BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Annette von Droste-Hülshoff

1797 - 1848

 

Gedichte

 

1838

 

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Fragment

[der Einleitung zum

später verworfenen dritten

Gesang des «St. Bernhard»]

entstanden 1834/35

 

Savoyen, Land beschnei'ter Höhn,

Wer hat dein kräftig Bild geseh'n,

Wer trat in deiner Wälder Nacht,

Sah auf zu deiner Wipfel Pracht,

5

Wer stand an deinem Wasserfall,

Wer lauschte deiner Ströme Hall,

Und nannte dich nicht schön?

Du Land des Volks, dem Reiche weihen

Ruhmvoll den Namen des getreuen,

10

Bist herrlich, wenn der Frühlingssturm

Die Berggewässer schäumend führt,

Und deiner Fichte schlanker Thurm

Sich mit der jungen Nadel ziert;

Bist reizend, wenn die Sommerglut

15

Erzittert um den Mandelbaum;

Doch in des Herbstes goldner Flut

Du ruhst gleich dunkeln Auges Traum.

Dann treibt der Wind kein rasselnd Laub

Durch brauner Haiden Wirbelstaub;

20

Wie halb bezwungne Seufzer wallen,

Nur leis' die zarten Nadeln fallen,

Als wagten sie zu flüstern kaum.

 

Der Tag bricht an; noch einsam steht

Das Sonnenrund am Firmament;

25

Am Strahl, der auf und nieder streicht,

Gemach der Erdbeerbaum entbrennt;

Noch will das Genzian nicht wagen

Die dunkeln Wimpern aufzuschlagen;

Noch schläft die Luft im Nebel dicht.

30

Welch' greller Schrei die Stille bricht?

Der Auerhahn begrüßt das Licht;

Er schaukelt, wiegt sich, macht sich breit,

Er putzt sein stattlich Federkleid,

Und langsam streckt ihr stumpf Gesicht

35

Marmotte aus hohlen Baumes Nacht:

Das Leben, Leben ist erwacht;

Die Geier pfeifen, Birkhahn ruft,

Schneehühner flattern aus der Kluft;

Die Fichten selbst, daß keiner säume,

40

Erzählen flüsternd sich die Träume.

Und durch Remi geht überall

Ein dumpf Gemurr von Stall zu Stall.