BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Feuerbach

1804 -1872

 

Das Wesen des Christentums

 

Erster Theil

Die Religion in ihrer Uebereinstimmung

mit dem Wesen des Menschen.

 

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Das Geheimniß des Glaubens – das Geheimniß des Wunders.

 

Der Glaube an die Macht des Gebets – und nur da, wo dem Gebete eine Macht und zwar eine objective Macht zugeschrieben wird, ist noch das Gebet eine religiöse Wahrheit – ist eins mit dem Glauben an die Wundermacht und der Glaube an Wunder eins mit dem Wesen des Glaubens überhaupt. Nur der Glaube betet; nur das Gebet des Glaubens hat Kraft. Der Glaube ist aber nichts andres als die Zuversicht zur Realität des Subjectiven im Gegensatz zu den Schranken, d. i. Gesetzen der Natur und Vernunft, d. h. der natürlichen Vernunft. Das specifische Object des Glaubens ist daher das Wunder – Glaube ist [164] Wunderglaube, Glaube und Wunder absolut unzer­trennlich. Was objectiv das Wunder, oder die Wundermacht, das ist subjectiv der Glaube – das Wunder ist das äußere Gesicht des Glaubens, der Glaube die innere Seele des Wunders – der Glaube das Wunder des Geistes, das Wunder des Gemüths, das sich im äußern Wunder nur vergegenständlicht. Dem Glauben ist nichts unmöglich – und diese Allmacht des Glaubens verwirklicht nur das Wunder. Das Wunder ist nur ein sinnliches Beispiel von dem, was der Glaube vermag. Unbegränztheit, Uebernatürlichkeit der Subjec­tivität, Ueberschwänglichkeit des Gefühls, – Transcendenz ist daher das Wesen des Glaubens. Der Glaube bezieht sich nur auf Dinge, welche, im Widerspruch mit den Schranken, d. i. Gesetzen der Natur und Vernunft 1), die Realität des menschlichen Gemüths, der mensch­lichen Wünsche vergegenständlichen. Der Glaube entfesselt die Wünsche der Subjectivität von den Banden der natürlichen Vernunft. Er genehmigt, was Natur und Vernunft versagen; er macht den Menschen darum selig, denn er befriedigt seine subjectivsten Wünsche. Und kein Zweifel beunruhigt den wahren Glauben. Der Zweifel entsteht nur da, wo ich aus mir selbst herausgehe, [165] die Gränzen meiner Subjectivität überschreite, wo ich auch dem Andern außer mir, dem von mir Unterschiedenen Realität und Stimmrecht einräume, wo ich mich als ein subjectives, d. i. beschränktes Wesen weiß und nun durch das An­dere außer mir meine Gränzen zu erweitern suche. Aber im Glauben ist das Princip des Zweifels selbst verschwunden, denn dem Glau­ben gilt eben an und für sich das Subjective für das Objective, das Absolute selbst. Der Glaube ist eben nichts andres als der Glaube an die absolute Realität der Subjectivität. Die rauhe Wirklichkeit existirt gar nicht für ihn, das Wirkliche ist ihm das Unwirkliche; wie sollte also das Audiatur et altera pars hier statt finden können? Der Glaube beschränkt sich nicht durch die Vor­stel­lung einer Welt, eines Weltganzen, einer Nothwen­digkeit. Für den Glauben ist nur Gott, d. h. die schrankenfreie Subjectivität. Wo der Glaube im Menschen aufgeht, da geht die Welt unter, ja sie ist schon untergegangen. Der Glaube an den wirklichen Untergang und zwar an einen demnächst bevor­stehenden, dem Gemüth präsenten Untergang dieser den christlichen Wünschen widersprechenden Welt ist daher ein Phänomen von dem innersten Wesen des christlichen Glaubens, ein Glaube, der sich gar nicht abtrennen läßt von dem übrigen Inhalt des christlichen Glaubens, mit dessen Aufgebung das wahre positive Christenthum aufgegeben, verläugnet wird 2). Das Wesen [166] des Glaubens, welches sich durch alle seine Gegenstände bis ins Speciellste hinein bestätigen läßt, ist: daß das ist, was der Mensch wünscht – er wünscht unsterblich zu sein, also ist er unsterblich; er wünscht, daß ein Wesen sei, welches alles vermag, was der Natur und Vernunft unmöglich ist, also existirt ein solches Wesen; er wünscht, daß eine Welt sei, welche den Wünschen des Gemüths entspricht, eine Welt der unbeschränkten Subjectivität, d. i. der ungestörten Empfindung, der ununter­brochnen Seligkeit; nun existirt aber dennoch eine dieser subjectiven Welt entgegengesetzte Welt, also muß diese Welt vergehen – so nothwendig vergehen als nothwendig ein Gott, das absolute Wesen der Subjectivität, besteht. Glaube, Liebe, Hoffnung ist die christliche Dreieinigkeit. Die Hoffnung bezieht sich auf die Erfüllung der Verheißungen – der Wünsche, die noch nicht erfüllt sind, aber erfüllt werden; die Liebe auf das Wesen, welches diese Verheißungen gibt und erfüllt, der Glaube auf die Verheißungen, die Wünsche, welche bereits erfüllt, historische Thatsachen sind.

Das Wunder ist ein wesentlicher Gegenstand des Christenthums, wesentlicher Glaubensinhalt. Aber was ist das Wunder? Ein realisirter supranaturalistischer Wunsch – sonst nichts. Der Apostel Paulus erläutert das Wesen des christlichen Glaubens an dem Beispiel Abrahams. Abraham konnte auf natürlichem Wege nimmer auf Nachkommenschaft hoffen. Jehovah verhieß sie ihm gleichwohl aus besonderer [167] Gnade. Und Abraham glaubte, der Natur zum Trotz. Darum wurde ihm auch dieser Glaube zur Gerechtigkeit, zum Verdienst angerechnet; denn es gehört viele Kraft der Subjectivität dazu, etwas im Widerspruch mit Erfahrung, wenigstens vernünftiger, gesetzmäßiger Erfahrung dennoch als gewiß anzunehmen. Aber was war denn der Gegenstand dieser göttlichen Verheißung? Nachkommenschaft: der Gegenstand eines menschlichen Wunsches. Und woran glaubte Abraham, wenn er Jehovah glaubte? an ein Wesen, welches alles vermag, alle menschlichen Wünsche erfüllen kann. „Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein 3)?“

Doch wozu versteigen wir uns bis zu Abraham hinauf? Die schlagendsten Beweise haben wir ja viel näher. Das Wunder speist Hungrige, heilt von Natur Blinde, Taube, Lahme, errettet aus Lebensgefahren, belebt selbst Todte auf die Bitten ihrer Verwandten. Es befriedigt also menschliche Wünsche – Wünsche, die aber zugleich, zwar nicht immer an sich selbst, wie der Wunsch, den Todten zu beleben, doch insofern, als sie die Wundermacht, wunderbare Hülfe ansprechen, transcendente, supranaturalistische Wünsche sind. Aber das Wunder unterscheidet sich dadurch von der natur- und vernunftgemäßen Befriedigungsweise menschlicher Wünsche und Bedürfnisse, daß es die Wünsche des Menschen auf eine dem Wesen des Wunsches entsprechende, auf die wünschens­wertheste Weise befriedigt. Der Wunsch bindet sich an keine Schranke, kein Gesetz: er ist ungeduldig; er will unverzüglich, augenblicklich erfüllt sein. Und siehe da! so schnell als der Wunsch, so schnell ist das Wunder. Die Wunderkraft realisirt [168] augenblicklich, mit einem Schlag, ohne alles Hinderniß die menschlichen Wünsche. Daß Kranke gesund werden, das ist kein Wunder, aber daß sie unmittelbar auf einen bloßen Machtspruch hin gesund werden, das ist das Geheimniß des Wunders. Nicht also durch das Product oder Object, welches sie hervorbringt – würde die Wundermacht etwas absolut Neues, nie Gesehenes, nie Vorgestelltes, auch nicht einmal Erdenkbares verwirklichen, so wäre sie als eine wesentlich andere und zugleich objective Thätigkeit factisch erwiesen – sondern allein durch den Modus, die Art und Weise unterscheidet sich die Wunderthätigkeit von der Thätigkeit der Natur und Vernunft. Allein die Thätigkeit, welche dem Wesen, dem Inhalt nach eine natürliche, sinnliche, nur dem Modus nach eine übernatürliche, übersinnliche ist, diese Thätigkeit ist nur die Phantasie oder Einbildungskraft. Die Macht des Wunders ist daher nichts andres als die Macht der Einbildungskraft.

Die Wunderthätigkeit ist eine Zweckthätigkeit. Die Sehnsucht nach dem verlornen Lazarus, der Wunsch seiner Verwandten, ihn wieder zu besitzen, war der Beweggrund der wunderbaren Erweckung – die That selbst, die Befriedigung dieses Wunsches, der Zweck. Allerdings geschah zugleich das Wunder „zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehret werde,“ aber die Schwestern des Lazarus, die nach dem Herrn schicken mit den Worten: „siehe, den du lieb hast, der liegt krank“ und die Thränen, die Jesus vergoß, vindiciren zugleich dem Wunder einen menschlichen Ursprung und Zweck. Der Sinn ist: der Macht, die selbst Todte erwecken kann, ist kein menschlicher Wunsch unerfüllbar. Die Zweckthätigkeit beschreibt bekanntlich einen Kreis: sie läuft im Ende [169] auf ihren Anfang zurück. Aber die Wunderthätigkeit unterscheidet sich dadurch von der gemeinen Verwirklichung des Zwecks, daß sie einen Zweck ohne Mittel realisirt, daß sie eine unmittelbare Identität des Wunsches und der Erfüllung bewirkt, daß sie folglich einen Kreis beschreibt, aber nicht in krummer, sondern in gerader, folglich der kürzesten Linie. Ein Kreis in gerader Linie ist das mathematische Sinnund Ebenbild des Wunders. So lächerlich es daher wäre, einen Kreis in gerader Linie construiren zu wollen, so lächerlich ist es, das Wunder philosophisch deduciren zu wollen. Das Wunder ist für die Vernunft sinnlos, undenkbar, so undenkbar als ein hölzernes Eisen, ein Kreis ohne Peripherie. Ehe man die Möglichkeit bespricht, ob ein Wunder geschehen kann, zeige man die Möglichkeit, ob das Wunder, d. h. das Undenkbare denkbar ist.

Was dem Menschen die Einbildung der Denkbarkeit des Wunders beibringt, ist, daß das Wunder als eine sinnliche Begebenheit vorgestellt wird und der Mensch daher seine Vernunft durch, zwischen den Widerspruch sich einschiebende, sinnliche Vorstellungen täuscht. Das Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein z. B. sagt in Wahrheit nichts andres als: Wasser ist Wein, nichts andres als die Identität zweier sich absolut widersprechender Prädicate oder Subjecte; denn in der Hand des Wunderthäters ist kein Unterschied zwischen beiden Substanzen; die Verwandlung ist nur die sinnliche Erscheinung von dieser Identität des sich Widersprechenden. Aber die Verwandlung verhüllt den Widerspruch, weil die natürliche Vorstellung der Veränderung sich dazwischen einschiebt. Allein es ist ja keine allmählige, keine natürliche, so zu sagen organische, sondern eine absolute, stofflose Verwandlung – [170] eine reine creatio ex nihilo. In dem geheimniß- und verhängnißvollen Wunderact, in dem Act, der das Wunder zum Wunder macht, ist urplötzlich, ununterscheidbar Wasser Wein – was eben so viel sagen will, als Eisen ist Holz oder ein hölzernes Eisen.

Der Wunderact – und das Wunder ist nur ein flüchtiger Act – ist daher kein denkbarer, denn er hebt das Princip der Denkbarkeit auf – aber eben so wenig ein Object des Sinnes, ein Object wirklicher oder nur möglicher Erfahrung. Wasser ist wohl Gegenstand des Sinnes, auch Wein; ich sehe jetzt wohl Wasser, hernach Wein; aber das Wunder selbst, das was dieses Wasser urplötzlich zum Wein macht, dieß ist, weil kein Naturproceß, ein reines Perfectum ohne vorhergehendes Imperfectum ohne Modus, ohne Mittel und Weise ist, kein Gegenstand wirklicher oder nur möglicher Erfahrung. Das Wunder ist ein Ding der Einbildung – eben deßwegen auch so gemüthlich, denn die Phantasie ist die dem subjectiven Gemüthe allein entsprechende Thätigkeit, weil sie alle Schranken, alle Gesetze, welche dem Gemüthe wehethun, beseitigt, und so dem Menschen die unmittelbare, schlechthin unbeschränkte Befriedigung seiner subjectivsten Wünsche vergegenständlicht 4). Gemüthlichkeit ist die wesentliche Eigenschaft des Wunders. Wohl macht auch das Wunder einen erhabnen, erschütternden Eindruck, insofern als es eine Macht ausdrückt, vor der nichts besteht – die Macht der Phantasie. Aber dieser [171]Eindruck liegt nur in dem vorübergehenden Act des Thuns – der bleibende, wesenhafte Eindruck ist der gemüthliche. In dem Momente, wo der geliebte Todte aufgeweckt wird, erschrecken wohl die umstehenden Verwandten und Freunde über die außerordentliche, allmächtige Kraft, die Todte in Lebende verwandelt; aber in demselben ungetheilten Momente – denn die Wirkungen der Wundermacht sind absolut schnell – wo er aufersteht, wo das Wunder vollbracht ist, da fallen auch schon die Verwandten dem Wiedererstandnen in die Arme und führen ihn unter Freudenthränen nach Hause, um hier ein gemüthliches Fest zu feiern. Aus dem Gemüthe entspringt das Wunder, auf das Gemüth geht es wieder zurück. Selbst in der Darstellung verläugnet es nicht seinen Ursprung. Die adäquate Darstellung ist allein die gemüthliche. Wer sollte in der Erzählung von der Erweckung des Lazarus, des größten Wunders, den gemüthlichen, behaglichen Legendenton verkennen 5)? Gemüthlich ist aber eben das Wunder, weil es, wie gesagt, ohne Arbeit, ohne Anstrengung die Wünsche des Menschen befriedigt. Arbeit ist gemüthlos, ungläubig, rationalistisch; denn der Mensch macht hier sein Dasein abhängig von der Zweckthätigkeit, die selbst wieder lediglich durch den Begriff der gegenständlichen Welt vermittelt ist. Aber das Gemüth kümmert sich nichts um die objective Welt; es geht nicht außer und über sich hinaus; es ist selig in sich. Das Element der Bildung, das nordische Princip der Selbstentäußerung [172] geht dem Gemüthe ab. Die Apostel und Evangelisten waren keine wissenschaftlich gebildete Männer. Bildung überhaupt ist nichts andres als die Erhebung des Individuums über seine Subjectivität zur objectiven universalen Anschauung, zur Anschauung der Welt. Die Apostel waren Volksmänner; das Volk lebt nur in sich, im Gemüthe; darum siegte das Christenthum über die Völker. Vox populi vox Dei. Hätte das Christenthum über einen Philosophen, einen Geschichtschreiber, einen Dichter der classischen Zeit gesiegt? Die Philosophen, die zum Christenthum übergingen, waren schwache, schlechte Philosophen. Alle diejenigen, die noch classischen Geist in sich hatten, waren feindselig oder doch gleichgültig gegen das Christenthum. Der Untergang der Bildung war identisch mit dem Sieg des Christenthums. Der classische Geist, der Geist der Bildung ist der sich selbst durch Gesetze – freilich nicht willkührliche, endliche, sondern wahrhafte, an und für sich gültige Gesetze beschränkende, durch die Nothwendigkeit, die Wahrheit der Natur der Dinge Gefühl und Phantasie bestimmende, kurz der objective Geist. An die Stelle dieses Geistes trat mit dem Christenthum das Princip der unbeschränkten, maaßlosen, über­schwänglichen, supranaturalistischen Subjectivität – ein in seinem innersten Wesen dem Princip der Wissenschaft, der Bildung entgegengesetztes Princip 6). Mit dem Christenthum verlor der Mensch [173] den Sinn, die Fähigkeit, sich in die Natur, das Universum hineinzudenken. So lange das wahre, ungeheuchelte, unverfälschte, rücksichtslose Christenthum existirte, so lange das Christenthum eine lebendige, praktische Wahrheit war, so lange geschahen wirkliche Wunder, und sie geschahen nothwendig, denn der Glaube an todte, historische, vergangne Wunder ist selbst ein todter Glaube, der erste Ansatz zum Unglauben oder vielmehr die erste und eben deßwegen schüchterne, unwahre, unfreie Weise, wie der Unglaube an das Wunder sich Luft macht. Aber wo Wunder geschehen, da verfließen alle bestimmten Gestalten in den Nebel der Phantasie und des Gemüths; da ist die Welt, die Wirklichkeit Nichts, da ist das objective, wirkliche Wesen allein das wunderthätige, gemüthliche, d. i. subjective Wesen.

Für den bloßen Gemüthsmenschen ist unmittelbar, ohne daß er es will und weiß, die Einbildungskraft die höchste Thätigkeit, die ihn beherrschende; als die höchste, die Thätigkeit Gottes, die schöpferische Thätigkeit. Sein Gemüth ist ihm eine unmittelbare Wahrheit und Realität; so real ihm das Gemüth ist – und es ist ihm das Realste, Wesenhafteste; er [174] kann nicht von seinem Gemüthe abstrahiren, nicht darüber hinaus – so real ist ihm die Einbildung. Die Phantasie oder Einbildungskraft, (die hier nicht unterschieden werden, obwohl an sich verschieden) ist ihm nicht so, wie uns Verstandesmenschen, die wir sie als die subjective von der objectiven Anschauung unterscheiden, Gegenstand; sie ist unmittelbar mit ihm selbst, mit seinem Gemüthe identisch, und als identisch mit seinem Wesen, seine wesentliche, gegenständliche, nothwendige Anschauung selbst. Für uns ist wohl die Phantasie eine willkührliche Thätigkeit, aber wo der Mensch das Princip der Bildung, der Weltanschauung nicht in sich aufgenommen, wo er nur in seinem Gemüthe lebt und webt, da ist die Phantasie eine unmittelbare, unwillkührliche Thätigkeit.

Die Erklärung der Wunder aus Gemüth und Phantasie gilt Vielen heutigen Tags freilich für oberflächlich. Aber man denke sich hinein in die Zeiten, wo noch lebendige, gegenwärtige Wunder geglaubt wurden, wo die Realität der Dinge außer uns noch kein geheiligter Glaubensartikel war, wo die Menschen so abgezogen von der Weltanschauung lebten, daß sie tagtäglich dem Untergang der Welt entgegen sahen, wo sie nur lebten in der wonnetrunknen Aussicht und Hoffnung des Himmels, also in der Einbildung – denn mag der Himmel sein, was er will, für sie wenigstens existirte er, so lange sie auf Erden waren, nur in der Einbildungskraft – wo diese Einbildung keine Einbildung, sondern Wahrheit, ja die ewige, allein bestehende Wahrheit, nicht ein thatloses müßiges Trostmittel nur, sondern ein praktisches, die Handlungen bestimmendes Moralprin­cip war, welchem die Menschen mit Freuden das wirkliche Leben, die wirkliche Welt mit [175] allen ihren Herrlichkeiten zum Opfer brachten – man denke sich da hinein und man muß in der That selbst sehr oberflächlich sein, wenn man die psychologische Genesis für oberflächlich erklärt. Kein stichhaltiger Einwand ist es, daß diese Wunder im Angesicht ganzer Versammlungen geschehen sind oder geschehen sein sollen: Keiner war bei sich, Alle erfüllt von überschwänglichen, supranaturalistischen Vorstellungen, Empfindungen; Alle beseelte derselbe Glaube, dieselbe Hoffnung, dieselbe Phantasie. Wem sollte es aber unbekannt sein, daß es auch gemeinschaftliche oder gleichartige Träume, gemeinschaftliche oder gleichartige Visionen gibt, zumal bei gemüthlichen, in und auf sich beschränkten, enge zusammenhaltenden Individuen? Doch dem sei wie es wolle. Ist die Erklärung der Wunder aus Gemüth und Phantasie oberflächlich, so fällt die Schuld der Oberflächlichkeit nicht auf den Erklärer, sondern auf den Gegenstand selbst – auf das Wunder; denn das Wunder drückt, bei Lichte besehen, eben gar nichts weiter aus, als die Zaubermacht der Phantasie, die ohne Widerspruch alle Wünsche des Herzens erfüllt.

 

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1) Talis quippe homo est, qui simul est Deus, Qui contra conditiones corporis humani, clausas fores Penetravit, omnibus Euclideis demonstrationibus Contemptis, qui lapidem sepulchralem transivit, Aristotele Longum valere jusso, qui aquis marinis non aliter ac terrae solo inambulavit, omnibus Philosophis neglectis. N. Frischlini Phasma. Act. III. Sc. III. S. hierüber auch im Anhang. Es ist daher unverzeihliche Willkühr, wenn die speculative Theologie das Wunder als etwas dem Glauben Aeußerliches auf die Seite setzt. Allerdings ist das äußerliche factische Wunder als solches nur ein Phänomen, aber ein Phänomen von dem innersten Wesen des Glaubens. 

2) Dieser Glaube ist der Bibel so wesentlich, daß sie ohne ihn gar nicht begriffen werden kann. Die Stelle 2. Petri 3, 8. spricht nicht, wie dieß aus dem ganzen Capitel hervorgeht, gegen einen nahen Untergang, denn wohl sind 1000 Jahre wie ein Tag vor dem Herrn, aber auch ein Tag wie 1000 Jahre, und die Welt kann daher schon morgen nicht mehr sein. Daß überhaupt in der Bibel ein sehr nahes Weltende erwartet und prophezeiht, obgleich nicht Tag und Stunde bestimmt wird, kann nur ein Lügner oder ein Blinder läugnen. S. hierüber auch Lützelberger's Schriften. 

3) 1. Mose 18, 14. 

4) Freilich ist diese Befriedigung – eine Bemerkung, die sich übrigens von selbst versteht – insofern beschränkt, als sie an die Religion, den Glauben an Gott gebunden ist. Aber diese Beschränkung ist in Wahrheit keine Beschränkung, denn Gott selbst ist das unbeschränkte, das absolut befriedigte, in sich gesättigte Wesen des menschlichen Gemüthes. 

5) Die Legenden des Katholicismus – natürlich nur die bessern, wahrhaft gemüthlichen – sind gleichsam nur das Echo von dem Grundton, der schon in dieser neutestamentlichen Erzählung herrscht. – Das Wunder könnte man füglich auch definiren als den religiösen Humor. Besonders hat der Katholicismus das Wunder von dieser seiner humoristischen Seite ausgebildet. 

6) Bildung in dem Sinne, in dem sie hier genommen wird. Weltbildung wäre der richtige Ausdruck, wenn dieser nicht im Sprachgebrauch eine zu gemeine und oberflächliche Bedeutung erhalten hätte. – Höchst charakteristisch für das Christenthum – ein populärer Beweis des Gesagten – ist es, daß nur die Sprache der Bibel, nicht die eines Sophokles oder Plato, also nur die unbestimmte gesetzlose Sprache des Gemüths, nicht die Sprache der Kunst und Philosophie für die Sprache, die Offenbarung des göttlichen Geistes im Christenthum galt und heute noch gilt. – Aber waren denn nicht viele Kirchenväter, wie z. B. Tertullian, Clemens A., Hieronymus, Origenes sehr gelehrte Leute? Verdanken wir nicht ihnen sogar viele Kenntnisse des heidnischen Alterthums? Wer wird dieß läugnen? Aber ist der ein Freund und Beförderer des Pietismus, der die Tractätlein der Pietisten sammelt und citirt, um sie zu prostituiren? Nur auf den wissenschaftlichen Sinn allein kommt es an. Aber diesen sollten sie auch ihrer Zeit und Bestimmung nach nicht haben. Richtig; aber sie konnten auch ihrem Grundprincip nach keinen haben. – Wenn die Concilien von den Geistlichen Kenntnisse verlangen, so verstehen sie darunter natürlich immer nur kirchliche oder theologische Kenntnisse.