpfsinnes und der Geistesschwäche läßt sich nicht denken, und ein solches stellte dieser Mensch in jeder Rücksicht dar.

Weitere Thatsachen sind folgende. Wenn man ihm einen Buchstaben vorschrieb, den er noch nicht geschrieben hatte, so zog er zuerst die Feder oder den Bleistift über den vorgeschriebenen Buchstaben hin und machte ihn dann aus freier Hand mit großer Richtigkeit. So war es schon, als ich ihn kennen lernte.

Im August und September 1828, als er krank war und geistige Anstrengungen zu meiden hatte, wurde er unter Anderem mit Papparbeiten beschäftigt. Er machte deren im September zum Theil von solcher Reinheit und Schönheit, daß sich kein Buchbinder derselben zu schämen gehabt hätte. Die Kästchen, die er gemacht, pflegte er an Personen zu verschenken, die ihm werth waren, oder denen er Dank schuldig war. Ein sehr schönes Nähpult erhielt Frau Binder von ihm. Er hatte bei dessen Verfertigung die Tischlerarbeit nach Anleitung eines Schreinermeisters gemacht; es war die einzige Arbeit der Art, die er zu Stande brachte, weil ihm das dabei entstehende Geräusch zu wehe that. Im Hause machte er vom September an mit seinem Handwerkszeuge den Tausendkünstler; wo Etwas fehlte, da war er bei der Hand und half – „der arme Stumpfsinnige!“

Daß er bei so großem Geschick und Talent in jeder [72] Art von Fertigkeit so leicht das Reiten lernte, ist kein Wunder. Es kommt dazu, daß sein Geist eine große Gewalt über seinen wiewohl so schwachen und reizbaren Körper übte, wenn er für Etwas ganz besonders eingenommen war; das Reiten liebte er leidenschaftlich und daher konnte er auch viel darin leisten, ohne zu ermatten und Nachtheil zu verspüren. Seine Haltung, sein Muth, die richtige Führung des Pferdes sogleich bei den ersten Versuchen setzten in Erstaunen; der Stallmeister sagte: Mancher gehe zwei Monate lang bei ihm zur Lehre und sitze nicht so gut zu Pferde. Er hatte sich, ehe er noch auf das Pferd kam, vom Zusehen Alles abgemerkt und wußte es besser, als diejenigen, die der Stallmeister eben erst vorgehabt hatte. Er spürte Nichts am Gesäße, das durch das jahrelange Sitzen und Rutschen abgehärtet sein mochte; doch allerdings Etwas an den Schenkeln, was bei Feuerbach eines Schreibfehlers wegen, der in die für ihn gefertigte Abschrift meiner Bemerkungen gekommen, unrichtig angegeben ist. Ebenso verhält es sich mit dem türkischen Pferde, das er zu besteigen verlangt haben soll. Es heißt in meinen Nachrichten: „Als der Stallmeister zu Anfang Octobers ein tückisches und eigenwilliges Pferd getummelt hatte, verlangte es H. zu reiten, da ihn der Anblick mehr gereizt als erschreckt hatte. 9) Im August 1829 [73] ritt er auf die alte Veste und wieder zurück; dagegen thaten ihm um dieselbe Zeit von einigen Gängen, die er gemacht, die Füße so weh, daß er sich ein paar Stunden früher, als gewöhnlich, zu Bette legte. Auf manche Vortheile beim Reiten kam er von selbst. Gleichwohl mußte er diese Kunst erst lernen und brachte sie nicht, wie man angenommen und vorgegeben hat, schon nach Nürnberg mit; ich kann das bezeugen, weil ich bei allen den betreffenden Scenen als aufmerksamer Beobachter zugegen war. Die albernen Hypothesen, die man auf Hauser's Reitkunst gebaut hat, fallen daher in Nichts dahin. Merker meinte, er sei ein seiner Bande entlaufener englischer Reiter. Mit demselben Rechte hätte man sagen können, er sei ein entlaufener Buchbinderlehrling, da er so schöne Papparbeiten, und das ebenfalls mit besonderer Liebhaberei, zu machen pflegte.

Man lese und bedenke ferner auch die klugen und feinen Bemerkungen und Antworten Hauser's, die man bei Feuerbach und mir verzeichnet findet. So sagte er [74] z. B. als ihm Jemand den an ihm begangenen Mordanfall als eine Fügung Gottes vorstellte: „Das mache ihn zum Narren, daß man behaupte, Gott lasse den Menschen ihren freien Willen und strafe sie für ihre bösen Handlungen, und daß man diese Handlungen gleichwohl als Fügungen und Veranstaltungen Gottes darstelle.“ Einmal, da von Gottes Allmacht die Rede war, fragte er, ob sich diese auch auf die Zeit erstrecke und ob Gott die Macht habe, diese rückgängig zu machen? Als ihm Jemand sagte, um gründlich Deutsch zu können, müsse man Latein verstehen, fragte er, ob denn die Römer nöthig gehabt hätten, Deutsch zu lernen, um gründlich Lateinisch zu können? 10) Schon solche Aeußerungen denen eines stumpfsinnigen, wenn auch bis zu einem gewissen Grade erweckten und gebesserten, Idioten ähnlich?

Aus meinen Manuscripten füge ich folgende Züge hinzu.

Jemand hatte ihm sein Portrait geschenkt. Als H. späterhin zu ihm kam, zeigte ihm derselbe ein anderes Exemplar dieses Portraits. H. bemerkte sogleich, daß auf dem seinigen der Backenbart stärker sei, und wirklich hatte der Künstler auf Hauser's Exemplar den Backenbart durch Hineinzeichnen etwas verstärkt. H. bemerkte auch, daß auf diesem Portrait eine Warze nicht ganz am [75] rechten Orte stehe, was vorher Niemand wahrgenommen hatte. Im August 1828 sagte er in Beziehung auf ein Bild von ihm selbst: es sei Nichts darin, was ihm gleich sehe, als die Nase. Er legte ein kleines Stück Papier auf die Nase, und sagte, da könne man nun sehen, daß jetzt gar keine Aehnlichkeit mehr mit ihm vorhanden sei. Um ein Portrait von ihm zu prüfen, hielt er es verkehrt an den Spiegel und verglich in diesem sein Gesicht damit. An einem Bilde, das ihn darstellen sollte, wie er nach Nürnberg gekommen, tadelte er im Sommer 1828 die Stellung der Füße. In jener Zeit, sagte er, sei er stets mit einwärts gekehrten Füßen gegangen und gestanden; hätte er stehen wollen, wie das Bild, so wäre er umgefallen.

Wenn er aus krankhafter Ursache nicht arbeiten konnte, so trieb er statt dessen einige Spiele, wie Damenspiel und Schach. In dem ersteren, das er mit sehr vielen Personen spielte, gewann er die meisten Partieen. Schach spielte er im August 1828 so, daß er zwar nicht wohl anzugreifen, sich aber ziemlich gut zu vertheidigen verstand. Doch schätzte er diese Beschäftigungen gering. Wenn er wieder ernstlich lernen könne, sagte er, müßten diese Spiele sogleich unterbleiben. Er werde dann in Einem fort studiren, keine Besuche mehr machen, noch annehmen und nur einmal des Tages spazieren gehen.

Im September 1828 bemerkte er auf einem Spaziergange [76] eine auf einem Maienbaum befindliche hin und herwehende Fahne in einer Entfernung, wo andere fernsichtige Augen nur den Baum, Nichts aber von der Fahne und ihren Bewegungen erkannten. Ich fragte einige in der Nähe befindliche Bauernjungen, bei denen ich ein scharfes Gesicht voraussetzte, ob sie dieselbe zu erblicken vermöchten. Ein Paar davon behaupteten, das Wehen der Fahne zu bemerken. „Gut,“ sagte H., der sie im Verdacht der Unwahrheit hatte, „wenn sie wieder weht, will ich euch fragen, ob ihr sie seht.“ Er wartete einige Zeit und stellte dann, während die Fahne ruhig war, die irre führende Frage an sie: „Nun, weht sie jetzt oder nicht?“ – „Sie weht,“ antworteten die Jungen. „Ich sehe nun, daß ihr Nichts seht,“ sagte H. und verwies ihnen nachdrücklich ihre Lügenhaftigkeit.

Wenn er zu befehlen hätte, äußerte er in der Mitte des Octobers 1828, so müßte Dieses und Jenes geschehen. Jemand fragte, was er denn aber thun würde, wenn die Leute nicht gehorchten, ob er sie dann prügeln lassen wolle. Der Fragende kannte seinen Abscheu vor solchem Verfahren und wollte sehen, wie sich H. aus der Verlegenheit ziehen werde. Dieser antwortete: nein, prügeln würde er sie nicht lassen, das würde ihnen wehe thun und doch nicht viel helfen; sie würden die erlittene Strafe leicht wieder vergessen und sich auf's Neue vergehen, wie er es bei dem Sohne des Gefängnißwärters beobachtet habe. Er würde [77] sie um Geld strafen; das würde nachhaltiger sein; dann würden sie gewiß thun, was er wollte.

Scherz und Ernst zu unterscheiden, fing er, wie schon oben bemerkt, im August 1828 an. Auch begann er damals, sich der Form des Spottes und der Ironie zu bedienen, was er von nun an sehr gerne zu thun pflegte. Er neckte mit vielem Witz und Humor, der sich oft durch ganze Gespräche hindurch zog. Im October 1828 sagte er scherzweise von seiner Königin im Schachspiele, er müsse ihr noch ein Paar Augen machen lassen, damit sie besser sehen könne und sich nicht immer von den Springern nehmen lasse. Wenn ein Paar Monate früher ein Anderer so gesprochen hätte, so hätte er es wohl noch für Ernst genommen. – In einiger Entfernung von seinem Fenster stand ein Nußbaum, den er bei seinem feinen Geruch bis in sein Zimmer hinein roch und übel empfand. Er sagte daher, wenn er einen angenehmen Geruch haben wolle, dürfe er nur an's Fenster gehen. Diese Art des verkehrten Ausdruckes war ihm zu Anfang Septembers 1828 schon sehr geläufig. Aus derselben Zeit ist folgender Zug. Ich glaubte einmal in einem Flusse Enten zu sehen, es waren aber Gänse. Er lachte mich darüber tüchtig aus, und als wir wieder einmal vor einem Wasser vorbeikamen, worin sich Gänse befanden, sagte er spottend, da solle ich hinsehen, da seien Enten drin. – Am Ende dieses Monates sagte er zu Jemand, sich einer gehörten Phrase [78] bedienend, er werde ihn aus Dankbarkeit in Gold fassen lassen. Dieser entgegnete, er möge ihm nur das Geld dafür geben; er könne sich dann, wenn er wolle, schon selbst vergolden lassen. Da machte H. mit der Hand am Munde die Bewegung des Trinkens und sagte spottend: „so werde er sich vergolden lassen,“ nehmlich mit Wein. – In der Mitte des Augusts bemerkte H., daß eine weibliche Person bei einer Küchenarbeit ein Tuch umgethan hatte, worin mehrere Löcher oder Risse waren. Das mißfiel ihm, doch wollte er seinen Tadel nicht geradezu aussprechen. Er besann sich lange, dann sagte er: „In dieser Schürze ist nicht ein Loch.“ Als Jene entgegnete, er halte so viel auf Wahrheit und nun habe er doch eine offenbare Unwahrheit gesagt, entgegnete er: das, was er gesagt, sei richtig; denn die Schürze habe ja wirklich nicht ein Loch, sondern viele. Ich bemerkte ihm darauf, um ihn in Verlegenheit zu setzen: Genau genommen, sei es doch nicht richtig; denn wo viele Löcher seien, da sei auch eines. Darauf sagte er: Ich hätte allerdings Recht, wenn ich zählte: eins, zwei, drei u. s. f.; er aber habe nicht so gezählt, sondern die Löcher im Ganzen genommen, und insofern habe er Recht. Es zeigt sich hier eine Gewandtheit im Denken und Ausdruck, zu der viele normal beschaffene und sorgfältig erzogene Individuen nicht befähigt sind.

Die sehr hübschen Papparbeiten, die er machte, verschenkte er. Nun wollte aber die ganze Welt dergleichen [79] von ihm haben. Da sagte er im Unwillen; „er werde den Leuten sagen, sie sollten zu Herrn Buchbinder Schnerr gehen; der habe die schönsten Sachen, sogar Pariser, und die seien alle für Geld zu haben, er gebe sie alle weg.“ – Einen Neugierigen, der ihn ausfragen wollte, wie der Mann ausgesehen, der ihn hergebracht, wie sein Gefängniß beschaffen gewesen und dergl., fertigte er mit dem Bemerken ab, das sei Alles schon aufgeschrieben. – „Nichts gesagt, ist auch Etwas gesagt“ äußerte er einmal. Von einem Schüler, der der letzte seiner Klasse war, sagte er: „Er sei der Erste, wenn man von hinten anfange.“ Ob er diese und andre solche Ausdrücke von Andern gehört und behalten, weiß ich nicht; aber auch in diesem Falle dienen sie zum Beweise, daß er nicht idiotisch angelegt und beschaffen war.

Wenn er Etwas wünschte und sich scheute, dies unumwunden auszusprechen, so hatte er eine feine Manier, es auf indirekte Weise kund zu geben. Als ich ihm, nachdem er zu mir gekommen, auf einem Spaziergang zu schnell ging, sagte er: „Wenn ich nur auch so schnell gehen könnte, wie Herr Professor!“ Als ihm einmal im Anfang Octobers 1828 sein Frühstück zu lange ausblieb, kam er in die Küche und sagte, wie er Dieses und Jenes verrichten wolle, wenn er sein Frühstück eingenommen. Als bei Jemanden eine blendende Lampe aufgesetzt wurde, die ihm [80] wehe that, sagte er: „Kann denn Herr v. T. dieses helle Licht ertragen?“

Einige Aeußerungen, die nicht nur von seinem feinen Verstande, sondern auch von seiner großen, rührenden Herzensgüte zeugen, sind folgende. Er denke auch deßhalb, sagte er zu Ende Octobers 1828, ungern an seine Einkerkerung zurück, weil er sich die unglückselige Gemüthsverfassung vorstelle, in welcher sich der Unbekannte, der ihn verborgen hielt, befunden haben müsse. – Dieser habe wahrscheinlich immer auf seinen Tod gewartet, der doch nicht eingetreten sei, und so habe er wohl in steter Angst und Unruhe gelebt, bis er sich endlich seiner entledigt habe. Das thue ihm weh, wenn er sich's denke. – Als er einmal Affen sah, die allerlei Künste machten, so war ihm das erst ein großer Spaß. Da er aber bemerkte, daß sie immer wieder von vorne anfangen mußten, um neu hinzugekommene Zuschauer zu belustigen, so verlangte er mit dem Tone des Erbarmens weggeführt zu werden. Er habe, sagte er nachher, vor Jammer nicht mehr zusehen können; denn er wisse aus eigener Erfahrung, wie widerwärtig es sei, das, was man schon tausendmal den Neugierigen vorgesagt und vorgemacht, immer wieder von Neuem vorsagen und vormachen zu müssen. Aus solchen Zügen wird deutlich genug erhellen, wie klug von Natur und wie zartfühlend und liebenswürdig zugleich dieser Mensch gewesen ist. [81]

Lob, Schmeichelei, Hätschelei, Zudrang der Neugier und Schaulust und Aeußerungen, die ihm seine Merkwürdigkeit zu erkennen gaben, hatten nicht die blendende und verderbende Gewalt über ihn, die ihnen eigen sein konnten, und die man diesen allerdings gefährlichen Momenten beimißt. Theils setzten ihnen, wenn sie nicht zu verhüten waren, seine Vorgesetzten die geeigneten Aufklärungen entgegen; theils entging es seinem eigenen großen Verstande nicht, welchen Werth diese Dinge hatten; er verachtete Diejenigen, die ihm schön thaten, und ärgerte sich darüber, daß man so begierig war, ihn zu sehen und anzugaffen, wie eine für Geld zu sehende Curiosität und Monstrosität. Er sagte öfters: „Sie mögen sagen, was sie wollen, ich weiß doch, wie ich daran bin.“ In Beziehung auf die Zudringlichkeit der Neugierigen, sagte er im September 1828: „Wenn die Leute Etwas sehen wollten, so möchten sie doch den Riesenknaben auf der Schütt sehen; da trompete man den ganzen Tag und doch wolle Niemand hineingehen; bei ihm trompete man nicht und doch strömten immer die Leute herzu, ihn zu sehen, als wenn er ein wildes Thier wäre.“ Als Jemand scherzend zu ihm sagte, er möchte sich doch auch für Geld sehen lassen, er würde viel damit verdienen können, entgegnete er: ein solches Geld möge er nicht. So war er unter meiner Leitung, und so wenig ist es wahr, daß er durch mich zu Eitelkeit und Gaukelei verführt worden ist. Die [82] schlimmste Wirkung auf ihn hatte nachher Stanhope, der ihn ganz als gereifte männliche Persönlichkeit behandelte und hiedurch in dessen Stellung zu Herrn v. Tucher, unter dessen vormundlicher Obhut er damals stand, einen unheilbaren Bruch machte, worüber die im Anhange befindlichen brieflichen Documente zu sehen.

Ueber sein eigenthümliches Verhalten zum weiblichen Geschlechte habe ich schon in den „Mittheilungen“ gehandelt. Er legte hier eine gewisse Beschränktheit der Auffassung und des Geschmackes an den Tag, indem er allzu einseitig nur die männlichen Vorzüge schätzte, ohne geschlechtliche Neigung war, nur auf Nutzen, Wissen und Würde sah und von der specifischen Bedeutung der Weiblichkeit kein Bewußtsein hatte. Aber um so deutlicher trat die weder durch Sinnlichkeit, noch durch Sentimentalität paralysirte Schärfe seines Verstandes hervor, und ich kann mich daher füglich auch auf diese Seite seines Wesens berufen, um zu zeigen, wie himmelweit er davon entfernt war, der über ihn in Kopenhagen ausgeheckten idiotischen Hypothese zu entsprechen, so wie auch, wie wenig ihm Schmeichelei und Hätschelei anzuhaben vermochte und namentlich unter meiner Leitung angehabt hat. In den Gesellschaften, wo ihm von weiblicher Seite eine wirklich sehr unverständige Behandlung der Art widerfuhr, bildete er sich vielmehr zu einem der sonderbarsten Weiberfeinde und Weiberverächter aus. Er [83] achtete fast nur ältere Frauen, und solche, die er stets in ernster Haltung und zweckmäßiger Thätigkeit sah, wobei ihm Stand und Rang gar nicht zu imponiren pflegte; denn er schätzte eben so sehr auch dienstbare Personen, die seinen Anforderungen entsprachen, und war z. B. geneigt, „die alte Bärbel“ zu heirathen, wie eine ihm achtungsvoll erscheinende Magd des Bürgermeisters Binder hieß. Gegen die Frauenzimmer, die ihm in Gesellschaft vor Augen waren, und bei denen er allzu wenig bemerkte, was ihm Respekt einflößte, namentlich gegen die jungen, hegte er eine grenzenlose Mißachtung. Er beobachtete sie scharf und rügte schonungslos und mit einer Art von Erbitterung eine Menge Fehler und Schwächen an ihnen. Sie seien zu Nichts gut, als zum Dasitzen, pflegte er zu sagen; oder: sie könnten Nichts, als dasitzen und ein wenig nähen und stricken. Sie äßen und tränken unaufhörlich und Alles durcheinander, deßhalb seien sie auch immer krank. Sie schmähten hinter dem Rücken auf andere Frauen, denen sie nicht gut seien, und wenn sie mit ihnen zusammen kämen, so seien sie doch voll Schmeichelei gegen sie. Zuweilen sage eine der andern: Höre, ich will dir was anvertrauen; aber du mußt es Niemand sagen. Das verspreche denn auch diese gar sehr. Begegne sie aber einer dritten, so sage sie: „Ich weiß Etwas, aber du mußt es keinem Menschen sagen.“ Dann werde das anvertraute Geheimniß dennoch auf der Stelle wieder ausgeplaudert, [84] und so gehe es fort von einer zur Anderen. Von einer weiblichen Person, die ihn hatte belehren wollen, sagte er zu Anfang Septembers 1828, sie hätte besser gethan, ihre Stube zu reinigen. Einer anderen, die ihn fragte, wen er heirathen wolle, antwortete er: „Meine Katze.“ Dieser letztere Zug kam im Frühling 1829 vor. Als er einmal in gewohnter Weise wider die „Frauenzimmer“ loszog und meine Mutter sagte: „Aber das paßt ja nicht auf mich, und ich bin doch auch ein Frauenzimmer,“ entgegnete er: „Nein, Sie sind kein Frauenzimmer; Sie sind eine Mutter.“ Auch von meiner Schwester, die er immer nützlich beschäftigt sah, behauptete er, sie sei kein Frauenzimmer. Der Begriff, den er mit dem Worte „Frauenzimmer“ verband, war der eines müßigen, unnützen, aller schätzbaren Eigenschaften entbehrenden Menschenwesens in weiblichem Gewand.

So auffallend aber Hauser's geistige Kräfte hervortraten, so besaß er doch gerade diejenige Art von Scharfblick oder Instinkt nicht, die ihm H. E. beimißt. Derselbe meint, H. habe gleich von vorn herein vornehme und geringe Leute gar wohl zu unterscheiden gewußt und den ersteren zu schmeicheln gesucht, S. 22. Er führt S. 88 eine Stelle von Seguin an, wonach idiotische Kinder ein Gefühl haben, wie weit sie gegen Erwachsene zu gehen haben, was die Behauptung unterstützen soll, daß ich von H. pfiffiger Weise düpirt und mißbraucht [85] worden sei. Solcher Vortheile jedoch war Hauser's Unschuld, Geradheit und Unbekanntschaft mit den menschlichen Dingen in dem Maße beraubt, daß er auf die rücksichtsloseste Weise selbst die hochgestelltesten und einflußreichsten Leute beleidigte, von deren Rang und Wichtigkeit er leicht eine Ahnung haben konnte, wie z. B. Feuerbach und den Regierungspräsidenten v. Mieg. Es ist sehr komisch, wie er gerade mit diesen umging, die zum Glücke zu einsichtsvoll und gebildet waren, um sich dadurch gekränkt zu fühlen. Den ersten ermahnte er zur Reinlichkeit, da er auf der Hemdkrause desselben den Tabak bemerkte, der beim Schnupfen darauf herabgefallen, wie Feuerbach selbst in seinem Buche berichtet hat; den anderen schickte er geradezu fort, mit dem Bedeuten, er müsse jetzt lernen und habe keine Zeit zu unnützen Unterhaltungen, wie mir Herr v. Mieg selbst mündlich mitgetheilt hat. In dem einen Falle offenbarte sich seine strenge Reinlichkeitstendenz, in dem anderen seine Lernbegierde und sein Aerger über Störungen. Andere Vorstellungen und Rücksichten hatten dabei keinen Raum bei ihm. Allmählig lernte er allerdings, wie man sich in der Welt zu benehmen habe, und was ihm speciell nützlich oder schädlich sei. Das war jedoch ein gewöhnlicher Erfahrungs- und Verstandesproceß; von instinktartigem Idiotenblick kann hier keine Rede sein.

Es kamen übrigens auch Fälle vor, wo H. recht gut [86] wußte, wenn (sic!) er vor sich hatte, und wo er doch Tadel und Mißfallen unumwunden aussprach. Den Bürgermeister Binder betrachtete er, wie wir einen König zu betrachten pflegen; gleichwohl äußerte er zu der Zeit, wo er noch ein rigoristischer Feind jeder Art von Unwahrheit war, sein Erstaunen darüber, daß derselbe einmal, um sich vor einem lästigen Besuche zu schützen, zu sagen befahl, er sei nicht zu Hause. „Aber Herr Bürgermeister,“ sagte er, „das ist ja nicht wahr; sie sind ja zu Hause.“ An mir fand er es lobenswerth, daß ich nicht rauchte und schnupfte; und zu einem meiner Freunde, der blasser aussah, als ich, sagte er, die Ursache sei, daß er Taback rauche, ich aber nicht. Sonst aber fand er auch meine Diät sehr fehlerhaft und schrieb ihr alle meine Krankheitsübel zu. Als ich einmal von seiner Wassersuppe genoß, sagte er: so sei es recht; wenn ich so lebe, so werde es bald besser mit mir werden. Meine Schwester ermahnte er, das Kaffeetrinken zu unterlassen, indem er bemerkte, daß sie in Folge dieses Genusses immer erhitzt aussehe, späterhin aber blaß werde. Dies gehört zugleich zu den Beweisen, wie scharf dieser Mensch beobachtete.

Ich darf endlich auch wohl auf das sehr getroffene Bild verweisen, das dem Buche Feuerbach's über K. Hauser beigefügt ist, und das eben so sehr, wie gegen die Ansicht des Berliner Polizeiraths, auch gegen die des dänischen Physiologen ein anschauliches Zeugniß ablegt. [87] Es präsentirt sich hier eine freundliche, kindlich harmlose, unschuldige und gutmüthige Physiognomie und verräth sich durchaus nichts Stumpf- und Blödsinniges, Geistesschwaches, Idiotisches; der Blick ist hell und klar und zeugt von natürlichem Verstande und intellektueller Anlage mangelloser und ungetrübter Art.

 

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1) Feuerbach S. 33. Merker, Wicht. Aufklar. S. 18. Stanhope, Materialien S. 30, 54 f. 

2) Frei, geheimnißvolle Geschichte Kaspar Hauser's. Berlin 1834. S. 15 f. 

3) Feuerbach a. a. O. S. 71 ff. 

4)Feuerbach's Leben und Wirken.“ Leipz. 1852. II. S.273f. 

5) Hitzig's Annalen Bd. VII. S. 452 f. 455. Vergl. die Beschreibung Osterhauser's ebendaselbst Bd. IX. S. 417.  

6) Materialien S. 107. Vergl. S. 101, wo von Hauser's außerordentlicher Fähigkeit, alles schnell und genau zu beobachten, die Rede ist. 

7) Mittheilungen 1. Heft S. 7. 

8) Er versteckte das Manuscript unter sein Bett, damit es Niemand finden und lesen solle. Bei der Aussetzung dieser Geschichte wenigstens hat also Niemand einen Einfluß auf ihn ausgeübt. 

9) So traurig sieht es mit geschichtlichen, Wahrheiten aus, daß sie zuweilen selbst bei dem redlichsten Willen derjenigen, welche sie aufzeichnen, durch die elendesten Zufälle entstellt und verfälscht werden und dann freilich der Kritik die bedenklichsten Blößen bieten. Merker hatte gar nicht Unrecht, wenn er gegen Feuerbach die Bemerkung machte, daß Neulinge im Reiten nicht sowohl am eigentlichen Gesäße, als an den Obertheilen der Schenkel Verletzungen erleiden und daß daher die Abhärtung des Gesäßes zur Erklärung der Erscheinung nicht genüge; an jenen Theilen aber blieb H. wirklich nicht unverletzt. 

10) Vergl. Feuerbach S. 118 f. 145 f. und meine „Mittheilungen“ I. S. 9. Note II, 14. 16 ff.