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24.
Über Wahrheit und
Wahrscheinlichkeit der
Kunstwerke.
Ein Gespräch.
Von Goethe (1749 - 1832).
Propyläen. Ersten Bandes erstes Stück. 1798. In der Hempelschen Ausgabe Bd. 28. S. 93ff.
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Auf einem deutschen Theater ward ein ovales, gewissermaßen amphitheatralisches Gebäude vorgestellt, in dessen Logen viele Zuschauer gemalt sind, als wenn sie an dem, was unten vorgeht, Teil nähmen. Manche wirkliche Zuschauer im Parterre und in den Logen waren damit unzufrieden, und wollten übel nehmen, daß man ihnen so etwas unwahres und unwahrscheinliches aufzubinden gedächte. Bei dieser Gelegenheit fiel ein Gespräch vor, dessen ohngefährer Inhalt hier aufgezeichnet wird.
Der Anwalt des Künstlers.
Lassen Sie uns sehen, ob wir uns nicht einander auf irgend einem Wege nähern können?
Der Zuschauer.
Ich begreife nicht, wie Sie eine solche Vorstellung entschuldigen wollen.
Anwalt.
Nicht wahr, wenn Sie ins Theater gehen, so erwarten Sie nicht, daß alles, was Sie drinnen sehen werden, wahr und wirklich sein soll?
Zuschauer.
Nein! ich verlange aber, daß mir wenigstens alles wahr und wirklich scheinen solle.
Anwalt.
Verzeihen Sie, wenn ich in Ihre eigne Seele leugne, und behaupte: Sie verlangen das keinesweges.
Zuschauer.
Das wäre doch sonderbar! Wenn ich es nicht verlangte, warum gäbe sich denn der Dekorateur die Mühe, alle Linien aufs genaueste nach den Regeln der Perspektiv zu ziehen, alle Gegenstände nach der vollkommensten Haltung zu malen? warum studierte man aufs Kostüm? warum ließe man sich es soviel kosten ihm treu zu bleiben, um dadurch mich in jene Zeiten zu versetzen? Warum rühmt man den Schauspieler am meisten, der die Empfindungen am wahrsten ausdruckt, der in Rede, Stellung und Gebärden der Wahrheit am nächsten kommt, der mich täuscht, daß ich nicht eine Nachahmung sondern die Sache selbst zu sehen glaube?
Anwalt.
Sie drücken Ihre Empfindungen recht gut aus, nur ist es schwerer als Sie vielleicht denken, recht deutlich einzusehen, was man empfindet. Was werden Sie sagen, wenn ich Ihnen einwende, daß Ihnen alle theatralische Darstellungen keinesweges wahr scheinen, daß Sie vielmehr nur einen Schein des Wahren haben?
Zuschauer. Ich werde sagen: daß Sie eine Subtilität vorbringen, die wohl nur ein Wortspiel sein könnte.
Anwalt. Und ich darf Ihnen darauf versetzen: daß, wenn wir von Wirkungen unsers Geistes reden, keine Worte zart und subtil genug sind, und daß Wortspiele dieser Art selbst ein Bedürfnis des Geistes anzeigen, der, da wir das, was in uns vorgeht, nicht geradezu ausdrücken können, durch Gegensätze zu operieren, die Frage von zwei Seiten zu beantworten, und so gleichsam die Sache in die Mitte zu fassen sucht.
Zuschauer.
Gut denn! nur erklären Sie sich deutlicher, und, wenn ich bitten darf, in Beispielen.
Anwalt.
Die werde ich leicht zu meinem Vorteil aufbringen können. Z. B. also wenn Sie in der Oper sind, empfinden Sie nicht ein lebhaftes vollständiges Vergnügen?
Zuschauer.
Wenn alles wohl zusammenstimmt, eines der vollkommensten, deren ich mir bewußt bin.
Anwalt.
Wenn aber die guten Leute da droben, singend sich begegnen und bekomplimentieren, Billets absingen die sie erhalten, ihre Liebe, ihren Haß, alle ihre Leidenschaften singend darlegen, sich singend herum schlagen, und singend verscheiden, können Sie sagen, daß die ganze Vorstellung, oder auch nur ein Teil derselben, wahr scheine? ja ich darf sagen auch nur einen Schein des Wahren habe?
Zuschauer.
Fürwahr, wenn ich es überlege, so getraue ich mich das nicht zu sagen. Es kommt mir von allem dem freilich nichts wahr vor.
Anwalt.
Und doch sind Sie dabei völlig vergnügt und zufrieden.
Zuschauer.
Ohne Widerrede. Ich erinnre mich zwar noch wohl, wie man sonst die Oper, eben wegen ihrer groben Unwahrscheinlichkeit, lächerlich machen wollte, und wie ich von jeher demohngeachtet das größte Vergnügen dabei empfand, und immer mehr empfinde, je reicher und vollkommner sie geworden ist.
Anwalt.
Und fühlen Sie sich nicht auch in der Oper vollkommen getäuscht?
Zuschauer.
Getäuscht, das Wort möchte ich nicht brauchen - und doch ja - und doch nein!
Anwalt.
Hier sind Sie ja auch in einem völligen Widerspruch, der noch viel schlimmer als ein Wortspiel zu sein scheint.
Zuschauer.
Nur ruhig, wir wollen schon ins Klare kommen.
Anwalt.
Sobald wir im Klaren sind, werden wir einig sein. Wollen Sie mir erlauben auf dem Punkt, wo wir stehen, einige Fragen zu tun.
Zuschauer.
Es ist Ihre Pflicht, da Sie mich in diese Verwirrung hineingefragt haben, mich auch wieder heraus zu fragen.
Anwalt.
Sie möchten also die Empfindung, in welche Sie durch eine Oper versetzt werden, nicht gerne Täuschung nennen.
Zuschauer.
Nicht gern, und doch ist es eine Art derselben, etwas das ganz nahe mit ihr verwandt ist.
Anwalt.
Nicht wahr, Sie vergessen beinah sich selbst?
Zuschauer.
Nicht beinahe, sondern völlig, wenn das Ganze oder der Teil gut ist.
Anwalt.
Sie sind entzückt?
Zuschauer.
Es ist mir mehr als einmal geschehen.
Anwalt.
Können Sie wohl sagen, unter welchen Umständen?
Zuschauer.
Es sind so viele Fälle, daß es mir schwer sein würde sie aufzuzählen.
Anwalt.
Und doch haben Sie es schon gesagt; gewiß am meisten, wenn alles zusammenstimmte.
Zuschauer.
Ohne Widerrede.
Anwalt.
Stimmte eine solche vollkommne Aufführung mit sich selbst, oder mit einem andern Naturprodukt zusammen?
Zuschauer.
Wohl ohne Frage, mit sich selbst.
Anwalt.
Und die Übereinstimmung war doch wohl ein Werk der Kunst?
Zuschauer.
Gewiß.
Anwalt.
Wir sprachen vorher der Oper eine Art Wahrheit ab; wir behaupteten, daß sie keinesweges das, was sie nachahmt, wahrscheinlich darstelle; können wir ihr aber eine innere Wahrheit, die aus der Konsequenz eines Kunstwerks entspringt, ableugnen?
Zuschauer.
Wenn die Oper gut ist, macht sie freilich eine kleine Welt für sich aus, in der alles nach gewissen Gesetzen vorgeht, die nach ihren eignen Gesetzen beurteilt, nach ihren eignen Eigenschaften gefühlt sein will.
Anwalt.
Sollte nun nicht daraus folgen, daß das Kunstwahre und das Naturwahre völlig verschieden sei, und daß der Künstler keinesweges streben sollte, noch dürfe, daß sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine.
Zuschauer.
Aber es scheint uns doch so oft als ein Naturwerk.
Anwalt.
Ich darf es nicht leugnen. Darf ich dagegen aber auch aufrichtig sein?
Zuschauer. Warum das nicht! Es ist ja doch unter uns diesmal nicht auf Komplimente angesehen.
Anwalt.
So getraue ich mir zu sagen: nur dem ganz ungebildeten Zuschauer kann ein Kunstwerk als ein Naturwerk erscheinen, und ein solcher ist dem Künstler auch lieb und wert, ob er gleich nur auf der untersten Stufe steht. Leider aber nur so lange, als der Künstler sich zu ihm herabläßt, wird jener zufrieden sein, niemals wird er sich mit dem echten Künstler erheben, wenn dieser den Flug, zu dem ihn das Genie treibt, beginnen, sein Werk im ganzen Umfang vollenden muß.
Zuschauer.
Es ist sonderbar, doch läßt sichs hören.
Anwalt.
Sie würden es nicht gern hören, wenn Sie nicht schon selbst eine höhere Stufe erstiegen hätten.
Zuschauer.
Lassen Sie mich nun selbst einen Versuch machen, das Abgehandelte zu ordnen und weiter zu gehen, lassen Sie mich die Stelle des Fragenden einnehmen.
Anwalt.
Desto lieber.
Zuschauer.
Nur dem ungebildeten, sagen Sie, könne ein Kunstwerk als ein Naturwerk erscheinen.
Anwalt.
Gewiß, erinnern Sie sich der Vögel, die nach des großen Meisters Kirschen flogen.
Zuschauer.
Nun, beweist das nicht, daß diese Früchte fürtrefflich gemalt waren?
Anwalt.
Keineswegs, vielmehr beweist mir, daß diese Liebhaber echte Sperlinge waren.
Zuschauer.
Ich kann mich doch deswegen nicht erwehren, ein solches Gemälde für fürtrefflich zu halten.
Anwalt.
Soll ich Ihnen eine neuere Geschichte erzählen?
Zuschauer.
Ich höre Geschichten meistens lieber als Raisonnement.
Anwalt.
Ein großer Naturforscher besaß, unter seinen Haustieren, einen Affen, den er einst vermißte, und nach langem Suchen in der Bibliothek fand. Dort saß das Tier an der Erde, und hatte die Kupfer eines ungebundnen, naturgeschichtlichen Werkes um sich her zerstreut. Erstaunt über dieses eifrige Studium des Hausfreundes, nahte sich der Herr, und sah zu seiner Verwunderung und zu seinem Verdruß, daß der genäschige Affe die sämtlichen Käfer, die er hie und da abgebildet gefunden, herausgespeist habe.
Zuschauer.
Die Geschichte ist lustig genug.
Anwalt.
Und passend hoffe ich. Sie werden doch nicht diese illuminierten Kupfer dem Gemälde eines so großen Künstlers an die Seite setzen.
Zuschauer.
Nicht leicht.
Anwalt.
Aber den Affen doch unter die ungebildeten Liebhaber rechnen.
Zuschauer.
Wohl, und unter die gierigen dazu. Sie erregen in mir einen sonderbaren Gedanken! Sollte der ungebildete Liebhaber nicht eben deswegen verlangen, daß ein Kunstwerk natürlich sei, um es nur auch auf eine natürliche, oft rohe und gemeine Weise genießen können.
Anwalt.
Ich bin völlig dieser Meinung.
Zuschauer.
Und Sie behaupteten daher, daß ein Künstler sich erniedrige, der auf diese Wirkung losarbeite.
Anwalt.
Es ist meine feste Überzeugung.
Zuschauer.
Ich fühle aber hier noch immer einen Widerspruch. Sie erzeigten mir vorhin und auch sonst schon die Ehre, mich wenigstens unter die halbgebildeten Liebhaber zu zählen.
Anwalt.
Unter die Liebhaber, die auf dem Wege sind, Kenner zu werden.
Zuschauer.
Nun so sagen Sie mir: warum erscheint auch mir ein vollkommnes Kunstwerk als ein Naturwerk?
Anwalt.
Weil es mit Ihrer bessern Natur übereinstimmt, weil es übernatürlich, aber nicht außernatürlich ist. Ein vollkommenes Kunstwerk ist ein Werk des menschlichen Geistes, und in diesem Sinne auch ein Werk der Natur. Aber indem die zerstreuten Gegenstände in eins gefaßt, und selbst die gemeinsten in ihrer Bedeutung und Würde aufgenommen werden, so ist es über die Natur. Es will durch einen Geist, der harmonisch entsprungen und gebildet ist, aufgefaßt sein, und dieser findet das Fürtreffliche, das in sich Vollendete, auch seiner Natur gemäß. Davon hat der gemeine Liebhaber keinen Begriff, er behandelt ein Kunstwerk wie einen Gegenstand, den er auf dem Markte antrifft, aber der wahre Liebhaber sieht nicht nur die Wahrheit des nachgeahmten, sondern auch die Vorzüge des ausgewählten, das Geistreiche der Zusammenstellung, das Überirdische der kleinen Kunstwelt, er fühlt, daß er sich zum Künstler erheben müsse, um das Werk zu genießen, er fühlt, daß er sich aus seinem zerstreuten Leben sammeln, mit dem Kunstwerk wohnen, es wiederholt anschauen, und sich selbst dadurch eine höhere Existenz geben müsse.
Zuschauer.
Gut, mein Freund, ich habe bei Gemälden, im Theater, bei andern Dichtungsarten, wohl ähnliche Empfindungen gehabt, und das ohngefähr geahnet, was Sie fordern. Ich will künftig noch besser auf mich und auf die Kunstwerke acht geben; wenn ich mich aber recht besinne, so sind wir sehr weit von dem Anlaß unsers Gesprächs abgekommen. Sie wollten mich überzeugen, daß ich die gemalten Zuschauer in unserer Oper zulässig finden solle; und noch sehe ich nicht, wenn ich bisher auch mit Ihnen einig geworden bin, wie Sie auch diese Lizenz verteidigen, und unter welcher Rubrik Sie diese gemalten Teilnehmer bei mir einführen wollen.
Anwalt.
Glücklicherweise wird die Oper heute wiederholt, und Sie werden sie doch nicht versäumen wollen?
Zuschauer.
Keineswegs.
Anwalt.
Und die gemalten Männer?
Zuschauer.
Werden mich nicht verscheuchen, weil ich mich für etwas besser, als einen Sperling, halte.
Anwalt.
Ich wünsche, daß ein beiderseitiges Interesse uns bald wieder zusammen führen möge.
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