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30.
Anweisung des modernen Künstlers
zum guten Geschmacke.
Von Raphael Mengs (1728 - 1779).
Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei. (Zuerst Zürich 1762) Kapitel II, § 7. [Im Wortlaut von Cauer etwas überarbeitet, vgl. dazu den Text der 3. Auflage, 1771 im Internet Archive.]
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Zwei Wege sind, auf welchem man zum guten Geschmacke kommt, wenn man darauf geht von der Vernunft begleitet, der eine ist schwerer als der andere. Der schwerste ist, aus der Natur selbst das Notwendigste und Schönste zu wählen; der andere und leichtere ist, aus den Werken, wo die Wahl schon geschehen, zu erlernen.
Durch den erstem Weg haben die Alten die Vollkommenheit, nämlich Schönheit und guten Geschmack gefunden; die meisten nach den obgesagten drei Lichtern [Corregio, Tizian, Raphael] haben den guten Geschmack auf die letzte Weise gefunden. Diese drei aber haben ihn teils auf die erste, teils auf eine mittlere Art erlanget, nämlich durch die Natur und Nachahmung zugleich. Den guten Geschmack durch die Natur zu finden, ist viel schwerer als durch die Nachahmung, weil zu diesen Weg eine Art philosophischer Verstand gehört, um recht zu urteilen, was in der Natur gut, besser, und das beste ist; da in der Nachahmung dieses leichter zu finden, indem wir der Menschen Werke leichter als die Werke der Natur begreifen können. Will man aber die rechte Art Nachahmung finden, so muß man sich dieser nicht mißbrauchen, sondern über die Werke der großen Meister ebenso denken und urteilen wie jene über die Natur geurteilt haben, sonst wird man an der Schale kauen, und die Ursache der Schönheit ihrer Werke nicht begreifen lernen.
Wie aber der Mensch von seiner Geburt an sehr schwach, und in der Kindheit so genährt werden muß, wie die Natur es vertragen kann, bis er durch die Reife stark genug worden, sich der härtesten Speise zur Nahrung zu bedienen: ebenso muß in der Erlernung einer Kunst mit dem Schüler, mit dem schwachen Gehirne des Unwissenden umgegangen werden; es sollen ihm nicht gleich die härtesten Speisen, die stärksten Getränke, nämlich die schwersten Sachen und höchsten Begriffe vorgelegt werden, sonst würde sein Verstand entweder irrig und dumm, oder hochmütig werden, weil die Schüler leicht glauben, sie wissen alles, wenn es ihnen der Meister gesagt hat. Ein Schüler soll erstlich mit der reinsten Milch der Kunst genährt werden, nämlich mit den vollkommensten Werken der großen Meister; deswegen will ich auch hieher erst setzen, wie man von der großen Meister Werken denken und dieselben betrachten soll.
Erstlich soll der Schüler nur die besten Sachen vor sich nehmen, und nie etwas Garstiges leiden noch besehen, viel weniger nachmachen; die schönen Sachen soll er aber nur richtig, ohne viel die Ursachen, warum sie schön sind, zu suchen, im Anfange nachmachen; dadurch wird er die Richtigkeit des Auges, das nötigste Werkzeug der ganzen Kunst, erwerben. Ist er so weit gekommen, daß er dieses besitzt, alsdann soll er anfangen, über die Werke der größten Meister mit Urteil zu denken, und ihre Ursachen erforschen.
Corregio, Tizian, Raphael
Dieses geschieht also: der Maler besehe zum Exempel alle Werke Raphaels, Tizians und Corregios und betrachte, was er Schönes in jedem Stücke findet; findet er in allen Werken jedes Meisters einige Sachen allezeit gut beobachtet und schön gemacht, so ist dieses ein Zeichen, daß besagte Teile die Hauptabsicht und Wahl des Meisters gewesen: Wenn er aber Teile in einigen Stücken findet, in andern nicht, so ist das ein Zeichen, daß in diesen Teilen nicht die Stärke des Meisters besteht, und sie also nicht seine Absicht, noch Geschmack gewesen, und darum also auch nicht die Ursachen der Schönheit seiner Werke und seines Geschmackes sind.
In der Malerei sind aber zwei Teile, worin Schönheit zu bezeichnen ist, nämlich Form und Farben: zur Form gehört auch Licht und Schatten; durch die Form werden alle Bedeutungen der Regursachen bezeichnet, durch Farben die Eigenschaften. Regursachen nenne ich alle menschlichen Leidenschaften, Eigenschaften aber alles, was man weich, hart, feucht, trocken, und dergleichen nennt. Also sage ich zum Exempel: Raphael hat diese Bedeutungen aufs höchste besessen und diese sind Ursache seiner Schönheit: diese findet man in allen seinen Werken, in den schönsten und in den schlechtesten. Obgleich er in seinen besten Gemälden die Regeln von Licht und Schatten und des Kolorits gut beobachtet hat, so gründen sich diese Schönheiten nicht auf Überlegung, sondern sind die Früchte der Nachahmung der Natur. Folglich ist in seinen Werken der Teil der Bedeutung zu betrachten und zu erlernen. Die Vollkommenheit der Bedeutung besteht darin, daß zum Exempel ein zorniger, ein fröhlicher, ein trauriger Mensch – und so durch alle Leidenschaften – nichts anderes als eben das bedeuten könne, und mit solcher Stärke und Maß, als es in jeder Geschichte nötig ist, damit man in einem Werke durch die Gestalten die Geschichte erkenne, nicht aber durch die Geschichte nur die Bedeutungen finde.
So betrachte man die Werke des Corregio, man wird in ihnen mehr Annehmlichkeit als in aller andrer Meister Werken finden; es muß also der Maler wissen, welcher Teil der Malerei die höchsten Annehmlichkeiten verursache. Die Malerei wird durch die Augen angenehm, die Augen aber finden in der Ruhe ihr Vergnügen; diese Ruhe der Augen zu verursachen, und zu schmeicheln ist kein Teil der Malerei tauglicher als Licht und Schatten und Harmonie, und diese waren der Teil des Corregio. Man betrachte alle seine Werke um in allen diese Teile beobachtet zu finden. Indem er die Ruhe der Augen suchte, fand er auch die Großheit der Formen, weil alles Kleine die Augen mehr als das Große bemüht, und dieses war die Ursache seiner ganzen Schönheit. So suchte Tizian die Wahrheit, nicht aber auf demselben Wege wie Raphael: Raphael bildete den ganzen Menschen, hauptsächlich aber die Seele, und die Ursache des Menschen und der menschlichen Wirkungen; Tizian aber suchte die Wahrheit in der Materie des Menschen, und aller anderer Sachen. Darum befliß er sich, aller Dinge Eigenschaft und Sein zu bedeuten, durch Farben derselben, dazu kam er auch: in seinen Weren hat jede Sache die Farbe, die sie haben soll. Sein Fleisch scheint Blut, Fett, Feuchtigkeit, auch Sehnen und Adern zu haben, und bringt uns dadurch dn großen Schein der Wahrheit zuwege. Dies ist also der Teil, den man in ihm zu suchen hat, und allezeit in seinen Werken, in schönen und geringern, auch finden wird. Dieses waren die Ursachen der Wirkungen und Schönheiten dieser drei großen Leute, und auf diese Weise soll man auch in allen großen Meistern die Ursache ihrer Schönheit untersuchen; ich aber habe den Weg dieser Untersuchung gezeigt, wenn ich sagte: daß man betrachten solle, was ein Meister allezeit beobachtet, was sich in allen seinen Werken findet. Dadurch kommt man zur Erkenntnis ihrer Ursachen, diese Ursachen aber kommen von ihrem natürlichen Gefühl.
Ich will aber auch etwas darüber sagen, auf welche Weise sie sich diese Gefühle zu einem eigenen Geschmacke gemacht: sie waren kluge Leute und hatten, wie ich oben gesagt, eine Art philosophischen Verstand; sie erkannten daß ein Mensch nicht in allen Stücken vollkommen sein könnte, und weil sie das einsahen , so wählten sie jeder den Teil, worin sie glaubten, daß die höchste Vollkommenheit der Kunst bestünde, und wodurch sie, erstlich sich selbst, und in der Folge andere rühren und ihnen gefallen könnten. Also hatten alle drei eine gleiche Absicht, nämlich zu gefallen und zu rühren, niemand kann aber durch materielle Werke rühren, er bringe denn in selbige die Ursache die ihn bewegte, und muß er also von gleicher Sache in der Natur gerührt worden sein. Das ist der Fall dieser Meister, sie zeigten, was sie gefühlt hatten: daß aber jeder von ihnen auf verschiedene Teile gefallen, und jeder einen andern Teil gewählt hat, kommt von ihrem natürlichen Temperamente. In Raphael muß ein gemäßigtes Gefühl nebst gährendem Geiste gewesen sein, welche in ihm immer bedeutende Gedanken erzeugt und dadurch bewirkt, daß ihm auch alles Bedeutende mehr gefallen; in Corregio ein sehr sanfter und weichlicher Geist, der ihm vor allem zu Scharfen und zu Bedeutenden einen Abscheu erregt, und dadurch ihn alles Angenehme und Sanfte erwählen lassen. Tizian aber muß weniger Geist als diese zwei gehabt, und wie jedes sein Gleiches fühlt, er dadurch auch mehr die Materie als das Geistige der Natur gefühlt haben. Also bleibt allemal Raphael der größte.
Ich habe im Anfange gesaget, der Geschmack komme daher, daß, wenn man diese oder jene Teile erwählt, man diejenigen, welche nicht die erforderlichen Eigenschaften besitzen, verwerfe oder auslasse; denn der Geschmack der Künste ist in diesem Stücke dem Geschmacke des Gaumens ähnlich, wie man sauer, süß, und bitter nur dasjenige heißt, welches keinen andern Geschmack als diesen allein oder wenigstens in der vorzüglichsten Stärke hat; so heißt auch in der Kunst, eine Sache von angenehmem, von wahrem, von bedeutendem und jedem andern Geschmacke, wenn diese Teile sich nicht miteinander verwirren, sondern einer derselben hauptsächlich darin herrscht, und die ihm unnütz, aus dem Werke verworfen sind. So hat Raphael in der Erfindung seiner Werke gleich bei der Bedeutung angefangen, und zwar so, daß er kein Glied geregt wenn es nicht von nöten gewesen und etwas bedeuten sollen, ja auch in jeder Figur und in jedem Gliede keinen Strich gemacht ohne einen Grund, der zur Hauptbedeutung diente; von der Erschaffung der Menschen an bis auf die geringste Regung dient alles in seinen Werken zu einer Hauptursache: also da er alles Unbedeutende verworfen, so ist er voller bedeutender Schmackhaftigkeit. Die Ursache aber, warum Raphaels Werke nicht einem jeden so bald wie andre Werke gefallen, ist, daß seine Schönheiten Schönheiten der Vernunft und nicht der Augen sind, also erst alsdann durch das Gesicht gefühlt werden, wenn sie den Verstand gerührt haben. Da nun viele Menschen den Verstand von sehr schwachem Gefühle haben, so fühlen sie oft die Schönheiten dieses Malers gar nicht. Da nun Raphael sich die Bedeutung zum Hauptvorwurfe genommen, so hat er auch in jedes Bild, nachdem es die Geschichte verlangte, eine andere und unterschiedene Bedeutung gebracht, und da er diese Bedeutung in allen Teilen der Malerei gehabt, wie ich hiernächst sagen werde, so hat er die Bedeutung zu einem sich eigenen Geschmacke gemacht. Eben auf gleiche Weise, nämlich durch Auslassung alles dessen, was nicht zum Hauptzwecke nötig war, erwarb Corregio den Geschmack der Holdseligkeit, und Tizian den der Wahrheit.
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