BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Feuerbach

1804 -1872

 

Das Wesen des Christentums

 

Erster Theil

Die Religion in ihrer Uebereinstimmung

mit dem Wesen des Menschen.

 

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[183]

Das Geheimniß des christlichen Christus

oder des persönlichen Gottes.

 

Die Grunddogmen des Christenthums sind realisirte Herzens­wünsche – das Wesen des Christenthums ist das Wesen des Gemüths. Es ist gemüthlicher, zu leiden als zu handeln, gemüthlicher, durch einen Andern erlöst und befreit zu werden, als sich selbst zu befreien, gemüthlicher, von einer Person als von der Kraft der Selbstthätigkeit sein Heil abhängig zu machen, gemüthlicher statt des Objects des Strebens ein Object der Liebe zu setzen, gemüthlicher, sich von Gott geliebt zu wissen, als sich selbst zu lieben mit der einfachen, natürlichen Selbstliebe, die allen Wesen eingeboren, gemüthlicher, sich in den liebestrahlenden Augen eines andern persönlichen Wesens zu bespiegeln, als in den Hohlspiegel des eignen Selbsts oder in die kalte Tiefe des stillen Oceans der Natur zu schauen, gemüthlicher überhaupt, sich von seinem eignen Gemüthe als von einem andern, aber doch im Grunde demselbigen Wesen afficiren zu lassen, als sich selbst durch die Vernunft zu bestimmen. Das Gemüth ist überhaupt der Casus obliquus des Ich, das Ich im Accusativ. Das Fichte'sche Ich ist gemüthlos, weil der Accusativ dem Nominativ gleich ist, weil es ein Indeclinabile. Aber das Gemüth ist das von sich selbst afficirte und zwar das von sich als wie von einem andern Wesen afficirte Ich – das passive Ich. Das Gemüth verwandelt das Activum im Menschen in ein Passivum, und das Passivum in ein Activum. Das Denkende ist dem Gemüthe das Gedachte, das Gedachte das Denkende. Das Gemüth ist träumerischer Natur; darum weiß es auch nichts Seligeres, nichts Tieferes [184] als den Traum. Aber was ist der Traum? Die Umkehrung des wachen Bewußtseins. Im Traume ist das Handelnde das Leidende, das Leidende das Handelnde; im Traume nehme ich meine Selbstaffectionen als Affectionen von Außen, die Gemüthsbewegungen als Ereignisse, meine Vorstellungen und Empfindungen als Wesen außer mir wahr, leide ich, was ich außerdem thue. Der Traum bricht die Strahlen des Lichts doppelt – daher sein unbeschreiblicher Reiz. Es ist dasselbe Ich, dasselbe Wesen im Traume, wie im Wachen; der Unterschied ist nur, daß im Wachen das Ich sich selbst afficirt, im Traume von sich selbst, als wie von einem andern Wesen afficirt wird. Ich denke mich – ist gemüthlos, rationalistisch; ich bin gedacht von Gott und denke mich nur als gedacht von Gott – ist gemüthvoll, ist religiös. Das Gemüth ist der Traum mit offnen Augen; die Religion der Traum des wahren Bewußtseins; der Traum der Schlüssel zu den Geheimnissen der Religion.

Das höchste Gesetz des Gemüths ist die unmittelbare Einheit des Willens und der That, des Wunsches und der Wirklichkeit. Dieses Gesetz erfüllt der Erlöser. Wie das äußerliche Wunder im Gegensatz zur natürlichen Thätigkeit die physischen Bedürfnisse und Wünsche des Menschen unmittelbar realisirt; so befriedigt der Erlöser, der Versöhner, der Gottmensch im Gegensatze zur moralischen Selbstthätigkeit des natürlichen oder rationalistischen Menschen unmittelbar die innern moralischen Bedürfnisse und Wünsche, indem er den Menschen der Vermittlungsthätigkeit seinerseits überhebt. Was Du wünschest, ist bereits ein Perfectum. Du willst Dir die Seligkeit erwerben, verdienen. Du kannst es nicht – d. h. in Wahrheit: Du brauchst es nicht. Es ist schon [185] geschehen, was Du erst machen willst. Du hast Dich nur passiv zu verhalten, Du brauchst nur zu glauben, nur zu genießen. Du willst Dir Gott geneigt machen, seinen Zorn beschwichtigen, Frieden haben vor Deinem Gewissen. Aber dieser Friede existirt schon; dieser Friede ist der Mittler, der Gottmensch – Er ist Dein beschwichtigtes Gewissen, Er die Erfüllung des Gesetzes und damit die Erfüllung Deines eignen Wunsches und Strebens.

Als der Erfüller des Gesetzes ist aber jetzt nicht mehr das Gesetz, sondern der Erfüller das Muster, die Richtschnur, das Gesetz Deines Lebens. Wer das Gesetz erfüllt, annullirt das Gesetz. Das Gesetz hat nur Autorität, nur Gültigkeit der Gesetzwidrigkeit gegenüber. Wer aber das Gesetz vollkommen erfüllt, der sagt zum Gesetz: was du willst, das will ich von selbst, und was du nur befiehlst, bekräftige ich durch die That; mein Leben ist das wahre, das lebendige Gesetz. Der Erfüller des Gesetzes tritt daher nothwendig an die Stelle des Gesetzes, und zwar als ein neues Gesetz, ein Gesetz, dessen Joch sanft und milde ist. Denn statt des nur commandirenden Gesetzes stellt er sich selbst als Beispiel, als ein Object der Liebe, der Bewunderung und Nacheiferung hin und wird dadurch zum Erlöser von der Sünde. Das Gesetz gibt mir nicht die Kraft, das Gesetz zu erfüllen; nein! es ist barbarisch; es befiehlt nur, ohne sich darum zu bekümmern, ob ich es auch erfüllen kann und wie ich es erfüllen soll; es überläßt mich rath- und hülflos nur mir selbst. Aber wer mir mit seinem Beispiel voranleuchtet, der greift mir unter die Arme, der theilt mir seine eigne Kraft mit. Das Gesetz leistet keinen Widerstand der Sünde, aber Wunder wirkt das Beispiel. Das Gesetz ist todt; aber das Beispiel animirt, [186] begeistert, reißt den Menschen unwillkührlich mit sich fort. Das Gesetz spricht nur zum Verstande und setzt sich direct den Trieben entgegen; das Beispiel dagegen schmiegt sich an einen mächtigen, sinnlichen Trieb – an den unwillkührlichen Nachahmungstrieb an. Das Beispiel wirkt auf Gemüth und Phantasie. Kurz, das Beispiel hat magische, d. h. sinnliche Kräfte; denn die magische, d. i. unwillkührliche Anziehungskraft ist eine wesentliche Eigenschaft, wie der Materie überhaupt, so der Sinnlichkeit insbesondre.

Die Alten sagten, wenn die Tugend sich sehen lassen könnte oder würde, so würde sie durch ihre Schönheit Alle für sich gewinnen und begeistern. Die Christen waren so glücklich, auch diesen Wunsch erfüllt zu sehen. Die Heiden hatten ein ungeschriebenes, die Juden ein geschriebenes Gesetz, die Christen ein Exempel, ein Vorbild, ein sichtbares, persönlich lebendiges Gesetz, ein Fleisch gewordnes, ein menschliches Gesetz. Daher die Freudigkeit namentlich der ersten Christen – daher der Ruhm des Christenthums, daß nur es allein die Kraft habe und gebe, der Sünde zu widerstehen. Und dieser Ruhm soll ihm nicht abgestritten werden. Nur ist zu bemerken, daß die Kraft des Tugendexempels nicht sowohl die Macht der Tugend, als vielmehr die Macht des Beispiels überhaupt ist, gleichwie die Macht der religiösen Musik nicht die Macht der Religion, sondern die Macht der Musik ist 1), [187] daß daher das Tugendbild wohl tugendhafte Handlungen zur Folge hat, aber ohne die Gesinnungen und Beweggründe der Tugend. Aber dieser einfache und wahre Sinn von der erlösenden und versöhnenden Macht des Beispiels im Unterschiede von der Macht des Gesetzes, auf welchen wir reducirten den Gegensatz von Gesetz und Christus, ist keineswegs der volle erschöpfende Sinn der religiösen oder dogmatischen Erlösung und Versöhnung. Hier reducirt sich Alles auf die persönliche Kraft jenes wunderbaren Mittelwesens, welches weder Gott, noch Mensch allein, sondern ein Mensch ist, der zugleich Gott und ein Gott, der zugleich Mensch ist, und welches daher nur im Zusammenhang mit der Bedeutung des Wunders begriffen werden kann 2). Das Wunder ist der realisirte Wunsch des Menschen, frei zu sein von den Bedingungen, Schranken, Gesetzen, an welche der Vernunft und Natur nach die Befriedigung der physischen Bedürfnisse geknüpft ist; der wunderbare Erlöser ist der realisirte Wunsch des Gemüths, frei zu sein von den Gesetzen der Moral, d. h. von den Bedingungen, an welche die Tugend auf dem natürlichen Wege gebunden ist, der realisirte Wunsch, von den moralischen Uebeln augenblicklich, unmittelbar, mit einem Zauberschlag, d. h. auf absolut subjective, gemüthliche Weise erlöst zu werden. Der höchste Selbstgenuß der Subjectivität, die höchste Selbstgewißheit des Menschen überhaupt ist, daß Gott für ihn handelt, für ihn leidet, für ihn sich opfert. [188]

Daß die Wunderkraft eins ist mit dem Begriffe des Mittelwesens, ist historisch selbst schon dadurch erwiesen, daß die Wunder des Alten Testaments, die Gesetzgebung, die Vorsehung, kurz alle die Elemente, welche das Wesen der Religion constituiren, schon vor dem Christenthum in die göttliche Weisheit, in den Logos verlegt wurden. Die Gottheit, an welche der Logos selbst wieder angeknüpft wurde, ist nur das Bewußtsein der Vernunft, eine abstracte metaphysische Idee kein Wesen, keine Person; mit dem Logos erst beginnt die Religion. Dieser Logos schwebt bei Philo noch in der Luft zwischen Himmel und Erde, bald als ein Abstractum, bald als ein Concretum, d. h. Philo schwankt zwischen sich selbst als Philosoph und sich als religiösen Israeliten, zwischen dem positiven Element der Religion und der metaphysischen Idee, jedoch so, daß das abstracte Element selbst bei ihm ein mehr oder weniger phantastisches ist. Im Christenthum kam erst dieser Logos zu vollkommner Consistenz, das Abstractum wurde ein entschiednes Concretum, d. h. die Religion concentrirte sich jetzt ausschließlich auf das Element, das Object, welches ihre wesentliche Differenz begründet. Der Logos ist das personificirte Wesen der Religion, der Logos daher das Wesen des Christenthums. Die Kirche hat hierin einen sehr guten Tact bewiesen, daß sie so sehr auf die Wesenseinheit des Logos (Christus) mit Gott drang 3). Die Unterordnung Christi unter Gott bei Paulus war nur ein Rest noch jüdisch alexandrinischer Bildung, jedenfalls nur eine theoretische, ohne praktische [189] Bedeutung in Bezug auf das wesentliche Thema, den eigentlichen religiösen Text seines Lebens. Kurz, der Logos ist erst der Gott im Sinne der Religion, der offenbare, der wirkliche Gott. Wenn daher Gott als das Wesen des Gemüths bestimmt wurde, so hat dieß erst im Logos seine volle Wahrheit.

Gott als Gott ist noch das verschloßne, verborgne Gemüth; das aufgeschloßne, offne, sich gegenständliche Gemüth oder Herz ist erst Christus – es versteht sich übrigens von selbst, daß auch hier wieder, denn Das constituirt eben das Wesen der Religion, dieses sich offenbare Herz als ein andres, selbstständiges Wesen angeschaut wird; aber in Beziehung auf Gott als Gott, relativ, ist erst in Christus das Gemüth vollkommen seiner selbst gewiß und versichert, außer allem Zweifel über die Wahrhaftigkeit und Göttlichkeit seines eignen Wesens; denn Christus schlägt nichts dem Gemüthe ab; er erfüllt alle seine Bitten. In Gott verschweigt noch das Gemüth, was ihm auf dem Herzen liegt; es seufzt nur; aber in Christus spricht es sich vollkommen aus; hier behält es nichts mehr für sich zurück. Der Seufzer ist der noch ängstliche Wunsch; er drückt sich mehr durch die Klage aus, daß das nicht ist, was er wünscht, als daß er offen, positiv heraussagt, was er will; im Seufzer zweifelt noch das Gemüth an der Rechtskräftigkeit seiner Wünsche. Aber in Christus ist alle Seelenangst verschwunden; Er ist der in Siegesgesang über seine Erfüllung übergegangne Seufzer, die frohlockende Gewißheit des Gemüths von der Wahrheit und Wirklichkeit seiner in Gott verborgnen Wünsche; der thatsächliche Sieg über den Tod, über alle Gewalt der Welt und Natur, die nicht mehr nur gehoffte, die bereits vollbrachte Auferstehung  4); [190] Er ist das Herz, das aller drückenden Schranken, aller Leiden frei und ledig ist, das selige Gemüth – die sichtbare Gottheit.

Gott zu sehen, dieß ist der höchste Wunsch, der höchste Triumph des Herzens. Christus ist dieser erfüllte Wunsch, dieser Triumph. Gott nur gedacht, nur als Denkwesen, d. i. Gott als Gott ist immer nur ein entferntes Wesen, das Verhältniß zu ihm ein abstractes, gleich dem Freundschaftsverhältniß, in welchem wir zu einem räumlich entfernten, persönlich uns unbekannten Menschen stehen. So sehr auch seine Werke, die Beweise von Liebe, die er uns gibt, uns sein Wesen vergegenwärtigen; es bleibt doch stets eine unausgefüllte Lücke, das Herz unbefriedigt; wir sehnen uns darnach, ihn zu sehen. So lange uns ein Wesen nicht von Angesicht zu Angesicht bekannt ist, sind wir doch immer noch im Zweifel, ob es wohl ist und so ist, wie wir es vorstellen; erst im Sehen liegt die letzte Zuversicht, die vollständige Beruhigung. Christus ist der persönlich bekannte Gott, Christus daher die selige Gewißheit, daß Gott ist und so ist, wie es das Gemüth will und bedarf, daß er ist. Gott als Gegenstand des Gebets ist wohl schon ein menschliches Wesen, indem er an menschlichem Elend Theil nimmt, menschliche Wünsche erhört, aber er ist doch noch nicht als wirklicher Mensch dem religiösen Bewußtsein Gegenstand. Erst in Christus ist daher der letzte Wunsch der Religion realisirt, das Geheimniß des religiösen Gemüthes aufgelöst – aufgelöst aber in der der Religion eigenthümlichen Bildersprache – denn, was Gott [191]im Wesen ist, das ist in Christus zur Erscheinung gekommen. In sofern kann man die christliche Religion die absolute nennen. Daß Gott, der an sich nichts andres als das Wesen des Menschen ist, auch als solches verwirklicht werde, als Mensch dem Bewußtsein Gegenstand sei, das ist das Ziel der Religion. Und dieses erreichte die christliche Religion in der Menschwerdung Gottes, die keineswegs ein vorübergehender Act ist, denn Christus bleibt auch noch nach seiner Himmelfahrt Mensch, Mensch von Herzen und Mensch von Gestalt, nur daß jetzt sein Leib nicht mehr ein irdischer, dem Leiden unterworfner Körper ist.

Die Menschwerdungen Gottes bei den Orientalen, wie namentlich den Indern, haben keine so intensive Bedeutung als die christliche. Eben weil sie oft geschehen, werden sie gleichgültig, verlieren sie ihren Werth. Die Menschheit Gottes ist seine Persönlichkeit. Gott ist ein persönliches Wesen, heißt: Gott ist ein menschliches Wesen, Gott ist Mensch. Die Persönlichkeit ist ein Abstractum, das nur als wirklicher Mensch Realität hat 5). Der Sinn, der den Menschwerdungen Gottes zu Grunde liegt, ist daher unendlich besser erreicht durch eine Menschwerdung, eine Persönlichkeit. Wo Gott in mehreren Personen nach einander erscheint, da sind diese Persönlichkeiten verschwindende. Aber es handelt sich eben um eine bleibende Persönlichkeit, eine ausschließende Persönlichkeit. Wo viele Incarnationen vorkommen, [192] da ist Raum gegeben für noch unzählig viele andere; die Phantasie ist nicht beschränkt; da treten auch die bereits wirklichen in die Kategorie der nur möglichen oder vorstellbaren, in die Kategorie von Phantasien oder von bloßen Erscheinungen. Wo aber ausschließlich eine Persönlichkeit als die Incarnation der Gottheit geglaubt und angeschaut wird, da imponirt diese sogleich mit der Macht einer historischen Persönlichkeit; die Phantasie ist abgethan, die Freiheit, noch andere sich vorzustellen, aufgegeben. Diese Eine Persönlichkeit nöthigt mir den Glauben an ihre Wirklichkeit auf. Der Charakter der wirklichen Persönlichkeit ist eben die Ausschließlichkeit – das Leibnitz'sche Principium des Unterschieds, daß nichts Existirendes dem andern vollkommen gleich ist. Der Ton, der Nachdruck, mit dem die Eine Persönlichkeit ausgesprochen wird, macht einen solchen Effect auf das Gemüth, daß sie unmittelbar als eine wirkliche sich darstellt, aus einem Object der Phantasie zu einem Object der gemeinen historischen Anschauung wird.

Die Sehnsucht ist die Nothwendigkeit des Gemüths; und das Gemüth sehnt sich nach einem persönlichen Gott. Aber diese Sehnsucht nach der Persönlichkeit Gottes ist nur eine wahre, ernste, tiefe, wenn sie die Sehnsucht nach Einer Persönlichkeit ist, wenn sie sich mit Einer begnügt. Mit der Mehrheit der Personen schwindet die Wahrheit des Bedürfnisses, wird die Persönlichkeit zu einem Luxusartikel der Phantasie. Was aber mit der Gewalt der Nothwendigkeit, das wirkt mit der Gewalt der Wirklichkeit auf den Menschen. Was namentlich dem Gemüth ein nothwendiges, das ist ihm unmittelbar auch ein wirkliches Wesen. Die Sehnsucht sagt: es muß ein persönlicher [193] Gott sein, d. h. er kann nicht nicht sein, das befriedigte Gemüth: er ist. Die Bürgschaft seiner Existenz liegt für das Gemüth in der Nothwendigkeit seiner Existenz – die Nothwendigkeit der Befriedigung in der Gewalt des Bedürfnisses. Die Noth kennt kein Gesetz außer sich. Die Noth bricht Eisen. Das Gemüth kennt keine andere Nothwendigkeit, als die Gemüthsnothwendigkeit, die Sehnsucht: es perhorrescirt die Nothwendigkeit der Natur, die Nothwendigkeit der Vernunft. Nothwendig ist also dem Gemüthe ein subjectiver, gemüthlicher, persönlicher Gott; aber nothwendig nur Eine Persönlichkeit, und diese Eine nothwendig eine historische, wirkliche Persönlichkeit. Nur in der Einheit der Persönlichkeit befriedigt, sammelt sich das Gemüth. Die Mehrheit zerstreut.

Wie aber die Wahrheit der Persönlichkeit die Einheit, die Wahrheit der Einheit die Wirklichkeit – so ist die Wahrheit der wirklichen Persönlichkeit – das Blut. Der letzte, von dem Verfasser des vierten Evangeliums mit besonderm Nachdruck hervorgehobne Beweis, daß die sichtbare Person Gottes kein Phantasma, sondern wirklicher Mensch gewesen, ist, daß Blut aus seiner Seite am Kreuze geflossen. Wo der persönliche Gott eine wahre Herzensnoth ist, da muß er selbst Noth leiden. Nur in seinem Leiden liegt die Gewißheit seiner Wirklichkeit; nur darauf der wesentliche Ein- und Nachdruck der Incarnation. Gott zu sehen genügt dem Gemüthe nicht. Die Augen geben noch keine hinlängliche Bürgschaft. Die Wahrheit der Gesichtsvorstellung bekräftigt nur das Gefühl. Aber wie subjectiv das Gefühl, so ist auch objectiv die Fühlbarkeit, Antastbarkeit, Passibilität das letzte Kriterium der Wirklichkeit – das Leiden Christi daher die höchste Wonne, [194] die letzte Zuversicht, der höchste Selbstgenuß, der höchste Trost des Gemüthes; denn nur im Blute Christi ist der Durst nach einem persönlichen, d. i. menschlichen, theilnehmenden, empfindenden Gotte gestillt.

„Darum wir es für einen schädlichen Irrthum halten, da Christo nach seiner Menschheit solche (nämlich göttliche) Majestät entzogen, dadurch den Christen ihr höchster Trost genommen, den sie in ... Verheißung von der Gegenwärtigkeit und Beiwohnung ihres Haupts, Königs und Hohenpriesters haben, der ihnen versprochen hat, daß nicht allein seine bloße Gottheit, welche gegen uns arme Sünder, wie ein verzehrendes Feuer gegen dürre Stoppeln ist, sondern Er, Er, der Mensch, der mit ihnen geredet hat, der alle Trübsal in seiner angenommenen menschlichen Gestalt versucht hat, der dahero auch mit uns, als mit Menschen und seinen Brüdern ein Mitleiden haben kann, der wolle bei uns sein in allen unsern Nöthen, auch nach der Natur, nach welcher er unser Bruder ist und wir Fleisch von seinem Fleische sind 6).“

Oberflächlich ist es, wenn man gesagt, das Christenthum sei nicht die Religion von einem persönlichen Gott, sondern von drei Persönlichkeiten. Diese drei Persönlichkeiten haben allerdings in der Dogmatik Existenz; aber auch hier ist die Persönlichkeit des heil. Geistes nur ein willkührlicher Machtspruch, welcher durch die unpersönlichen Bestimmungen, wie z. B. die, daß der heil. Geist die Gabe, das donum des Vaters und Sohnes sei, widerlegt wird 7). Schon der Ausgang des [195] heil. Geistes stellt seiner Persönlichkeit ein schlechtes Prognostikon, denn nur durch die Zeugung, nicht aber durch das unbestimmte Aus- und Hervorgehen oder durch die Spiratio wird ein persönliches Wesen hervorgebracht. Und selbst der Vater, als Repräsentant des rigorosen Begriffes der Gottheit, ist nur der Einbildung und Behauptung nach, aber nicht seinen Bestimmungen nach ein persönliches Wesen: er ist ein abstracter Begriff, ein rein rationalistisches Wesen. Die plastische Persönlichkeit ist nur Christus. Zur Persönlichkeit gehört Gestalt. Die Gestalt ist die Wirklichkeit der Persönlichkeit. Christus allein ist der persönliche Gott – Er der wahre, wirkliche Gott der Christen, was nicht oft genug wiederholt werden kann. In ihm allein concentrirt sich die christliche Religion, das Wesen der Religion überhaupt. Nur Er entspricht der Sehnsucht nach einem persönlichen Gott; nur Er ist eine mit dem Wesen des Gemüths identische Existenz; [196] nur auf ihn häufen sich alle Freuden der Phantasie und alle Leiden des Gemüths; nur in ihm erschöpft sich das Herz und erschöpft sich die Phantasie. Christus ist die Identität von Herz und Phantasie.

Dadurch unterscheidet sich das Christenthum von andern Religionen, daß in diesen Herz und Phantasie auseinander gehen, im Christenthum aber zusammenfallen. Die Phantasie vagirt hier nicht sich selbst überlassen herum; sie folgt dem Zuge des Herzens; sie beschreibt einen Kreis, dessen Mittelpunkt das Gemüth ist. Die Phantasie ist hier beschränkt durch Herzensbedürfnisse, realisirt nur die Wünsche des Gemüths, bezieht sich nur auf das Eine, was Noth ist; kurz sie hat, wenigstens im Ganzen, eine praktische, concentrische, keine ausschweifende, nur poetische Tendenz. Die Wunder des Christenthums, empfangen im Schooße des nothleidenden, bedürftigen Gemüths, keine Producte nur der freien, willkührlichen Selbstthätigkeit, versetzen uns unmittelbar auf den Boden des gemeinen, wirklichen Lebens; sie wirken auf den Gemüthsmenschen mit unwiderstehlicher Gewalt, weil sie die Nothwendigkeit des Gemüths für sich haben. Kurz, die Macht der Phantasie ist hier zugleich die Macht des Herzens, die Phantasie nur das siegreiche, triumphirende Herz. Bei den Orientalen, bei den Griechen schwelgte die Phantasie, unbekümmert um die Noth des Herzens, im Genusse irdischer Pracht und Herrlichkeit; im Christenthume stieg sie aus dem Pallaste der Götter herab in die Wohnung der Armuth, wo nur die Nothwendigkeit des Bedürfnisses waltet, demüthigte sie sich unter die Herrschaft des Herzens. Aber je mehr sie sich extensiv beschränkte, um so mehr gewann sie an intensiver Stärke. An der Noth des Herzens scheiterte der Muthwille der olympischen [197] Götter; aber allmächtig wirkt die Phantasie im Bunde mit dem Herzen. Und dieser Bund der Freiheit der Phantasie mit der Nothwendigkeit des Herzens ist Christus. Alle Dinge sind Christo unterthan; Er ist der Herr der Welt, der mit ihr macht, was er nur will; aber diese über die Natur unbeschränkt gebietende Macht ist selbst wieder unterthan der Macht des Herzens: Christus gebietet der tobenden Natur Stillschweigen, aber nur um zu erhören die Seufzer der Nothleidenden 8).

 

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1) Interessant ist in dieser Beziehung das Selbstbekenntniß Augustins. Ita fluctuo inter periculum voluptatis et experimentum salubritatis: magisque adducor .... cantandi consuetudinem approbare in ecclesia, ut per oblectamenta aurium infirmior animus in affectum pietatis assurgat. Tamen cum mihi accidit, ut nos amplius cantus, quam res quae canitur moveat, poenaliter me peccare confiteor. Confess. I. X. c. 33. 

2) Die Theologen beschränkten zwar den Ausdruck μέσος, μεσίτης, medius, mediator nur auf das Munus und Officium Christi. Aber gleichwohl ist in seiner Substanz die menschliche und göttliche Natur auf eine mystische, d. i. wunderbare Weise verknüpft. (S. hierüber im Anhang.) Wie hätte er auch dieses vermittelnde Amt übernehmen können, wenn er nicht seiner Natur nach ein Mittelwesen wäre? 

3) Negas ergo Deum, si non omnia filio, quae Dei sunt, deferuntur. Cum enim dixerit: omnia quae pater habet mea sunt, cur tu non omnia quae divinae naturae sunt etiam in filio confiteris? Ambrosius de Fide ad Gratianum. l. III. c. 7. 

4) Quod est Christus, erimus Christiani, si Christum fuerimus sequuti. C. Cyprianus de idolorum vanitate. cap. 7. 

5) Hieraus erhellt die Unwahrhaftigkeit und Eitelkeit der modernen Speculation über die Persönlichkeit Gottes. Schämt ihr euch nicht eines persönlichen Gottes, so schämt euch auch nicht eines fleischlichen Gottes. Eine abstracte farblose Persönlichkeit, eine Persönlichkeit ohne Fleisch und Blut ist ein hohles Gespenst. 

6) Concordienb. Erklär. Art. 8. 

7) Schon Faustus Socinus hat dieß aufs Trefflichste gezeigt. S. dessen Defens. Animadv. in Assert. Theol. Coll. Posnan. de trino et uno Deo Irenopoli. 1656. cap. 11. Man lese in dieser Beziehung besonders die Schriften der christlichen Orthodoxen gegen die Heterodoxen, z. B. gegen die Socinianer. Neuere Theologen erklären bekanntlich auch die kirchliche Gottheit Christi für unbiblisch; aber gleichwohl ist diese unläugbar das charakteristische Princip des Christenthums, und wenn sie auch nicht so in der Bibel schon steht, wie in der Dogmatik, dennoch eine nothwendige Consequenz der Bibel. Was kann ein Wesen, welches die leibhafte Fülle der Gottheit, welches allwissend (Joh. 16, 30.) und allmächtig ist (Todte erweckt, Wunder wirkt), welches allen Dingen und Wesen der Zeit und dem Range nach vorangeht, welches das Leben in sich selbst hat (wenn auch als gegeben) gleichwie der Vater das Leben in sich hat, was kann dieses Wesen, consequent gefolgert, anders als Gott sein? „Christus ist dem Willen nach mit dem Vater eins;“ aber Willenseinheit setzt Wesenseinheit voraus. „Christus ist der Abgesandte, der Stellvertreter Gottes;“ aber Gott kann sich nur durch ein göttliches Wesen vertreten lassen. Nur den, in welchem ich gleiche oder doch ähnliche Eigenschaften wie in mir finde, kann ich zu meinem Stellvertreter wählen, sonst blamire ich mich selbst. 

8) Ueber den Unterschied von Herz und Gemüth im Anhange.