BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Annette von Droste-Hülshoff

1797 - 1848

 

Das geistliche Jahr

 

An meine liebe Mutter

 

______________________________________________________________________________

 

 

 

Du weißt, liebste Mutter, wie lange die Idee dieses Buchs in meinem Kopfe gelebt hat, bevor ich sie außer mir darzustellen vermochte, der betrübte Grund liegt sehr nahe, in dem Unsinne dem ich mich recht wissentlich hingab, da ich es unternahm, eine der reinsten Seelen die noch unter uns sind, zu allen Stunden in Freud' und Leid vor Gott zu führen, da ich doch deutlich fühlte, wie ich nur von sehr wenigen Augenblicken ihres frommen Lebens eine Ahndung haben könne, und wohl eben nur von jenen, wo Sie selbst nachher nicht recht weiß, ob Sie zu den guten oder bösen zu zählen, es würde somit fast freventlich gewesen sein, bei so heiligen Dingen mich in vergeblichen Versuchen, ich möchte sagen, herumzutummeln, wenn nicht der Gedanke, daß die liebe Großmutter ja grade in jenen Augenblicken nur allein eines äußeren Hülfsmittels etwa bedürfe, indeß in ihren reineren Stunden alles Hinzugethane gewiß überflüssig oder störend, und wo Sie sich dessen etwa aus Demuth bedient, auch das gelungenste Lied von mir ihr nicht jene alten rührenden Verse ersetzen könne, an denen das Andenken ihrer frommen verstorbenen Eltern und liebsten Verwandten hängt, wenn nicht, sage ich, dieser Gedanke mich zu den mehrmaligen Versuchen verleitet hätte, die so mißlungen sind, als sie gar nicht anders werden konnten.

Kein Schwachkopf, der plötzlich zum König wird, kann bedrängter sein, als ich im Gefühl der Ohnmacht, wenn ich Heiligthümer offenbaren sollte, die ich nur dem Namen nach kannte, und deren Kunde mir Gott dereinst geben wolle!

So habe ich geschrieben, immer im Gefühl der äußersten Schwäche, und oft wie des Unrechts, und erst seitdem ich mich von dem Gedanken, für die Großmutter zu schreiben völlig frei gemacht, habe ich rasch und mit mannigfachen, aber immer erleichternden Gefühlen gearbeitet, und, so Gott will, zum Segen. – Die wenigen zu jener mißlungenen Absicht verfertigten Lieder habe ich ganz verändert, oder wo dieses noch zu wenig war, vernichtet, und mein Werk ist jetzt ein betrübendes aber vollständiges Ganze, nur schwankend in sich selbst, wie mein Gemüth in seinen wechselnden Stimmungen.

So ist dies Buch in deiner Hand! – Für die Großmutter ist und bleibt es völlig unbrauchbar, so wie für alle sehr fromme Menschen, denn ich habe ihm die Spuren eines vielfach gepreßten und getheilten Gemüthes mitgeben müssen, und ein kindlich in Einfalt frommes würde es nicht einmal verstehn, auch möchte ich es auf keine Weise vor solche reine Augen bringen, denn es giebt viele Flecken, die eigentlich zerrissene Stellen sind, wo eben die mildesten Hände am härtesten hingreifen, und viele Herzen die keinen Richter haben, als Gott, der sie gemacht hat.

Daß mein Buch nicht für ganz schlechte, im Laster verhärtete Menschen paßt, brauchte ich eigentlich nicht zu sagen, wenn ich auch eins für dergleichen schreiben könnte, so würde ich es doch unterlassen.

Es ist für die geheime, aber gewiß sehr verbreitete Sekte jener, bei denen die Liebe größer wie der Glaube, für jene unglücklichen aber thörichten Menschen, die in einer Stunde mehr fragen, als sieben Weise in sieben Jahren beantworten können.

Ach! es ist so leicht eine Thorheit zu rügen; aber Besserung ist überall so schwer, und hier kann es mir oft scheinen, als ob ein immer erneuertes Siegen in immer wieder auflebenden Kämpfen das einzig zu Erringende, und ein starres Hinblicken auf Gott, in Hoffnung der Zeit aller Aufschlüsse, das einzig übrige Rathsame sei; d.h. ohne eine besondere wunderbare Gnade Gottes, die auch das heißeste Gebet nicht immer herabruft. – Ich darf hoffen, daß meine Lieder vielleicht manche verborgne kranke Ader treffen werden, denn ich habe keinen Gedanken geschont, auch den geheimsten nicht. – Ob sie Dir gefallen, muß ich dahin gestellt sein lassen, ich habe für keinen einzelnen geschrieben, ich denke es indeß, und wünsche es sehnlichst, da sie als das Werk deines Kindes dein natürliches Eigenthum sind, sollte ich jedoch hierin meinen Zweck verfehlen, so muß mich das alte Sprichwort rechtfertigen: „Ein Schelm, der mehr giebt als er hat.“

 

Hülshoff, den 9ten Oktober 1820