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- F ü n f z e h n t e s K a p i t e l
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- Der Arzt war über Land; erst gegen Morgen kam [er] und hatte gegen Thildes Behandlung des Kranken: Brotrinde mit Essigwasseraufguß, ein Mittel, das noch von der alten Möhring herrührte, nichts Erhebliches einzuwenden. «Es hat nichts geschadet», sagte er, «und das ist immer schon viel.» Er verordnete dann eine Althee-Abkochung, und als Thilde fragte, «ob es was zu bedeuten habe», lächelte er und sagte: «Einigermaßen; es ist eine Lungenentzündung. Vor allem Ruhe.»
Thilde war eine gute Krankenpflegerin und gab ihm die Medizin mit einer Genauigkeit, als ob das Leben an der Minute hinge. Sie glaubte nicht daran, aber sie wollte nichts versäumt haben. Die Vormittagsstunden vergingen unter Umwandlung des Schlafzimmers in ein Krankenzimmer; die nach dem Hof hinausgehnden Fenster wurden verhangen, während die Tür nach der Vorderstube offenblieb, nur durch eine halbe Portière geschützt. Thilde sah oft hinein, ohne daß der Kranke irgendwas verlangt hätte, dann ging sie wieder an das Vorderfenster, das, von der vorigen Frau Burgemeister her, noch einen altmodischen Tritt und einen Fensterspiegel hatte. Dieser war eigentlich überflüssig, denn es gab so wenig zu sehn, daß es auch nichts zu spiegeln gab. Mitten auf dem Marktplatze stand das Rathaus mit einer schräglaufenden hölzernen Stiege, die bis zum ersten Stock aufstieg und sich hier in einem schmalen Laubengang fortsetzte, aber alles von Holz. Dicht neben dem Rathaus standen ein paar alte Scharren, verschlossen und verschneit. An der andern Marktplatzseite war die Löwenapotheke, deren Provisor gähnte, denn seit der Mixtur für den Herrn Burgemeister war seine Tätigkeit noch nicht in Anspruch genommen worden. Daneben ein Bäckerladen mit einem schräggestellten Blechkuchen im Schaufenster und einigen bewundernd davorstehenden Kindern; die Sonne fiel so grell darauf, daß Thilde die großen Zuckerstellen erkennen konnte. Zwischen dem allem glitt ihr Auge hin und her und nahm erst eine andre Richtung, als sie, diesmal allerdings mit Hülfe des Spiegels, den Briefträger die Herzog-Kasimir-Straße heraufkommen sah. Er trat auch gleich danach ins Haus, und Thilde ging ihm entgegen, um ein paar Briefe in Empfang zu nehmen. Einer war aus Breslau, also wahrscheinlich eine Rechnung oder ein Verzeichnis, der andre eine Vermählungsanzeige Rybinski[s] (aber mit einer andern Dame) und der dritte von der alten Frau Möhring. «Frau Burgemeister Großmann, geb. Möhring. Woldenstein in Westpreußen.» Die Buchstaben waren so steif gekritzelt wie auf einem Waschzettel. «Gott», sagte Thilde, «wenn Mutter bloß nicht immer geborne Möhring schreiben wollte. Möhring ist doch zu wenig.» Dann ging sie bis an die Portière und horchte hinein, und als sich nichts in der Schlafstube regte, ging sie wieder bis ans Fenster und setzte sich in den kleinen schwarzen Stuhl mit drei Goldstäbchen, der hier stand. Und nun las sie.
«Meine liebe Thilde. Die Kiste kam gerade Heiligabend an, aber schon früh, und da gerade die Runtschen da war, sagte ich, nu, Runtschen, nu wollen wir sie aber auch gleich aufmachen. Und da hättest Du sehn sollen, wie geschickt sie war und wie sie jeden einzelnen Nagel rausholte, ohne Kneifzange, bloß alles mit 's Küchenmesser. Und als wir alles raus hatten, gab ich ihr eins von die Pakete, weil ich dran denken mußte, daß ihr die Petermann zu vorigen Weihnachten auch ein großes Stück Steinpflaster gegeben hatte. Sie war aber noch nich ganz zufrieden, bis ich ihr sagte: Na, Runtschen, wenn es soweit is, den Schinkenknochen, den kriegen Sie auch. Da bedankte sie sich; ich weiß das schon von Ulrike, sie sind immer so sehr nach Fleisch. Natürlich, wer soll es denn bezahlen. Und muß ich Dir doch sagen, daß ich mich sehr über alles gefreut habe, weil man doch die Liebe sieht, und dann auch, weil ich sehe, daß Du's kannst und Ihr's haben müßt. Und sieh, Thilde, das is doch die Hauptsache. Denn mit der Sparkasse, das is ja nu vorbei, weil es alles soviel gekostet hat, und wenn ich mir denke, daß es auch knapp ginge, was sollte da werden. In 'n Spittel mag ich nich. Und nu sage mir, Thilde, wie steht es eigentlich mit Dir? Ach, es macht ja bloß Angst und Sorge, und wie sie nachher einschlagen, weiß man auch nich. Besser ist besser. Und Du hast mir noch immer nicht geschrieben von wegen der Witwenkasse. Die Schmädicke meinte zwar neulich: sie müßten einkaufen, ob sie wollen oder nich, aber es wäre mir doch lieb, zu hören, daß Du ganz sicher bist. Ich bin immer so sehr fürs Sichre. Denn der Mensch denkt, und Gott lenkt, und heute rot und morgen tot. Und er war mitunter so rot, was mir nich gefallen hat, und auch die Runtschen sagte: Glauben Sie mir, Frau Möhring, es sitzt ihm hier. Und nu grüße Deinen lieben Mann und sag ihm, ich ließ' ihm ein glückliches neues Jahr wünschen. Ihr verdient es, und es wird sich schon belohnen. Es is ja viel draufgegangen, aber es schadet nicht, und ich hab es alles gerne gegeben, und die Schmädicke sagte neulich: Aufs Kapital kommt es nich an, wenn man bloß gute Zinsen hat.
Deine Dich liebende Mutter
Adele Möhring, geb. Printz»
«Gott, nun auch noch Printz», sagte Thilde. «Was sich Mutter nur eigentlich denkt. Und was sie da schreibt! Als ob sie sich geopfert und mir mit ihrem Sparkassenbuch, was doch mein war, mein Glück bereitet hätte. Nun, sie war immer so, und nach ihrer Art meint sie's gut, erst mit sich und dann mit mir. Und dann war das Gute, daß sie mir immer freie Hand gelassen hat. Eine weimrige alte Frau, aber ich habe doch mit ihr leben können. Und vielleicht muß ich wieder mit ihr leben. Heute rot und morgen tot. Daß sie auch grade so was schreiben mußte . . . Hugo gefällt mir nicht, und der Doktor mit seinem Einigermaßen hat mir auch nicht gefallen. Ich möchte ihn nicht gern verlieren. Er ist so gut und hat mir eine Stellung gegeben. Denn wenn ich es auch gemacht habe, wenn er nicht da war, so ging' es nicht. Ich möcht ihn nicht gern verlieren. Aber sonderbar, alles hat doch so seine zwei Seiten, und wenn ich so den Platz und die drei Scharren sehe, jetzt kuckt sich der Provisor im Spiegel [an] und findt sich hübsch, da weiß ich doch nich, ob es nicht hübscher war, wenn ich nach der Stadtbahn rübersah und wenn Bolle durch die Straßen klingelte . . . Nun, Mutter hat ja auch geschrieben: Der Mensch denkt, und Gott lenkt, sie hat immer solche neuen Sätze. Aber richtig is es, und ich muß es abwarten, wie Gott lenkt.»
* * *
Hugo genas, und Ende Februar saß er im Garten in Front von einem Weinspalier, auf das eine warme Februarsonne fiel. Thilde saß neben ihm und las ihm die Zeitung vor, denn es waren die Tage, wo Bismarck ins Schwanken kam. Hugo sog jedes Wort ein und zeigte großes Interesse, ergriff aber nicht Partei, «sie werden wohl beide recht haben». Thilde lächelte: «Ja, Hugo, das bist ganz du. Beide recht. Ich bin für einen.» Über den Zaun fort grüßten die Nachbarn, die sich schon in ihren Gärten zu schaffen machten, und stellten auch Fragen nach seinem Befinden, denn so kurze Zeit er in der Stadt war, so war er doch sehr beliebt, und jeder freute sich seiner Wiedergenesung. Die Landrätin kam persönlich und klagte sich an: «eigentlich sei sie schuld, er habe sich's bei Ostwind auf dem Eise geholt», und der alte Graf schickte eine große Melone aus seinen Treibhäusern mit einem Billet voll phantastischer Verbindlichkeiten und Ratschläge. Nach Berlin hin war all die Wochen über kein Wort über die Krankheit vermeldet worden, weil Thilde dem Gejammer der Alten entgehen wollte, und auch jetzt, wo die Genesung da war, schrieb sie nichts von der zurückliegenden schweren Sorge. Vielleicht unterließ sie's auch, weil sie der Genesung mißtraute, wozu, wie sich bald zeigen sollte, nur zuviel Veranlassung da war.
Eines Tages, als Hugo wieder in der Sonnenstelle saß, schlug das Wetter plötzlich ab, ein Schüttelfrost stellte sich ein, und ehe noch der Arzt es feststellen konnte, war es klar, daß ein Rückfall da war. Er nahm in rapidem Verlauf die Form einer rapide fortschreitenden Schwindsucht an, und am zweiten Ostertag abends starb er, nachdem er Thilden ans Bett gerufen und ihr für ihre Tüchtigkeit, ihre Liebe und Pflege gedankt hatte. Diese Worte waren ehrlich gemeint, denn die Bedenken einer frühen Zeit waren ganz geschwunden, und er sah in Thilde nichts als die rührige, kräftige Natur, die sein Leben bestimmt und das bißchen, was er war, durch ihre Kraft und Umsicht aus ihm gemacht hatte.
Den dritten Osterfeiertag bei niedergehnder Sonne wurd er auf dem Woldensteiner Kirchhof begraben; alles war da, der alte Graf, der alles auf den Arzt schob und dann wieder versicherte, er hab es schon am Neujahrstage gewußt, der Landrat, der, weil Osterferien waren, gerade in seinem Kreise sein konnte, viel Adel aus der Nähe und die ganze Bürgerschaft einschließlich der dritten Konfession. Auch der Provisor, der sich zufällig einen neuen Frühjahrsüberzieher hatte machen lassen, wollte nicht fehlen. Alle Bläser bliesen, der alte Graf unterhielt sich ziemlich laut, und was Woldenstein an Blumen hatte, wurde auf das Grab gelegt. Der Geistliche geleitete Thilden in ihre Wohnung, und während der alte Graf im «Herzog Kasimir» eine Flasche herben Ungar ausstach, saß Thilde auf dem Trittbrett und sah auf den immer dunkler werdenden Marktplatz, über den ein Westwind einige braune Winterblätter trieb. Dann wurden ein paar an Ketten hängende Laternen angesteckt, und im Schatten des Rathauses, da, wo die Stiege hinaufführte, stand ein Liebespaar. Sie ließen sich durch den immer heftiger werdenden Wind nicht stören, aber die Laternen bewegten [sich] und quietschten an den Ketten hin und her. Als Thilde wohl eine halbe Stunde lang auf das alles hinausgestarrt hatte, zündete sie die Lampe an und setzte sich an ihren Schreibtisch, um ein paar Zeilen an die Mutter zu schreiben.
«Liebe Mutter. Heute gegen Abend haben wir Hugo begraben. Es war sehr schön und feierlich, alle Welt erschienen, auch der Adel aus der Umgegend. Prediger Lämmel hielt die Rede. Sie wird gedruckt und wird uns dann (denn bis dahin denke ich wieder in Berlin zu sein) von hier aus zugestellt werden. Wie ich Dir gleich bemerken will, kostenfrei, auch der Druck. Denn Du wirst wohl sehr in Angst sein. Ich muß Dich aber ernstlich bitten, mich mit dieser Angst nicht quälen zu wollen. Ich habe von hier aus für Dich gesorgt, und ich werde weiter für Dich sorgen. Du denkst immer an jämmerlich zugrunde gehn, aber solange Deine Thilde lebt, so lange wirst Du zu leben haben. Dessen sei versichert. Ich empfange noch das Gehalt bis Jahresschluß und die Witwenpension vom 1. April an. Dies wird Dir einen Stein von der Brust nehmen, und wenn Du erst weißt (und deshalb habe ich dies alles vorausgeschickt), daß Du nicht ins Spital kommen und nicht wie die alte Runtschen rein machen und einholen wirst, wirst Du vielleicht auch zuhören, wenn ich Dir sage, daß Hugo gut gestorben ist, ganz wie ein feiner Mensch, der er immer war. Denn er war aus einem sehr guten Hause, was immer die Hauptsache bleibt. Er hat mir auch noch gedankt, als ob ich wunder was wäre. Das macht, er hatte so was Edles. Und Dich hat er grüßen lassen. Daß er bloß schwächlich war, dafür konnte er nich. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wär er stärker gewesen. Alle Leute hier haben ihn sehr geachtet, weil alle sahen, daß er sehr gut war, und selbst Silberstein, von dem ich Dir schon geschrieben, hat an seinem Grabe gesprochen. So daß selbst Pastor Lämmel zufrieden war und ihm die Hand gab. Silberstein. Firma Silberstein und Isenthal, wird auch alles besorgen, es sind sehr reelle Leute, fortschrittlich, aber sehr reell. Und was aus dem Mobiliar herauskommt, das werden wir kriegen auf Heller und Pfennig. Ich habe noch ein paar Tage hier zu tun und Briefe zu schreiben, auch an den alten Grafen, der mir eine Stellung als Hausdame in seinem Hause angeboten hat (natürlich mit Gehalt), aber all das wird in drei oder vier Tagen beendet sein, und spätestens sonnabend früh gedenke ich in Berlin einzutreffen. Ich schreibe aber noch eine Karte vorher, damit Du ganz sicher bist und die Runtschen zu rechter Zeit bestellen kannst. Ich bringe Dir auch ein Andenken von ihm mit, ein kleines Kreuz, vorn mit einer Perle. Die Perle hat einigen Wert. Ich freue mich, Dich wiederzusehn, so schmerzlich auch die Veranlassung ist, denn die Pension reicht nicht an das Gehalt. Ich muß Dir das sagen. Mir ist es gleichgiltig. Ich bringe mich schon durch und Dich mit.
Deine treue Tochter Thilde»
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